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Gerechtigkeit durch Ungleichbehandlung? Eine rechtshistorische Betrachtung des Privilegs

Heinz Mohnhaupt

/ 14 Minuten zu lesen

Privilegien werden heute außerrechtlich zumeist als unverdiente gleichheitswidrige Vorteile mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und Problematik verstanden. Historisch galten sie indes lange als unentbehrliches Instrument zum angemessenen Ausgleich des allgemeinen Rechts.

Das privilegium ist – die lateinische Sprachform zeigt es schon an – eine im Römischen Recht begründete Rechtsquelle, die eine nur individuell oder partikular wirkende Rechtsposition repräsentiert. Das Privileg verleiht, im Gegensatz zum allgemein geltenden Gesetz, nur dem speziell Privilegierten eine besondere Befugnissphäre, die auch einer Gruppe mit gleichen Eigenschaften zukommen kann, im Mittelalter etwa Ständen, Städten oder Gilden. Das Römische Recht verwendet im Gesetzbuch Kaiser Justinians (Corpus Iuris Civilis, um 530 n. Chr.) dafür den Begriff des ius singulare, des besonderen Rechts: „Ein besonderes Recht ist dasjenige, welches gegen den strengen Inhalt der allgemeinen Rechtsregel wegen seiner Nützlichkeit durch die Autorität des Gesetzgebers eingeführt worden ist.“ Ohne dass der Begriff privilegium hier bereits gebraucht wird, bildet diese Bestimmung die historische Grundlage für den Privilegienbegriff.

Mit der Wortschöpfung aus privus (einzeln, gesondert) und lex (Gesetz) war zunächst ein besonderer Rechtsstatus gemeint, der Militärangehörigen, Armen, Witwen, Gläubigern, Waisen und anderen zum Ausgleich ihrer Bedürftigkeit oder aus Zweckmäßigkeitsgründen zugebilligt wurde. Das römische Rechtsverständnis ging davon aus, dass ein Rechtssystem darauf angewiesen ist, für generalisierende Regelungen Ausnahmen zur Erfüllung eines individualisierenden Gerechtigkeitsgebots zu ermöglichen. Insofern galten Privilegien lange als ein unentbehrliches Instrument zum angemessenen Ausgleich des starren allgemeinen Rechts (ius strictum). Regel und Ausnahme bilden somit historisch – aber auch gegenwärtig – ein komplementäres Verhältnis.

Der Begriff privilegium wurde insbesondere durch den Erzbischof Isidor von Sevilla (um 560–636) zu einer vielzitierten Formel: „Privilegien sind Gesetze von Privatpersonen, gleichsam private Gesetze.“ Daraus folgerte die Rechtslehre, dass Privilegien den Gegensatz zum allgemeinen Recht bilden, dem ius commune oder Gesetzesrecht. Ab dem Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert dominierte jedoch in allen europäischen Ländern die Erteilung von Sonderrechten durch spezielle Urkunden des gesetzgebenden Herrschers, die als „Privilegien“ oder „Freiheiten“ bezeichnet wurden. Freiheit meinte hier die Handlungsfreiheit – nicht die politische Freiheit, die in der Aufklärung zum Gegenpart des persönlichen Privilegs werden sollte. Erst ab dem 17./18. Jahrhundert galten Privilegien als vertrackte Angelegenheit (materia intricata), mit einer bis heute bestehenden Definitionsschwäche in allen europäischen Rechtssprachen und über alle Epochengrenzen hinweg.

Kaum eine andere Rechtsfigur ist durch eine so vielfältige und verwirrende Terminologie, inhaltliche Bedeutungsvielfalt und Multifunktionalität geprägt wie das Privileg – was sich auch im modernen Sprachgebrauch widerspiegelt. Die heute weitgehend offene, unsystematische und unpräzise Begrifflichkeit bei der Bezeichnung und Bewertung sozialer Tatbestände beziehungsweise Missstände überdeckt dabei die Herkunft und historische rechtliche Bedeutungsbreite. „Privilegien“ werden heute außerrechtlich zumeist als unverdiente gleichheitswidrige Vorteile mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und Problematik verstanden. So kann das weite Feld der Privilegien von unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten analysiert werden – etwa unter soziologischen, ökonomischen, religiösen oder rechtlichen. Darin liegt die Ambivalenz der Geschichte des privilegium in seiner fließenden Bedeutung mit wechselnden Konjunkturen zwischen juristischem Fachterminus, generalisierender Gleichheitsforderung, individualisiertem Gerechtigkeitsanspruch und dem seit der Spätaufklärung ideologisch-politisch gebrauchten Kampfbegriff begründet.

Unsichere rechtliche Qualifizierung

Das dominierende rechtliche Charakteristikum des individuell wirkenden Privilegs ist durch seinen Gegensatz zum generell wirkenden Gesetz und allgemeinen Recht gekennzeichnet. Diese für das ius privatum und das ius publicum in gleicher Weise übliche pauschale Kennzeichnung bestimmt auch die ideologisierte politische Literatur im Umfeld der Französischen Revolution. Historisch gesehen stand eine jede Rechtsordnung im Sinne eines sozialen Systems mit unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Zeiten in einem solchen Spannungsverhältnis, das heute oft mit der Bezeichnung law and diversity charakterisiert wird. Individualisierung, Spezialisierung und Partikularisierung im Sinne von Sonderrechtssphären auf der einen Seite sowie Generalisierung, Unifizierung und Egalisierung einer Rechts- und Gesellschaftsordnung auf der anderen Seite bildeten und bilden diesen Gegensatz.

Es gab jedoch Phasen historischer Rechtsentwicklung und Rechtspraxis im Mittelalter, in denen besondere Rechte – seien es individuelle (also persönliche) oder partikulare (also lokale, regionale) – so beherrschend waren, dass ihr Ausnahmecharakter verblasste und diese Rechtsformen die „Regel“ oder ein „Regelrecht“ bildeten. Allgemeinheit und Gleichheit des Rechts konnten dann ihren Kontrastcharakter für die Systembildung im Recht verlieren.

„Gleichheit“ erwies sich dann in der Frühen Neuzeit als ein imaginäres Modell, das in den Verfassungsdebatten der Spätaufklärung rechtliche und politische Wirkungskraft entfaltete. Die theoretisch alternativ-rechtliche Gestaltungsmöglichkeit durch individuelle Rechtspositionen in Staat und Gesellschaft zeigt zwar ein historisch vorfindbares Grundmuster, wird heute jedoch vom verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot des Grundgesetzes beherrscht, wenn auch die Realität in Staat und Gesellschaft dem keineswegs immer entspricht und vielfach Anlass zu gesellschaftspolitischer Kritik gibt. Diese Diskrepanz prägt die heutige Verwendung des pejorativ aufgeladenen Privilegienbegriffs.

Historisch und methodisch bildeten und bilden universales und partikulares sowie generelles und privilegiales Recht systematisierende Ordnungskategorien im unendlichen Kosmos der Rechtsquellen. Erweiterungen und Verengungen des Privilegienbegriffs bestimmen juristisch und außerjuristisch die Funktion des Privilegs im Laufe der gesamten Rechtsgeschichte. Sie sind auch ein Reflex politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen.

Theorie und Praxis im Ancien Régime

Im Gegensatz zum Römischen Recht kannte das Ancien Régime, also die absolutistische Monarchie vom 16. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution, eine ausgeformte Privilegienlehre, die sich teilweise auf Römisches Recht stützte. Das Privileg „im eigentlichen Verstande“, wie es im 19. Jahrhundert genannt wurde, war die in der Regel in einer Urkunde niedergelegte besondere Verfügung des Privilegienerteilers – das heißt des weltlichen Regenten oder des Papstes –, durch die ein besonderes Recht auf eine bestimmte Person, Personengruppe, Sache oder Institution übertragen wurde. Diese Rechtsnorm in Urkundenform verbürgte Authentizität und Beweiskraft. Die einzelnen Bestandteile des Urkundentextes bestimmten dabei den Rechtscharakter des Privilegs zwischen Gnadenakt, Gesetz und Vertrag.

Kernelement war jeweils die dispositio, welche die rechtliche Verfügung des Privilegienerteilers im Sinne einer Handlungserlaubnis oder Pflichtbefreiung enthielt. Die anschließende sanctio war eine Strafformel, die alle Untertanen und Amtsträger dazu verpflichtete, den Privilegierten bei der Ausübung seines Rechts nicht zu behindern, sondern zu unterstützen. Darin lag eine Allgemeinverpflichtung, die die Privilegienlehre als „Gesetz“ gewertet hat – entsprechend der zitierten Bezeichnung als „private Gesetze“. Die Gesetzgebungsgewalt umfasste somit grundsätzlich auch die Erteilung von Privilegien im Sinne von Einzelgesetzen und deren Interpretation. Als herrschaftliches Reservatrecht lag sie im Alten Reich beim Kaiser und in den Territorien beim Landesherrn. Die Erteilung eines Privilegs geschah ex gratia („aus Gnade“), ein Anspruch auf ein Privileg bestand somit nicht. Im 18. Jahrhundert wurde die Erteilung eines Privilegs jedoch an Forderungen des „gemeinen Wohls“ gebunden, um sie der willkürlichen Entscheidungsgewalt des Erteilers zu entziehen.

Über den möglichen Inhalt des Privilegs – die materia oder das objectum privilegii – erschließt sich seine fast unbegrenzte Instrumentalität, denn Gegenstand eines Privilegs konnte alles sein, was durch Gesetz geregelt werden konnte. Es durfte nur nicht gegen das ius divinum („göttliches Recht“), das ius naturale („natürliches Recht“) oder Verfassungsgrundsätze und Völkerrecht verstoßen. Dementsprechend gab es an Zahl und Inhalt der Privilegien „unzählige, und es entstehen noch immer neue Gattungen derselbigen“, stellte der Staatsrechtler und Reichspublizist Johann Jacob Moser Anfang der 1770er Jahre fest. Gründe für die Erteilungshäufigkeit von Privilegien mit speziellem Inhalt waren oft die besondere Schutzbedürftigkeit der Privilegierten und die mit dem Privileg bezweckten allgemeinen sozialen und rechtlichen Regelungsbedürfnisse. Fehlte eine allgemeine Gesetzgebung – wie zum Beispiel für die Bereiche von Handel, Gewerbe, Gilden, Compagnien, Manufakturen und Fabriken –, konnte die Regelungslücke vom Herrscher durch Privileg vergleichsweise einfach geschlossen werden, ohne dass die Stände in den Gesetzgebungsprozess einbezogen werden mussten.

Wenn ein Rechtsgebiet durch den massiven Einsatz von gleichgerichteten Privilegien eine einheitliche Regelungsdichte erfuhr, lässt sich die Erteilungspraxis als gesetzesgleiche Normierung werten. So konnte ein Recht, das ursprünglich nur einen individuellen Privilegienschutz genoss, bei Änderung der Lebensbedingungen und der allgemeinen Anschauungen sowie unter ökonomischem Zwang ersatzweise den Schutz allgemein wirkenden Gesetzesrechts erlangen. Auf diesem Wege ist etwa ein urheberrechtlich wirkender Drucker- und Autorenschutz möglich geworden, ohne dass ein Urheberrechtsgesetz bestanden hat. Hier ist nicht nur eine „Gesetzgebung“ im Effekt gegeben, sondern die Bildung neuen Rechts durch Privilegien, die treffend auch als Funktionsersatz für fehlende Gesetzgebung bezeichnet wurde. Der gesteigerte Einsatz von privilegialen Ausnahmen in einer Rechtsordnung konnte somit zur Regel werden und das Regel-Ausnahme-Prinzip umkehren.

Delegitimation der Privilegien

Die Delegitimation des Privilegienwesens wurde entscheidend beeinflusst durch den Gleichheitssatz und die Menschenrechte als Kernforderungen des aufklärerischen Naturrechts. Der Gleichheitssatz gehört zu den zentralen Grundsätzen der umfassenden Kodifikation des Rechts in der Aufklärung. Er verbürgt im modernen Verfassungsstaat das Gerechtigkeitsprinzip schlechthin. In den Debatten zum Code civil, dem französischen Zivilrecht, hatte der General und Politiker Jean-François Jacqueminot 1799 den Umschlag politischer Radikalisierung am Beispiel der Privilegienfrage auf die Formel gebracht: „Es herrschte der Fanatismus einer irrsinnig interpretierten Gleichheit, wie zuvor der Fanatismus der Privilegien.“

Es ist jedoch heute immer zu bedenken, dass mit unterschiedlichen Gleichheitsvorstellungen auch die Gerechtigkeitsvorstellungen sehr differieren können. Der Ruf nach rechtlicher Gleichheit war durch einen extremen Rechtsquellenpluralismus herausgefordert, der einerseits Ausdruck der unübersichtlich gewordenen territorialen und lokalen Rechtsbestände und andererseits der ständischen Privilegiengesellschaft war. Die ständisch und territorial unterschiedlichen Rechtsträger wachten nicht ohne Egoismus über ihren besonderen Rechtebestand. „Recht“ wurde über die Vielzahl der „Rechte“ definiert, für die das Privileg den Prototyp bildete. Jede auf Allgemeingültigkeit bedachte Gesetzgebung musste mit dieser Dissonanz in Konflikt geraten.

Der Königsberger Rechtswissenschaftler Daniel Christoph Reidenitz stellte 1803 die Frage: „Sind Privilegien zuläßig?“ Seine Antwort lautete: „Sie sind (…) ohne Ausnahme unrecht. (…) Die Privilegien können nie vom Allgemeinen Willen der Nation ausgehen.“ Im Gegensatz zu Frankreich wurde eine radikale Beseitigung der gleichheitswidrigen Privilegien in Deutschland jedoch selten gefordert. Reform statt Revolution war das Ziel. Diese Haltung spiegelt sich auch in der Kodifikation des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 wider, in der Privilegien zwar bewahrt, aber an feste gesetzliche und somit justiziable Regeln gebunden wurden. In Frankreich dagegen nahm die Verfassung von 1791 das Privilegienverbot ausdrücklich auf, und der Code civil kannte das privilège nur noch in der unpolitischen Bedeutung einer vorrangigen Gläubigerbefriedigung.

Die süddeutschen Verfassungen des frühen 19. Jahrhunderts schrieben zwar die bürgerliche Rechtsgleichheit fest, waren aber von einer radikalen égalité weit entfernt. Ein genereller Ausschluss der Privilegien aus der Rechtsordnung wurde zunächst nicht erreicht. Einerseits war wohl die Traditionskraft der privilegierenden Sonderrechte zu groß, andererseits wirkten die Erfahrungen der revolutionären Schreckensherrschaft in Frankreich (terreur) abschreckend. Zudem gab es in Deutschland ein historisches, konservativ geprägtes kritisches Bewusstsein von der Ambivalenz radikaler Gleichheit für sozial zu gestaltende Gerechtigkeit. Erst mit dem 1900 eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuch wurde das Privileg als Rechtsgestaltungsinstrument abgestoßen.

Individualisierende Normen als Gerechtigkeitsgebot

Die Gleichheitseuphorie des 18. Jahrhunderts konnte und kann unter dem Gesichtspunkt der „Gerechtigkeit“ keinen Absolutheitsanspruch erheben. In diesem Sinne geht auch die Egalitarismuskritik im Hinblick auf Wirtschaftsprozesse bei realisierten Gleichheitsforderungen von Gerechtigkeitsverlusten aus. Gleichbehandlung und Einzelfallgerechtigkeit können einen spannungsreichen Gegensatz bedeuten, wie er in den Rechtsformen von privilegium und ius singulare zum Ausdruck kommt. Dem „Recht auf Gleichheit“ antwortet zum Beispiel im Geschlechterverhältnis das „Recht auf Differenz“. Gleichheit und Ungleichheit werden legitimierungsbedürftig. Soziale Ungleichheiten müssen heute vor dem Gebot des Sozialstaats bestehen können; im Ancien Régime standen Privilegien in der Theorie in einer offenen Zweckbindung an das Gemeinwohl.

Im 19. Jahrhundert bezog die römischrechtlich inspirierte Privatrechtswissenschaft ihr Gerechtigkeitsbild nicht primär aus dem Gleichheitspostulat des Verfassungsrechts oder aus Erwägungen praktischer Politik, wenn diese auch unausgesprochen zunehmend mitbestimmend wurden. Maßgebend war eine privatrechtliche Interpretationsarbeit bezüglich der römischrechtlichen iura singularia als privilegia und deren Gegenpart des ius generale vor dem Hintergrund des Gleichheitspostulats. Das Problem wurde darin gesehen, „das Recht so auszubilden, dass die abstracte Gleichheit nicht in eine wirkliche Ungleichheit, das formelle Recht nicht in ein materielles Unrecht umschlage“.

Der Rechtswissenschaftler und Politiker Alois Brinz sah dagegen das privilegiale Sonderrecht durch das „öffentliche Interesse“ legitimiert: „Liegt im Privilegium darin, daß es vom Recht und von der Gleichberechtigung abweicht, ein Grund gegen dasselbe, so spricht der Umstand, daß das Recht der Individualität (…) nicht durchweg gerecht zu werden vermag, für dasselbe. Eine Vermittlung (…) liegt darin, daß die Ertheilung der Privilegien mit Berücksichtigung des öffentlichen Interesses geschieht (…).“ In diesem Sinne bezeichnete es der Zivilrechtler Ferdinand Regelsberger als „die schwierige Aufgabe der Rechtsbildung“, in der „Ausgestaltung der individualistischen und der socialistischen Lebensordnung den rechten Weg zu finden“. Soweit im Verwaltungsrecht des 19. und 20. Jahrhunderts das Gesetz die Herrschaft über die Privilegien erlangte, mutierten diese zu Verwaltungsakten, deren Erteilung jedoch rechtsstaatlich durch ein allgemeines Gesetz tatbestandsmäßig festgelegt war und dadurch willkürlicher „privilegialer“ Entscheidung entzogen wurde.

Mittlerweile entscheiden Gleichheitssatz und Gewaltenteilung als Prinzipien der demokratischen Verfassung darüber, inwieweit Individualrecht als rechtliches Gestaltungsinstrument eingesetzt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1975 in diesem Sinne formuliert: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie.“

Außerjuristische Ausweitung

Dennoch scheint das Privileg fortzuleben, zumindest sprachlich. Heute zeigt der Privilegienbegriff in seinem geradezu inflationären Gebrauch eine Ausweitung und Entgrenzung jenseits seiner ursprünglichen juristischen Bedeutung, „als ob es tausend Privilegien gäbe“. So gilt es beispielsweise als Privileg, jung, wohlhabend, bildungsnah aufgewachsen oder als Weißer geboren zu sein oder im Frieden leben zu können. Eigentlich selbstverständliche gleiche Lebensqualitäten werden, wenn sie nicht allen gleichmäßig zukommen, in einem negativ konnotierten „Privilegien“-Rang gesehen.

Alternierender Rechts- und Sozialstatus sowie die Überlagerung soziologischer und juristischer Sprach- und Begriffsebenen erschweren die rechtliche Fixierung aktueller und historischer Privilegienfunktionen. Das belegen zahlreiche Beispiele heutiger Bewertungen: Die „Sonderprivilegien der Unabhängigkeit der Hochschullehrer und Richter, der Medienangehörigen und der Rechtsanwälte sind Errungenschaften der Moderne, jahrhundertlang erkämpft“. Diese Worte erinnern an Auseinandersetzungen seit der Aufklärung, die Privilegien durch Rückbindung an das Gemeinwohl zu rechtfertigen versuchten. In diesem Sinne wird wiederum auch die „regulierte Selbstregulierung“ als ein Privileg bezeichnet, das „durch Leistungen für die Allgemeinheit verdient sein muss“.

So wird die datenschutzrechtliche Sonderstellung der Presse im Sinne der dem Gemeinwohl dienenden Pressefreiheit als „Presseprivileg“ bezeichnet. Die Kritik am richterlichen „Haftungsprivileg“, an den „Abgeordnetenprivilegien“ (Immunität und Indemnität), am „Juristenprivileg“ im Sinne bevorzugter Besetzung höherer Verwaltungsstellen, an „Steuerprivilegien“, am „Geistlichenprivileg“ im deutschen Wehrrecht, an der „Privilegierung“ anerkannter nationaler Minderheiten, an Steuerverteilung und sozialer Ordnung sind bekannt. Diese bezeichnen sensible gesellschaftliche Statusfragen, die das Bundesverfassungsgericht zu Überprüfungen zwingen, inwieweit tradiertes Privilegienrecht mit den Grundrechten vereinbar ist und ob demgemäß Entschädigungen für aufgehobene Privilegien zu zahlen sind.

Spannungsfeld zwischen Gleichheit und Ungleichheit

In den meisten genannten Fällen spielt die soziale Spannung, die in einer missbilligten Ungleichheit als Gerechtigkeitsproblem zu sehen ist, eine dominierende Rolle. Zuletzt ist die Zulässigkeit von „Impfprivilegien“ während der Corona-Pandemie – das heißt die Wahrnehmung verfassungsrechtlicher Freiheitsrechte der gegen Covid-19 Geimpften im Gegensatz zu den Nichtgeimpften – als Problem zwischen Gleichheit und Differenzierungsgebot diskutiert worden. In der Bildungssoziologie wird gar von einem „Comeback“ des Privilegs gesprochen, obwohl man feststellen kann, dass es – wenn auch in unterschiedlichen Formen – nie aufhörte zu bestehen. Zwar beschloss die Französische Nationalversammlung im August 1789, jegliche Bevorrechtung aufzuheben, „Privilegien sind jedoch nicht aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden, der ihnen stets einen negativen Beigeschmack verleiht“, wie die Rechtshistorikerin Clarisse Siméant zu Recht betont.

Der heutige gesellschaftspolitische Diskurs bezieht seine Positionen häufig aus der Wahrnehmung sozialer Benachteiligungen durch Ungleichheit. So scheint die Kritik am Privileg der Privilegierten häufig mehr einer Klage über den Mangel eigener Privilegien gleichzukommen als dem Wunsch nach deren Beseitigung. Die Nichtprivilegierung wird als Diskriminierung empfunden. Ähnliches beobachtete der Schriftsteller Johann Gottfried Seume bereits 1807: „Viele eifern nur deswegen so heftig gegen die Vorrechte, um die ganze Summe derselben für sich in Beschlag zu nehmen. Das sind die gräßlichsten aller Privilegierten und immer Tyrannen, sie mögen stehen in welcher Kaste sie wollen.“

Wie anders wäre sonst die heute oft gebrauchte neue Wortschöpfung von den „Unterprivilegierten“ innerhalb moderner Gesellschaften zu verstehen? Die Soziologie bedient sich häufig dieser Formulierungen, um den sozialen Abstand zum gesellschaftlichen Gleichheitsideal kenntlich zu machen. So sprach schon Max Weber vor dem Ersten Weltkrieg von den Arbeitern als den „heute negativ privilegierten Klassen“. Auch der Politikwissenschaftler Michael Vester beschrieb geringe Bildungschancen in einzelnen Milieus als „negative Privilegierung“, und Pierre Bourdieus Forschungen betrafen unter anderem die „Sozialen Praktiken, die zur Eliminierung der unterprivilegierten Klassen (…) in den Hochschulen führen“.

Der gesellschaftlich „unterprivilegierten“ Gruppe stehen nach heutigem Sprachgebrauch die „Überprivilegierten“ gegenüber. Der Bundesfinanzhof etwa hat 2012 in einem Beschluss die „steuerliche Verschonung“ der Erben von Betriebsvermögen ausdrücklich als eine „verfassungswidrige Überprivilegierung“ bezeichnet, die als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot auch nicht aus Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt werden könne. Nach der Logik solcher Bewertungen und Wortschöpfungen wären dann die Überprivilegierten die Privilegierten der Privilegierten, woraus sich die Frage ergibt, wer die Gruppe der schlicht Privilegierten bildet, die zwischen Über- und Unterprivilegierten steht. Demnach bestünde eine Gesellschaft nur noch aus Privilegierten unterschiedlicher Graduierung. In solchen Formulierungen offenbaren sich grundsätzlichere anthropologische und gesellschaftliche Auffassungen, soziale Erwartungen und Forderungen, denen ein kollektives oder individuelles Eigeninteresse zugrunde liegt. Der Begriff der „Gleichheit“ wird dann zu einer Bezeichnung für eine Gleichheit der Ungleichen.

Rechtlich, ideengeschichtlich und politisch steht das Privileg mit all seinen Bedeutungsvarianten in einem Spannungsverhältnis zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit. Privilegiale Vorrechte und gesamtgesellschaftliche Gleichheit in ein harmonisches Gesamtsystem zu integrieren, ist daher im gesellschaftlichen und juristischen Diskurs eine schwierige verfassungsrechtliche Aufgabe.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Ius singulare est, quod contra tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate constituentium introductum est.“ Digesten, Buch 1, Titel 3, Paragraf 16.

  2. „Privilegia autem sunt leges privatorum, quasi privatae leges.“ Isidori Hispalensis Episcopi, Etymologiarum sive Originum, libri XX, hier nach Wallace Martin Lindsay (Hrsg.), Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis, Bd. I, Oxford 1962, Buch V, Nr. XVIII.

  3. Vgl. Heinz Mohnhaupt, Die Unendlichkeit des Privilegienbegriffs, in: ders./Barbara Dölemeyer (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, Frankfurt/M. 1997, S. 1–11.

  4. Vgl. etwa Emmanuel-Joseph Sieyès, L’Essai sur les privilèges (1788), Paris 1822, S. 4: „Tous les privilèges (…) ont (…) pour objet ou de dispenser de la loi, ou de donner un droit exclusif“ („Alle Privilegien haben den Zweck, entweder vom Gesetz zu befreien oder ein ausschließliches Recht zu gewähren“).

  5. Vgl. die Beiträge in Peter Collin/Agustin Casagrande (Hrsg.), Law and Diversity. European and Latin American Experiences from a Legal Historical Perspective, Bd. 1, Frankfurt/M. 2023, die jedoch die historische Entwicklung bis 1800 aussparen.

  6. Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit in Gnaden-Sachen, Franckfurt und Leipzig 1773, S. 39.

  7. Vgl. Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 4/1983, S. 385–420.

  8. Vgl. Hans Thieme, Die Funktion der Regalien im Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 1/1942, S. 57–88.

  9. Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1980, S. 100ff.

  10. „Le fanatisme d’une égalité follement interpretée régnait, comme auparavant le fanatisme des privilèges.“ Zit. nach Jean-Étienne-Marie Portalis (Hrsg.), Discours, rapports et travaux inédits sur le Code civil, Paris 1844, S. XXXIII.

  11. Daniel Christoph Reidenitz, Naturrecht, Königsberg 1803, S. 158.

  12. Vgl. Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt/M. 2000.

  13. Vgl. Carl G. Merkel, Die Politic der Rechtspflege dargestellt in ihren Verhältnissen zum allgemeinen Privatrechte, Erster Theil, Leipzig 1808. S. 44–49.

  14. Georg Friedrich Puchta, Lehrbuch der Pandekten, Leipzig 1863, S. 34f.

  15. Alois Brinz, Lehrbuch der Pandekten I, Erlangen 1873, S. 229.

  16. Ferdinand Regelsberger, Pandekten I, Leipzig 1893, S. 59.

  17. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Bd. 40, S. 296ff. (Abgeordnetendiäten), S. 317.

  18. So die treffende Beobachtung von Jörg Scheller, (Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert, Stuttgart 2022, S. 12.

  19. So Wolfgang Hoffmann-Riem, Über Privilegien und Verantwortung, in: Anwaltsblatt 49/1999, S. 2–9, hier S. 3.

  20. Ebd., S. 7.

  21. Vgl. Friederike Neunhoeffer, Das Presseprivileg im Datenschutzrecht, Tübingen 2005.

  22. Vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1958, in: BVerfGE, Bd. 7, S. 377 (Apothekenurteil).

  23. Vgl. etwa Andreas Kerkemeyer et al., Einführung: Ungleiche Gleichheit in Recht und Gesellschaft, in: Rechtsphilosophie 2/2022, S. 167ff.

  24. Markus Rieger-Ladich, Identitätsdebatte oder: Das Comeback des Privilegs, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2021, S. 105–122.

  25. Clarisse Siméant, Le privilège dans le droit canonique médiéval, in: Orazio Condorelli et al. (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur I, Köln 2009, S. 409–424, hier S. 409.

  26. Johann Gottfried Seume, Apokryphen, in: ders., Seumes Werke, Bd. 2, Berlin–Weimar 1965, S. 277.

  27. Vgl. Katharina Pistor, The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality, Princeton–Oxford 2019, S. 219: „Measures taken by states to strengthen the rights of the underprivileged were always viewed with suspicion“ („Staatliche Maßnahmen zur Stärkung der Rechte der Unterprivilegierten wurden stets mit Argwohn betrachtet“).

  28. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Bd. 1, Köln–Berlin 1964, S. 655.

  29. Michael Vester, Die geteilte Bildungsexpansion – die sozialen Milieus und das segregierende Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede, Bd. 1, Frankfurt/M. 2006, S. 73–89, hier S. 79.

  30. So Markus Rieger-Ladich, Bildungstheorien zur Einführung, Hamburg 2019, S. 116.

  31. Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 27. September 2012, Az. II R 9/11.

  32. Vgl. Mohnhaupt (Anm. 3), S. 6.

  33. Vgl. Kerkemeyer et al. (Anm. 23).

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ist promovierter Rechtswissenschaftler und Assoziierter Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt am Main.