Das privilegium ist – die lateinische Sprachform zeigt es schon an – eine im Römischen Recht begründete Rechtsquelle, die eine nur individuell oder partikular wirkende Rechtsposition repräsentiert. Das Privileg verleiht, im Gegensatz zum allgemein geltenden Gesetz, nur dem speziell Privilegierten eine besondere Befugnissphäre, die auch einer Gruppe mit gleichen Eigenschaften zukommen kann, im Mittelalter etwa Ständen, Städten oder Gilden. Das Römische Recht verwendet im Gesetzbuch Kaiser Justinians (Corpus Iuris Civilis, um 530 n. Chr.) dafür den Begriff des ius singulare, des besonderen Rechts: „Ein besonderes Recht ist dasjenige, welches gegen den strengen Inhalt der allgemeinen Rechtsregel wegen seiner Nützlichkeit durch die Autorität des Gesetzgebers eingeführt worden ist.“
Mit der Wortschöpfung aus privus (einzeln, gesondert) und lex (Gesetz) war zunächst ein besonderer Rechtsstatus gemeint, der Militärangehörigen, Armen, Witwen, Gläubigern, Waisen und anderen zum Ausgleich ihrer Bedürftigkeit oder aus Zweckmäßigkeitsgründen zugebilligt wurde. Das römische Rechtsverständnis ging davon aus, dass ein Rechtssystem darauf angewiesen ist, für generalisierende Regelungen Ausnahmen zur Erfüllung eines individualisierenden Gerechtigkeitsgebots zu ermöglichen. Insofern galten Privilegien lange als ein unentbehrliches Instrument zum angemessenen Ausgleich des starren allgemeinen Rechts (ius strictum). Regel und Ausnahme bilden somit historisch – aber auch gegenwärtig – ein komplementäres Verhältnis.
Der Begriff privilegium wurde insbesondere durch den Erzbischof Isidor von Sevilla (um 560–636) zu einer vielzitierten Formel: „Privilegien sind Gesetze von Privatpersonen, gleichsam private Gesetze.“
Kaum eine andere Rechtsfigur ist durch eine so vielfältige und verwirrende Terminologie, inhaltliche Bedeutungsvielfalt und Multifunktionalität geprägt wie das Privileg – was sich auch im modernen Sprachgebrauch widerspiegelt. Die heute weitgehend offene, unsystematische und unpräzise Begrifflichkeit bei der Bezeichnung und Bewertung sozialer Tatbestände beziehungsweise Missstände überdeckt dabei die Herkunft und historische rechtliche Bedeutungsbreite.
Unsichere rechtliche Qualifizierung
Das dominierende rechtliche Charakteristikum des individuell wirkenden Privilegs ist durch seinen Gegensatz zum generell wirkenden Gesetz und allgemeinen Recht gekennzeichnet. Diese für das ius privatum und das ius publicum in gleicher Weise übliche pauschale Kennzeichnung bestimmt auch die ideologisierte politische Literatur im Umfeld der Französischen Revolution.
Es gab jedoch Phasen historischer Rechtsentwicklung und Rechtspraxis im Mittelalter, in denen besondere Rechte – seien es individuelle (also persönliche) oder partikulare (also lokale, regionale) – so beherrschend waren, dass ihr Ausnahmecharakter verblasste und diese Rechtsformen die „Regel“ oder ein „Regelrecht“ bildeten. Allgemeinheit und Gleichheit des Rechts konnten dann ihren Kontrastcharakter für die Systembildung im Recht verlieren.
„Gleichheit“ erwies sich dann in der Frühen Neuzeit als ein imaginäres Modell, das in den Verfassungsdebatten der Spätaufklärung rechtliche und politische Wirkungskraft entfaltete. Die theoretisch alternativ-rechtliche Gestaltungsmöglichkeit durch individuelle Rechtspositionen in Staat und Gesellschaft zeigt zwar ein historisch vorfindbares Grundmuster, wird heute jedoch vom verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot des Grundgesetzes beherrscht, wenn auch die Realität in Staat und Gesellschaft dem keineswegs immer entspricht und vielfach Anlass zu gesellschaftspolitischer Kritik gibt. Diese Diskrepanz prägt die heutige Verwendung des pejorativ aufgeladenen Privilegienbegriffs.
Historisch und methodisch bildeten und bilden universales und partikulares sowie generelles und privilegiales Recht systematisierende Ordnungskategorien im unendlichen Kosmos der Rechtsquellen. Erweiterungen und Verengungen des Privilegienbegriffs bestimmen juristisch und außerjuristisch die Funktion des Privilegs im Laufe der gesamten Rechtsgeschichte. Sie sind auch ein Reflex politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen.
Theorie und Praxis im Ancien Régime
Im Gegensatz zum Römischen Recht kannte das Ancien Régime, also die absolutistische Monarchie vom 16. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution, eine ausgeformte Privilegienlehre, die sich teilweise auf Römisches Recht stützte. Das Privileg „im eigentlichen Verstande“, wie es im 19. Jahrhundert genannt wurde, war die in der Regel in einer Urkunde niedergelegte besondere Verfügung des Privilegienerteilers – das heißt des weltlichen Regenten oder des Papstes –, durch die ein besonderes Recht auf eine bestimmte Person, Personengruppe, Sache oder Institution übertragen wurde. Diese Rechtsnorm in Urkundenform verbürgte Authentizität und Beweiskraft. Die einzelnen Bestandteile des Urkundentextes bestimmten dabei den Rechtscharakter des Privilegs zwischen Gnadenakt, Gesetz und Vertrag.
Kernelement war jeweils die dispositio, welche die rechtliche Verfügung des Privilegienerteilers im Sinne einer Handlungserlaubnis oder Pflichtbefreiung enthielt. Die anschließende sanctio war eine Strafformel, die alle Untertanen und Amtsträger dazu verpflichtete, den Privilegierten bei der Ausübung seines Rechts nicht zu behindern, sondern zu unterstützen. Darin lag eine Allgemeinverpflichtung, die die Privilegienlehre als „Gesetz“ gewertet hat – entsprechend der zitierten Bezeichnung als „private Gesetze“. Die Gesetzgebungsgewalt umfasste somit grundsätzlich auch die Erteilung von Privilegien im Sinne von Einzelgesetzen und deren Interpretation. Als herrschaftliches Reservatrecht lag sie im Alten Reich beim Kaiser und in den Territorien beim Landesherrn. Die Erteilung eines Privilegs geschah ex gratia („aus Gnade“), ein Anspruch auf ein Privileg bestand somit nicht. Im 18. Jahrhundert wurde die Erteilung eines Privilegs jedoch an Forderungen des „gemeinen Wohls“ gebunden, um sie der willkürlichen Entscheidungsgewalt des Erteilers zu entziehen.
Über den möglichen Inhalt des Privilegs – die materia oder das objectum privilegii – erschließt sich seine fast unbegrenzte Instrumentalität, denn Gegenstand eines Privilegs konnte alles sein, was durch Gesetz geregelt werden konnte. Es durfte nur nicht gegen das ius divinum („göttliches Recht“), das ius naturale („natürliches Recht“) oder Verfassungsgrundsätze und Völkerrecht verstoßen. Dementsprechend gab es an Zahl und Inhalt der Privilegien „unzählige, und es entstehen noch immer neue Gattungen derselbigen“, stellte der Staatsrechtler und Reichspublizist Johann Jacob Moser Anfang der 1770er Jahre fest.
Wenn ein Rechtsgebiet durch den massiven Einsatz von gleichgerichteten Privilegien eine einheitliche Regelungsdichte erfuhr, lässt sich die Erteilungspraxis als gesetzesgleiche Normierung werten.
Delegitimation der Privilegien
Die Delegitimation des Privilegienwesens wurde entscheidend beeinflusst durch den Gleichheitssatz und die Menschenrechte als Kernforderungen des aufklärerischen Naturrechts. Der Gleichheitssatz gehört zu den zentralen Grundsätzen der umfassenden Kodifikation des Rechts in der Aufklärung. Er verbürgt im modernen Verfassungsstaat das Gerechtigkeitsprinzip schlechthin.
Es ist jedoch heute immer zu bedenken, dass mit unterschiedlichen Gleichheitsvorstellungen auch die Gerechtigkeitsvorstellungen sehr differieren können. Der Ruf nach rechtlicher Gleichheit war durch einen extremen Rechtsquellenpluralismus herausgefordert, der einerseits Ausdruck der unübersichtlich gewordenen territorialen und lokalen Rechtsbestände und andererseits der ständischen Privilegiengesellschaft war. Die ständisch und territorial unterschiedlichen Rechtsträger wachten nicht ohne Egoismus über ihren besonderen Rechtebestand. „Recht“ wurde über die Vielzahl der „Rechte“ definiert, für die das Privileg den Prototyp bildete. Jede auf Allgemeingültigkeit bedachte Gesetzgebung musste mit dieser Dissonanz in Konflikt geraten.
Der Königsberger Rechtswissenschaftler Daniel Christoph Reidenitz stellte 1803 die Frage: „Sind Privilegien zuläßig?“ Seine Antwort lautete: „Sie sind (…) ohne Ausnahme unrecht. (…) Die Privilegien können nie vom Allgemeinen Willen der Nation ausgehen.“
Die süddeutschen Verfassungen des frühen 19. Jahrhunderts schrieben zwar die bürgerliche Rechtsgleichheit fest, waren aber von einer radikalen égalité weit entfernt. Ein genereller Ausschluss der Privilegien aus der Rechtsordnung wurde zunächst nicht erreicht. Einerseits war wohl die Traditionskraft der privilegierenden Sonderrechte zu groß, andererseits wirkten die Erfahrungen der revolutionären Schreckensherrschaft in Frankreich (terreur) abschreckend. Zudem gab es in Deutschland ein historisches, konservativ geprägtes kritisches Bewusstsein von der Ambivalenz radikaler Gleichheit für sozial zu gestaltende Gerechtigkeit. Erst mit dem 1900 eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuch wurde das Privileg als Rechtsgestaltungsinstrument abgestoßen.
Individualisierende Normen als Gerechtigkeitsgebot
Die Gleichheitseuphorie des 18. Jahrhunderts konnte und kann unter dem Gesichtspunkt der „Gerechtigkeit“ keinen Absolutheitsanspruch erheben. In diesem Sinne geht auch die Egalitarismuskritik im Hinblick auf Wirtschaftsprozesse bei realisierten Gleichheitsforderungen von Gerechtigkeitsverlusten aus.
Im 19. Jahrhundert bezog die römischrechtlich inspirierte Privatrechtswissenschaft ihr Gerechtigkeitsbild nicht primär aus dem Gleichheitspostulat des Verfassungsrechts oder aus Erwägungen praktischer Politik, wenn diese auch unausgesprochen zunehmend mitbestimmend wurden.
Der Rechtswissenschaftler und Politiker Alois Brinz sah dagegen das privilegiale Sonderrecht durch das „öffentliche Interesse“ legitimiert: „Liegt im Privilegium darin, daß es vom Recht und von der Gleichberechtigung abweicht, ein Grund gegen dasselbe, so spricht der Umstand, daß das Recht der Individualität (…) nicht durchweg gerecht zu werden vermag, für dasselbe. Eine Vermittlung (…) liegt darin, daß die Ertheilung der Privilegien mit Berücksichtigung des öffentlichen Interesses geschieht (…).“
Mittlerweile entscheiden Gleichheitssatz und Gewaltenteilung als Prinzipien der demokratischen Verfassung darüber, inwieweit Individualrecht als rechtliches Gestaltungsinstrument eingesetzt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1975 in diesem Sinne formuliert: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie.“
Außerjuristische Ausweitung
Dennoch scheint das Privileg fortzuleben, zumindest sprachlich. Heute zeigt der Privilegienbegriff in seinem geradezu inflationären Gebrauch eine Ausweitung und Entgrenzung jenseits seiner ursprünglichen juristischen Bedeutung, „als ob es tausend Privilegien gäbe“.
Alternierender Rechts- und Sozialstatus sowie die Überlagerung soziologischer und juristischer Sprach- und Begriffsebenen erschweren die rechtliche Fixierung aktueller und historischer Privilegienfunktionen. Das belegen zahlreiche Beispiele heutiger Bewertungen: Die „Sonderprivilegien der Unabhängigkeit der Hochschullehrer und Richter, der Medienangehörigen und der Rechtsanwälte sind Errungenschaften der Moderne, jahrhundertlang erkämpft“.
So wird die datenschutzrechtliche Sonderstellung der Presse im Sinne der dem Gemeinwohl dienenden Pressefreiheit als „Presseprivileg“ bezeichnet.
Spannungsfeld zwischen Gleichheit und Ungleichheit
In den meisten genannten Fällen spielt die soziale Spannung, die in einer missbilligten Ungleichheit als Gerechtigkeitsproblem zu sehen ist, eine dominierende Rolle.
Der heutige gesellschaftspolitische Diskurs bezieht seine Positionen häufig aus der Wahrnehmung sozialer Benachteiligungen durch Ungleichheit. So scheint die Kritik am Privileg der Privilegierten häufig mehr einer Klage über den Mangel eigener Privilegien gleichzukommen als dem Wunsch nach deren Beseitigung. Die Nichtprivilegierung wird als Diskriminierung empfunden. Ähnliches beobachtete der Schriftsteller Johann Gottfried Seume bereits 1807: „Viele eifern nur deswegen so heftig gegen die Vorrechte, um die ganze Summe derselben für sich in Beschlag zu nehmen. Das sind die gräßlichsten aller Privilegierten und immer Tyrannen, sie mögen stehen in welcher Kaste sie wollen.“
Wie anders wäre sonst die heute oft gebrauchte neue Wortschöpfung von den „Unterprivilegierten“ innerhalb moderner Gesellschaften zu verstehen?
Der gesellschaftlich „unterprivilegierten“ Gruppe stehen nach heutigem Sprachgebrauch die „Überprivilegierten“ gegenüber. Der Bundesfinanzhof etwa hat 2012 in einem Beschluss die „steuerliche Verschonung“ der Erben von Betriebsvermögen ausdrücklich als eine „verfassungswidrige Überprivilegierung“ bezeichnet, die als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot auch nicht aus Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt werden könne.
Rechtlich, ideengeschichtlich und politisch steht das Privileg mit all seinen Bedeutungsvarianten in einem Spannungsverhältnis zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit. Privilegiale Vorrechte und gesamtgesellschaftliche Gleichheit in ein harmonisches Gesamtsystem zu integrieren, ist daher im gesellschaftlichen und juristischen Diskurs eine schwierige verfassungsrechtliche Aufgabe.