Privilegien in modernen Gesellschaften? Das kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Für das meritokratische Narrativ der Moderne ist das Versprechen konstitutiv, dass weder eine göttliche Autorität noch eine ständische Feudalordnung über die soziale Platzierung in der Gesellschaft entscheiden soll, sondern ausschließlich individuelle Leistungen. Folglich werden Privilegien heute meist als Relikte einer überwundenen Epoche angesehen, die einzelnen Individuen oder Amts- und Funktionsträger:innen zu Unrecht bestimmte „Sonderrechte“ oder „Vorrechte“ zugestehen. Umgangssprachlich manifestiert sich dies in Redewendungen wie „Beamtenprivileg“ oder „Dienstwagenprivileg“. Für die Selbstvergewisserung moderner Gesellschaften ist daher die Abgrenzung von vormodernen Privilegien von zentraler Bedeutung.
Aus Sicht der Privilege Studies mögen die religiös, ständisch, territorial, patriarchal und kolonial begründeten Privilegien der Vormoderne – zumindest rechtshistorisch gesehen – an Bedeutung verloren haben, dennoch lassen sich weiterhin systematische Bevorzugungen sozialer Gruppen ausmachen. Wie gezeigt wird, verstehen die Privilege Studies unter Privilegien dabei weniger individuelle Sonderrechte, sondern vielmehr strukturell bedingte materielle, institutionelle, soziale und symbolische Begünstigungen, die maßgeblich an soziale Zugehörigkeiten gebunden sind und aus Macht- und Dominanzverhältnissen resultieren.
Unsichtbarkeit von Privilegien in der Moderne
Ein zentraler Befund der Privilege Studies ist, dass die strukturellen Ungleichheitsverhältnisse für die Begünstigten selbst häufig unsichtbar sind. Zu diesem Ergebnis kamen bereits die Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in ihren empirischen Studien zu Bildungsprivilegien in den 1960er Jahren. Sie stellten fest, dass Studierende bürgerlicher Herkunft ihren Bildungserfolg überwiegend auf ihre eigene „Begabung“ oder „Persönlichkeit“ zurückführten. Die strukturellen Bildungsvorteile ihrer sozialen Herkunft waren für sie nicht sichtbar. Bourdieu und Passeron zufolge werden Bildungsprivilegien häufig auf subtile Weise vererbt: „Die Wirkung des Privilegs wird meist nur in ihren brutalsten Formen, Empfehlungen, Beziehungen, Hilfe bei den Schularbeiten, Nachhilfeunterricht, Information über Bildungs- und Berufsmöglichkeiten zur Kenntnis genommen. Im wesentlichen wird das kulturelle Erbe aber diskreter, indirekter und vielfach ohne methodische Bemühungen und greifbare Maßnahmen vermittelt. Gerade in den ‚kultiviertesten‘ Klassen sind Ermahnungen und eine bewußte Einführung in die Kultur fast überflüssig. Im Gegensatz zum kleinbürgerlichen Milieu, wo die Eltern meist nur den guten Willen zur Bildung weitergeben können, gehen von einem kultivierten Milieu diffuse Reize aus, durch deren geheime Überzeugungskraft das kulturelle Interesse mühelos geweckt wird.“
Unter Bildungsprivilegien versteht Bourdieu etwa eine bessere Kapitalausstattung mit hohem ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Insbesondere das kulturelle Kapital – das er nochmals in inkorporiertes, institutionalisiertes und objektiviertes Kulturkapital unterteilt – befördert die Herausbildung eines bildungsbürgerlichen Habitus, der von höheren Bildungsinstitutionen aufgrund seiner kulturellen Passung in hohem Maße honoriert wird. Der Erwerb exklusiver Bildungstitel an höheren Bildungsinstitutionen dient wiederum der sozialen Schließung gegenüber „unterprivilegierten Klassen“. Auf diese Weise tragen Bildungsprivilegien dazu bei, so Bourdieu, den familialen Status zu erhalten oder sogar zu verbessern, indem die Struktur der Abstände zwischen den jeweiligen Positionen im sozialen Raum gewahrt bleibt.
Soziale Positionen werden in der Moderne also nicht mehr direkt vererbt, sondern über das Bildungssystem vermittelt. Durch die Charakterisierung des meritokratischen Bildungssystems als „autonom“ und „neutral“ wird die Unsichtbarkeit von Bildungsprivilegien auch institutionell abgesichert.
Auf die Unsichtbarkeit von Privilegien in der Moderne verweisen auch Studien zu Heteronormativität in den Gender und Queer Studies.
Dass Heteronormativität als gesellschaftliches Ordnungsprinzip noch immer unsichtbar ist, veranschaulichen die Fragen des „Heterosexual Questionnaire“, der unter anderem in der Bildungsarbeit eingesetzt wird: Was hat Ihre Heterosexualität verursacht? Wann haben Sie entschieden, dass Sie heterosexuell sind? Ist es möglich, dass Ihre Heterosexualität nur eine Phase ist? Würden Sie wollen, dass Ihre Kinder heterosexuell sind?
Unter dem Analysebegriff Heteronormativität wird demnach mehr verstanden als sexuelle Orientierung oder Heterosexualität. Heteronormativität bezieht sich auf gesellschaftliche Institutionen, Normen und hierarchische Denkmuster, durch die heterosexuelle Lebens-, Arbeits- und Familienformen privilegiert werden.
Perspektivwechsel der Privilege Studies
Hier setzen die Privilege Studies ein. Moderne Privilegien sichtbar, analysierbar, reflektierbar, kritisierbar zu machen, das ist das besondere Anliegen der Privilege Studies. Unter Privilege Studies verstehe ich beispielsweise Forschungstraditionen wie die Critical Whiteness Studies, Occidental Studies, Ableism Studies sowie Studien zu Heteronormativität, hegemonialer Männlichkeit oder Bildungsprivilegien.
Für einen solchen Perspektivwechsel sorgte etwa Toni Morrison mit ihrer Essaysammlung „Im Dunkeln spielen“ von 1995. In ihrer Analyse des „Afrikanismus“ in der US-amerikanischen Literatur kam die Nobelpreisträgerin zu der Erkenntnis, dass die Präsenz afrikanistischer Figuren für Weiße Autor:innen häufig als Allegorie oder Metapher genutzt wird, um über sich selbst zu sprechen: „Als lesende Schriftstellerin erkannte ich schließlich das Offenkundige: Das Subjekt des Traums ist der Träumer. Die Verfertigung einer afrikanistischen Persona ist reflexiv, eine außergewöhnliche Betrachtung über das Ich, eine kraftvolle Erforschung der Ängste und Wünsche, die im Bewußtsein des Schreibenden wohnen.“
Die „Norm“ braucht demnach das „Andere“, um sich selbst zu definieren.
In den Critical Whiteness Studies sind Weiße Privilegien, „Weißsein“ oder Weiße Identitäten keine Frage der Pigmentierung („Hautfarbe“), sondern Resultate einer kolonialen und rassistischen Gewaltgeschichte.
Historische Befunde für die soziale Konstruktion von „Weißsein“, die sich auch in entsprechenden kulturellen, politischen und rechtlichen Statuszuweisungen ausdrückt, lassen sich ebenfalls im deutschen Kolonialismus finden. So verfügte 1912 der Staatssekretär im Reichskolonialamt, Wilhelm Solf, in einer allgemeinen Richtlinie für die deutsche Kolonie Samoa, dass Ehen zwischen deutschen Kolonisten und samoanischen Kolonisierten nicht mehr geschlossen werden sollten, um gegen die „Verbreitung der Mischlinge“ vorzugehen. Zur Vorbeugung möglicher Interessenkonflikte verfügte er darüber hinaus: „Die Nachkommen aus den bisher als legitim angesehenen Mischehen sind Weiße. (…) Mischlinge, die nach Bekanntgabe dieser Grundsätze geboren werden, sind Eingeborene.“
Über die Zugehörigkeit zum Weißen Kollektiv wurde hier also per Dekret entschieden, wodurch „Weißsein“ zum Produkt einer willkürlich gesetzten zeitlichen Zäsur avancierte. In der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ waren „Mischehen“ hingegen bereits seit 1905 verboten. Mit dem Verbot wurden auch Privilegien verhandelt, die unter anderem an staatsbürgerschaftliche Zugehörigkeiten gebunden waren, wie zum Beispiel das uneingeschränkte Recht, Land und Vieh zu erwerben, sich frei im Land zu bewegen oder die Anerkennung der Mündigkeit zum Führen von Rechtsgeschäften.
Pionierarbeiten der Critical Whiteness Studies legten bereits der Historiker und Soziologe W.E.B. Du Bois (1868–1963), der Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) und der Psychiater Frantz Fanon (1925–1961) vor. Ende der 1980er Jahre erstellte die Sozialwissenschaftlerin Peggy McIntosh in einem selbstreflexiven Artikel eine Liste von 46 Weißen Privilegien, die breit rezipiert wurde.
Auch in den Critical Ableism Studies lässt sich der angeführte Perspektivwechsel ausmachen, da der Begriff des Ableismus die relationale Wechselwirkung von disability und ability ins Zentrum rückt.
In den Critical Ableism Studies geht es also um die Hierarchisierung von Fähigkeiten – oder, anders ausgedrückt, um hierarchische Fähigkeitsordnungen, die auf historisch, kulturell und sozial spezifischen Fähigkeitspräferenzen, Fähigkeitsnormen und Fähigkeitsprivilegien beruhen. Nach Gregor Wolbring geht es den Ability Studies keineswegs um eine grundsätzliche Ablehnung von „Fähigkeiten“ oder „Fähigsein“, sondern um ableistische Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen, die bestimmte Fähigkeiten als absolut „essenziell“ oder „normal“ ansehen. In diesem Zusammenhang spricht Wolbring auch von „ability preferences“ und „ability privileges“.
Strukturelle Privilegien
In den Privilege Studies besteht ein weitgehender Konsens, dass Privilegien als „strukturell“ begriffen werden müssen. Was unter „strukturellen Privilegien“ zu verstehen ist, wird allerdings selten näher definiert. Wie der Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich feststellt, krankt die Privilegienkritik ohnehin an einem eklatanten Theoriedefizit.
soziale Strukturen (zum Beispiel Arbeitsteilung, Ressourcendistribution),
Institutionen (zum Beispiel Schule, Familie, Kirche),
symbolische Ordnungen (zum Beispiel hegemoniale Repräsentationen, Normen),
soziale Praktiken (zum Beispiel Distinktionspraktiken) sowie
Subjektformationen („überlegenes“ Selbst durch Abwertung des Anderen).
Diese Ebenen stehen in einem relationalen Verhältnis zueinander, sind zeitlich eher auf Dauer gestellt und Bestandteile ungleicher gesellschaftlicher Verhältnisse (Geschlechterverhältnisse, Rassismus, Ableismus etc.), da sie in elementarer Weise mit den zentralen Organisationsprinzipien gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion verbunden sind. Ein solches Verständnis verhindert eine pauschalisierende Gebrauchsweise des Privilegienbegriffs, da von strukturellen Privilegien nur dann gesprochen werden kann, wenn sie weitgehend auf allen Ebenen wiederzufinden sind.
Unter strukturellen Privilegien lässt sich folglich verstehen, dass soziale Zugehörigkeiten, die aus ungleichen, intersektionalen gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren, mit einem privilegierten Zugang zu ökonomischen, politischen und sozialen Ressourcen wie Vermögen, Besitz, Erwerbsarbeit oder Bildung einhergehen. Dominante Kollektive profitieren von einem Repräsentationsregime, das ihre Identitäten beziehungsweise Körper als „natürlich“ oder „normal“ markiert. In der Folge können sie ihre eigenen Interessen und Perspektiven als „universal“ setzen. Hinzu kommt die Wahrscheinlichkeit, dass Institutionen wie Behörden, Sicherheitsapparate oder Bildungsinstitutionen zu ihren eigenen Gunsten operieren. All dies gilt unabhängig von ihren Leistungen, politisch-progressiven Einstellungen oder persönlichen Intentionen. Schließlich sind strukturelle Privilegien relational beziehungsweise intersektional verfasst. Das heißt, privilegierte Kollektive sind nicht homogen, und privilegierte Subjekte sind zugleich in unterschiedlichen Dominanz- und Diskriminierungsverhältnissen positioniert.
Ausblick: Privilegien in der Spätmoderne
Nach Rieger-Ladich geraten die Dinge aktuell jedoch in Bewegung. Durch Praktiken der Fremdbeobachtung, aber auch der unbequemen Selbstbeobachtung wird die Unsichtbarkeit moderner Privilegien zunehmend infrage gestellt.
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sieht diese Krisenhaftigkeit bereits gegeben und verweist auf ein aktuell wirksames „Integrationsparadox“. Für ihn sind die Konflikte um Privilegien und kulturelle Deutungshoheiten auch Ausdruck einer gelungenen Integration. Diese These bringt El-Mafaalani mit einer Metapher anschaulich zum Ausdruck: Je mehr Mitglieder einer Gesellschaft am gemeinsamen Tisch einen Platz einnehmen, desto mehr Konflikte, Diskussionen und Aushandlungsprozesse gibt es.
Eine andere Interpretation wäre, die Infragestellung von Privilegien eher als Hinweis auf neue Formen der Spaltung beziehungsweise „partiellen Integration“ in der Spätmoderne zu lesen.
Kommt es also in der Spätmoderne zu einem Abbau von Diskriminierungen, wofür auch die aktuelle Privilegiendebatte ein Indikator sein könnte, bei gleichzeitiger Verschärfung sozialer Ungleichheiten? Es ist in jedem Fall erklärungsbedürftig, warum Privilegien gerade jetzt so intensiv diskutiert werden. Dies zu beantworten, bleibt weiteren Analysen überlassen.