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Privilege Studies | Privilegien | bpb.de

Privilegien Editorial Neustart der Privilegienkritik. Ein Plädoyer Privilege Studies. Einführung und Überblick Gerechtigkeit durch Ungleichbehandlung? Eine rechtshistorische Betrachtung des Privilegs White Privilege. Das gute Leben auf den Schultern der Anderen Privateigentum als Privileg Erscheinung und Gegenstand: Privilegien im Bildungsbereich Vom Nutzen und Schaden eines Begriffs. Kleine Diskursgeschichte des „Privilegs“

Privilege Studies Einführung und Überblick

Katharina Walgenbach

/ 14 Minuten zu lesen

Zu den Privilege Studies gehören etwa die Critical Whiteness Studies, Ableism Studies sowie Studien zu Heteronormativität oder Bildungsprivilegien. Es geht dabei nicht um die Erforschung individueller Sonderrechte, sondern um die Aufdeckung struktureller Begünstigungen.

Privilegien in modernen Gesellschaften? Das kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Für das meritokratische Narrativ der Moderne ist das Versprechen konstitutiv, dass weder eine göttliche Autorität noch eine ständische Feudalordnung über die soziale Platzierung in der Gesellschaft entscheiden soll, sondern ausschließlich individuelle Leistungen. Folglich werden Privilegien heute meist als Relikte einer überwundenen Epoche angesehen, die einzelnen Individuen oder Amts- und Funktionsträger:innen zu Unrecht bestimmte „Sonderrechte“ oder „Vorrechte“ zugestehen. Umgangssprachlich manifestiert sich dies in Redewendungen wie „Beamtenprivileg“ oder „Dienstwagenprivileg“. Für die Selbstvergewisserung moderner Gesellschaften ist daher die Abgrenzung von vormodernen Privilegien von zentraler Bedeutung. Auf diese Weise wird aber auch der Blick auf historische Kontinuitäten und Transformationen sozialer Ordnungen verstellt. Die Thematisierung von Privilegien wird verdrängt. In der Folge sind Privilegien in der Moderne unsichtbar geworden.

Aus Sicht der Privilege Studies mögen die religiös, ständisch, territorial, patriarchal und kolonial begründeten Privilegien der Vormoderne – zumindest rechtshistorisch gesehen – an Bedeutung verloren haben, dennoch lassen sich weiterhin systematische Bevorzugungen sozialer Gruppen ausmachen. Wie gezeigt wird, verstehen die Privilege Studies unter Privilegien dabei weniger individuelle Sonderrechte, sondern vielmehr strukturell bedingte materielle, institutionelle, soziale und symbolische Begünstigungen, die maßgeblich an soziale Zugehörigkeiten gebunden sind und aus Macht- und Dominanzverhältnissen resultieren.

Unsichtbarkeit von Privilegien in der Moderne

Ein zentraler Befund der Privilege Studies ist, dass die strukturellen Ungleichheitsverhältnisse für die Begünstigten selbst häufig unsichtbar sind. Zu diesem Ergebnis kamen bereits die Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in ihren empirischen Studien zu Bildungsprivilegien in den 1960er Jahren. Sie stellten fest, dass Studierende bürgerlicher Herkunft ihren Bildungserfolg überwiegend auf ihre eigene „Begabung“ oder „Persönlichkeit“ zurückführten. Die strukturellen Bildungsvorteile ihrer sozialen Herkunft waren für sie nicht sichtbar. Bourdieu und Passeron zufolge werden Bildungsprivilegien häufig auf subtile Weise vererbt: „Die Wirkung des Privilegs wird meist nur in ihren brutalsten Formen, Empfehlungen, Beziehungen, Hilfe bei den Schularbeiten, Nachhilfeunterricht, Information über Bildungs- und Berufsmöglichkeiten zur Kenntnis genommen. Im wesentlichen wird das kulturelle Erbe aber diskreter, indirekter und vielfach ohne methodische Bemühungen und greifbare Maßnahmen vermittelt. Gerade in den ‚kultiviertesten‘ Klassen sind Ermahnungen und eine bewußte Einführung in die Kultur fast überflüssig. Im Gegensatz zum kleinbürgerlichen Milieu, wo die Eltern meist nur den guten Willen zur Bildung weitergeben können, gehen von einem kultivierten Milieu diffuse Reize aus, durch deren geheime Überzeugungskraft das kulturelle Interesse mühelos geweckt wird.“

Unter Bildungsprivilegien versteht Bourdieu etwa eine bessere Kapitalausstattung mit hohem ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Insbesondere das kulturelle Kapital – das er nochmals in inkorporiertes, institutionalisiertes und objektiviertes Kulturkapital unterteilt – befördert die Herausbildung eines bildungsbürgerlichen Habitus, der von höheren Bildungsinstitutionen aufgrund seiner kulturellen Passung in hohem Maße honoriert wird. Der Erwerb exklusiver Bildungstitel an höheren Bildungsinstitutionen dient wiederum der sozialen Schließung gegenüber „unterprivilegierten Klassen“. Auf diese Weise tragen Bildungsprivilegien dazu bei, so Bourdieu, den familialen Status zu erhalten oder sogar zu verbessern, indem die Struktur der Abstände zwischen den jeweiligen Positionen im sozialen Raum gewahrt bleibt.

Soziale Positionen werden in der Moderne also nicht mehr direkt vererbt, sondern über das Bildungssystem vermittelt. Durch die Charakterisierung des meritokratischen Bildungssystems als „autonom“ und „neutral“ wird die Unsichtbarkeit von Bildungsprivilegien auch institutionell abgesichert. Insbesondere die „Begabungsideologie“ trägt nach Bourdieu zur Naturalisierung und Verschleierung der faktischen Weitergabe gehobener Positionen bei. Demzufolge wird die Transmission von Privilegien in der Moderne also nicht aufgehoben, sondern lediglich durch einen „Mantel der Neutralität“ verdeckt. Im 21. Jahrhundert stellen sich Bildungsprivilegien heute durchaus anders dar, sie sind aber nach wie vor virulent.

Auf die Unsichtbarkeit von Privilegien in der Moderne verweisen auch Studien zu Heteronormativität in den Gender und Queer Studies. Mit dem Begriff der Heteronormativität wird sowohl das Primat der Heterosexualität als „natürliche“ Form der Sexualität kritisiert als auch die Normalisierung der Zweigeschlechtlichkeit infrage gestellt. In diesem Sinne spricht etwa die Philosophin Judith Butler von einer „heterosexuellen Matrix“, durch die Körper, Geschlecht und Begehren aneinander gebunden und damit ebenfalls naturalisiert werden.

Dass Heteronormativität als gesellschaftliches Ordnungsprinzip noch immer unsichtbar ist, veranschaulichen die Fragen des „Heterosexual Questionnaire“, der unter anderem in der Bildungsarbeit eingesetzt wird: Was hat Ihre Heterosexualität verursacht? Wann haben Sie entschieden, dass Sie heterosexuell sind? Ist es möglich, dass Ihre Heterosexualität nur eine Phase ist? Würden Sie wollen, dass Ihre Kinder heterosexuell sind? Für queere Personen sind dies Fragen, mit denen sie alltäglich konfrontiert werden. Heterosexuelle hingegen müssen sich in der Regel nicht rechtfertigen, ihre Sexualität nicht verstecken beziehungsweise diskret zurückhalten oder sich ständig selbst positionieren.

Unter dem Analysebegriff Heteronormativität wird demnach mehr verstanden als sexuelle Orientierung oder Heterosexualität. Heteronormativität bezieht sich auf gesellschaftliche Institutionen, Normen und hierarchische Denkmuster, durch die heterosexuelle Lebens-, Arbeits- und Familienformen privilegiert werden. Die angenommene „Natürlichkeit“ sowie „Normalität“ von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit machen Heteronormativität in der Moderne zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit.

Perspektivwechsel der Privilege Studies

Hier setzen die Privilege Studies ein. Moderne Privilegien sichtbar, analysierbar, reflektierbar, kritisierbar zu machen, das ist das besondere Anliegen der Privilege Studies. Unter Privilege Studies verstehe ich beispielsweise Forschungstraditionen wie die Critical Whiteness Studies, Occidental Studies, Ableism Studies sowie Studien zu Heteronormativität, hegemonialer Männlichkeit oder Bildungsprivilegien. Bei aller Unterschiedlichkeit verbindet sie alle das Plädoyer für einen Perspektivwechsel in der Analyse von sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und Marginalisierung.

Für einen solchen Perspektivwechsel sorgte etwa Toni Morrison mit ihrer Essaysammlung „Im Dunkeln spielen“ von 1995. In ihrer Analyse des „Afrikanismus“ in der US-amerikanischen Literatur kam die Nobelpreisträgerin zu der Erkenntnis, dass die Präsenz afrikanistischer Figuren für Weiße Autor:innen häufig als Allegorie oder Metapher genutzt wird, um über sich selbst zu sprechen: „Als lesende Schriftstellerin erkannte ich schließlich das Offenkundige: Das Subjekt des Traums ist der Träumer. Die Verfertigung einer afrikanistischen Persona ist reflexiv, eine außergewöhnliche Betrachtung über das Ich, eine kraftvolle Erforschung der Ängste und Wünsche, die im Bewußtsein des Schreibenden wohnen.“

Die „Norm“ braucht demnach das „Andere“, um sich selbst zu definieren. In der Epoche der Aufklärung diente die Dichotomie von „barbarischen“ oder „edlen Wilden“ versus „zivilisierten Europäern“ dazu, die angebliche Überlegenheit der europäischen Kultur zu legitimieren und Weiße (männliche) Europäer zum Maßstab menschlicher Entwicklung zu stilisieren. Eurozentrische Überlegenheitsannahmen wurden also als heuristisches Mittel eingesetzt, um die eigenen philosophischen, kulturwissenschaftlichen oder pädagogischen Theorien zu Vernunft, Moral, Natur, Entwicklung, Kultur und Identität zu fundieren. Dies lässt erahnen, wie tiefgreifend die Unterwerfung des „Anderen“ im europäischen Denken eingeschrieben ist.

In den Critical Whiteness Studies sind Weiße Privilegien, „Weißsein“ oder Weiße Identitäten keine Frage der Pigmentierung („Hautfarbe“), sondern Resultate einer kolonialen und rassistischen Gewaltgeschichte. Weiße Privilegien, so die Bildungsforscherin Kalwant Bhopal, müssen demnach im Kontext der Critical Race Theory verstanden werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass „Weißsein“ ein Status ist, der einem gesellschaftlich zuerkannt wird. Ein prägnantes Beispiel dafür liefert der Historiker Noel Ignatiev mit seiner Studie „How the Irish Became White“ von 1995, in der er rekonstruiert, wie irische Immigrant:innen im 18. und 19. Jahrhundert in Amerika als „Weiße“ assimiliert wurden.

Historische Befunde für die soziale Konstruktion von „Weißsein“, die sich auch in entsprechenden kulturellen, politischen und rechtlichen Statuszuweisungen ausdrückt, lassen sich ebenfalls im deutschen Kolonialismus finden. So verfügte 1912 der Staatssekretär im Reichskolonialamt, Wilhelm Solf, in einer allgemeinen Richtlinie für die deutsche Kolonie Samoa, dass Ehen zwischen deutschen Kolonisten und samoanischen Kolonisierten nicht mehr geschlossen werden sollten, um gegen die „Verbreitung der Mischlinge“ vorzugehen. Zur Vorbeugung möglicher Interessenkonflikte verfügte er darüber hinaus: „Die Nachkommen aus den bisher als legitim angesehenen Mischehen sind Weiße. (…) Mischlinge, die nach Bekanntgabe dieser Grundsätze geboren werden, sind Eingeborene.“

Über die Zugehörigkeit zum Weißen Kollektiv wurde hier also per Dekret entschieden, wodurch „Weißsein“ zum Produkt einer willkürlich gesetzten zeitlichen Zäsur avancierte. In der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ waren „Mischehen“ hingegen bereits seit 1905 verboten. Mit dem Verbot wurden auch Privilegien verhandelt, die unter anderem an staatsbürgerschaftliche Zugehörigkeiten gebunden waren, wie zum Beispiel das uneingeschränkte Recht, Land und Vieh zu erwerben, sich frei im Land zu bewegen oder die Anerkennung der Mündigkeit zum Führen von Rechtsgeschäften. Die kolonialrassistischen Debatten über „Mischehen“, über die Möglichkeit der „Naturalisation“ oder die angebliche Gefahr der „Verkafferung“ deutscher Kolonisten dienten dabei auch der Selbstaffirmation eines Weißen Kollektivs.

Pionierarbeiten der Critical Whiteness Studies legten bereits der Historiker und Soziologe W.E.B. Du Bois (1868–1963), der Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) und der Psychiater Frantz Fanon (1925–1961) vor. Ende der 1980er Jahre erstellte die Sozialwissenschaftlerin Peggy McIntosh in einem selbstreflexiven Artikel eine Liste von 46 Weißen Privilegien, die breit rezipiert wurde. Im Anschluss daran entwickelte Barbara Lesch McCaffry für die Hochschuldidaktik eine „Privilege-Excercise“, in der weitere Ungleichheitsdimensionen berücksichtigt werden. Im wissenschaftlichen Feld entstanden Anfang der 1990er Jahre in den USA und Großbritannien zahlreiche Studien, die Weiße Privilegien in ihren Relationen zu Geschlecht, Klasse, Nation, Staatsbürgerschaft oder Heteronormativität herausarbeiteten. Diese intersektional angelegten Studien verdeutlichen, dass die Critical Whiteness Studies in der Regel nicht davon ausgehen, dass alle Weißen in gleicher Weise privilegiert sind, wie mitunter unterstellt wird.

Auch in den Critical Ableism Studies lässt sich der angeführte Perspektivwechsel ausmachen, da der Begriff des Ableismus die relationale Wechselwirkung von disability und ability ins Zentrum rückt. Die analytische Perspektiverweiterung besteht hier darin, dass auch dasjenige, was als able im Sinne von fähig, kompetent, tüchtig, begabt gilt, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird. Ein Beispiel hierfür ist Dan Goodleys Analyse des „Dis/ability Complex“, in dem erneut ein binäres Schema zum Ausdruck kommt: „behindert“ versus „nicht-behindert“, „verrückt“ versus „vernünftig“, „abhängig“ versus „autonom“, „sitzend“ versus „stehend“ und so weiter. Der Dis/ability Complex wird jedoch nicht durch eine simple Gegenüberstellung gesellschaftlicher Zuschreibungen erzeugt, so Goodley, vielmehr liegt ihm eine zweigeteilte (bifurkale) Realität zugrunde, denn die Norm fungiert hier immer als „versteckte Referenz“ (hidden referent). Entsprechend definiert Rebecca Maskos Ableismus wie folgt: „die Beurteilung von Körper und Geist danach, was jemand ‚kann‘ oder ‚nicht kann‘ – ein biologistischer, essentialisierender Bewertungsmaßstab, der anhand einer erwünschten körperlichen oder geistigen Norm Menschen be-, auf- und abwertet“.

In den Critical Ableism Studies geht es also um die Hierarchisierung von Fähigkeiten – oder, anders ausgedrückt, um hierarchische Fähigkeitsordnungen, die auf historisch, kulturell und sozial spezifischen Fähigkeitspräferenzen, Fähigkeitsnormen und Fähigkeitsprivilegien beruhen. Nach Gregor Wolbring geht es den Ability Studies keineswegs um eine grundsätzliche Ablehnung von „Fähigkeiten“ oder „Fähigsein“, sondern um ableistische Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen, die bestimmte Fähigkeiten als absolut „essenziell“ oder „normal“ ansehen. In diesem Zusammenhang spricht Wolbring auch von „ability preferences“ und „ability privileges“. Dabei rekurriert er in seinem Verständnis von Privilegien nicht auf soziale Kategorisierungen wie „behindert“ oder „nicht-behindert“, sondern gemäß seinem transhumanistischen Theorieansatz auf „ability-have“- und „ability-non-have“-Gruppen.

Strukturelle Privilegien

In den Privilege Studies besteht ein weitgehender Konsens, dass Privilegien als „strukturell“ begriffen werden müssen. Was unter „strukturellen Privilegien“ zu verstehen ist, wird allerdings selten näher definiert. Wie der Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich feststellt, krankt die Privilegienkritik ohnehin an einem eklatanten Theoriedefizit. Aus diesem Grund soll abschließend der Versuch einer Definition von strukturellen Privilegien unternommen werden, der sich als work in progress versteht. In einer ersten Annäherung wird unter „strukturell“ verstanden, dass Privilegien sich zugleich auf unterschiedlichen Ebenen reproduzieren. Dazu gehören:

  • soziale Strukturen (zum Beispiel Arbeitsteilung, Ressourcendistribution),

  • Institutionen (zum Beispiel Schule, Familie, Kirche),

  • symbolische Ordnungen (zum Beispiel hegemoniale Repräsentationen, Normen),

  • soziale Praktiken (zum Beispiel Distinktionspraktiken) sowie

  • Subjektformationen („überlegenes“ Selbst durch Abwertung des Anderen).

Diese Ebenen stehen in einem relationalen Verhältnis zueinander, sind zeitlich eher auf Dauer gestellt und Bestandteile ungleicher gesellschaftlicher Verhältnisse (Geschlechterverhältnisse, Rassismus, Ableismus etc.), da sie in elementarer Weise mit den zentralen Organisationsprinzipien gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion verbunden sind. Ein solches Verständnis verhindert eine pauschalisierende Gebrauchsweise des Privilegienbegriffs, da von strukturellen Privilegien nur dann gesprochen werden kann, wenn sie weitgehend auf allen Ebenen wiederzufinden sind.

Unter strukturellen Privilegien lässt sich folglich verstehen, dass soziale Zugehörigkeiten, die aus ungleichen, intersektionalen gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren, mit einem privilegierten Zugang zu ökonomischen, politischen und sozialen Ressourcen wie Vermögen, Besitz, Erwerbsarbeit oder Bildung einhergehen. Dominante Kollektive profitieren von einem Repräsentationsregime, das ihre Identitäten beziehungsweise Körper als „natürlich“ oder „normal“ markiert. In der Folge können sie ihre eigenen Interessen und Perspektiven als „universal“ setzen. Hinzu kommt die Wahrscheinlichkeit, dass Institutionen wie Behörden, Sicherheitsapparate oder Bildungsinstitutionen zu ihren eigenen Gunsten operieren. All dies gilt unabhängig von ihren Leistungen, politisch-progressiven Einstellungen oder persönlichen Intentionen. Schließlich sind strukturelle Privilegien relational beziehungsweise intersektional verfasst. Das heißt, privilegierte Kollektive sind nicht homogen, und privilegierte Subjekte sind zugleich in unterschiedlichen Dominanz- und Diskriminierungsverhältnissen positioniert.

Ausblick: Privilegien in der Spätmoderne

Nach Rieger-Ladich geraten die Dinge aktuell jedoch in Bewegung. Durch Praktiken der Fremdbeobachtung, aber auch der unbequemen Selbstbeobachtung wird die Unsichtbarkeit moderner Privilegien zunehmend infrage gestellt. Für Bourdieu müssten dafür allerdings „die Strukturen, gegen die solchermaßen protestiert wird, selbst schon in einen Zustand der Fragwürdigkeit und Krisenhaftigkeit übergegangen sein, der ihre Infragestellung und die kritische Bewußtwerdung ihres willkürlichen Charakters und ihrer Zerbrechbarkeit begünstigt“.

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sieht diese Krisenhaftigkeit bereits gegeben und verweist auf ein aktuell wirksames „Integrationsparadox“. Für ihn sind die Konflikte um Privilegien und kulturelle Deutungshoheiten auch Ausdruck einer gelungenen Integration. Diese These bringt El-Mafaalani mit einer Metapher anschaulich zum Ausdruck: Je mehr Mitglieder einer Gesellschaft am gemeinsamen Tisch einen Platz einnehmen, desto mehr Konflikte, Diskussionen und Aushandlungsprozesse gibt es. Auf diese Weise werden soziale Konflikte als Ausdruck sozialen Wandels verstanden, ganz im Sinne der soziologischen Tradition.

Eine andere Interpretation wäre, die Infragestellung von Privilegien eher als Hinweis auf neue Formen der Spaltung beziehungsweise „partiellen Integration“ in der Spätmoderne zu lesen. An die Stelle des oben kritisierten binären Schemas (etwa „Heterosexuelle versus Homosexuelle“) scheinen aktuell neue Spaltungen entlang ökonomischer Verwertbarkeitslogiken zu treten: Wer sich in die Sphäre der Produktion beziehungsweise Verwertbarkeit eingliedern lässt, erfährt eine partielle Integration in ein Privilegiensystem, das zuvor konsequent nach Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, sozialem Milieu, Dis/ability unterschieden hat. Beispiele dafür sind das normative Leitbild des adult worker, das auf eine Transformation der Geschlechterverhältnisse in westlichen Gesellschaften verweist, die Diskussion über „Begabungsreserven“ im Kontext von Migration oder die Einführung der „Ehe für alle“. Zugleich verschärfen sich die Prozesse sozialer Spaltung für diejenigen, die jenseits des Leistungskollektivs platziert werden.

Kommt es also in der Spätmoderne zu einem Abbau von Diskriminierungen, wofür auch die aktuelle Privilegiendebatte ein Indikator sein könnte, bei gleichzeitiger Verschärfung sozialer Ungleichheiten? Es ist in jedem Fall erklärungsbedürftig, warum Privilegien gerade jetzt so intensiv diskutiert werden. Dies zu beantworten, bleibt weiteren Analysen überlassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. ausführlich Katharina Walgenbach, Privilegien in der Moderne, in: Diskurs 7/2022, S. 68–94.

  2. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971, S. 38.

  3. Vgl. ebd., insb. das Kapitel „Bildungsprivileg und Bildungschancen“, S. 19–91; zur Relevanz von Bildungstiteln vgl. Pierre Bourdieu et al., Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht, Frankfurt/M. 1981; zur Sicherung der Abstände zwischen sozialen Positionen vgl. ders., Die feinen Unterschiede, Frankfurt/M. 1987, S. 266.

  4. Vgl. Bourdieu/Passeron (Anm. 2), S. 209.

  5. Vgl. Pierre Bourdieu, Wie die Kultur zum Bauern kommt, Hamburg 2001, S. 46.

  6. Vgl. ders., Kulturelle Reproduktion und soziale Reproduktion, in: ders./Jean-Claude Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt/M. 1973, S. 93.

  7. Vgl. Katharina Walgenbach, Bildungsprivilegien im 21. Jahrhundert, in: Meike S. Baader/Tatjana Freytag (Hrsg.), Bildung und Ungleichheit in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 513–536.

  8. Für Pionierarbeiten vgl. Adrienne Rich, Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence, in: Signs 4/1980, S. 631–660; Michael Warner, Introduction. Fear of a Queer Planet, in: Social Text 29/1991, S. 3–17.

  9. Für eine Einführung in den Begriff Heteronormativität vgl. Peter Wagenknecht, Was ist Heteronormativität? Zu Geschichte und Gehalt des Begriffs, in: Jutta Hartmann et al. (Hrsg.), Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, Wiesbaden 2007, S. 17–34; Christine M. Klapeer, Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten, in: Friederike Schmidt/Anne-Christin Schondelmayer/Ute B. Schröder (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Wiesbaden 2015, S. 25–45.

  10. Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991.

  11. Die Fragen wurden durch die Autorin übersetzt und leicht gekürzt. Der Heterosexual Questionnaire, dessen Entwicklung Martin Rochlin zugeschrieben wird, wurde bereits Ende der 1970er Jahre entworfen. Vgl. Martin Rochlin, Heterosexual Questionnaire, in: Michael Kimmel/Abby Ferber (Hrsg.), Privilege. A Reader, Westview 2003, S. 75f.

  12. Vgl. Maximilian Waldmann, Queer/Feminismus und kritische Männlichkeit, Opladen 2019, S. 18.

  13. Vgl. Nina Degele, Gender/Queer Studies. Eine Einführung, München 2008, S. 88f.

  14. Vgl. Walgenbach (Anm. 1), S. 80–84.

  15. Toni Morrison, Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination, Reinbek 1995, S. 39. Der Begriff „Afrikanismus“ bezeichnet nach Morrison die eurozentrischen Konnotationen, mit denen „Schwarzsein“ belegt wird und für die „afrikanische Menschen“ repräsentativ stehen sollen. Vgl. ebd., S. 27. „Weiß“ und „Schwarz“ sind hier groß geschrieben, um deren sozialen Konstruktionscharakter hervorzuheben und sich von biologistischen Kategorien abzugrenzen.

  16. Vgl. auch Edward Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978.

  17. Vgl. etwa Stuart Hall, The West and the Rest: Discourse and Power, in: ders./Bram Gieben (Hrsg.), Formations of Modernity, Cambridge 1992, S. 275–320.

  18. Vgl. Katharina Walgenbach, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse zu Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt/M.–New York 2005, S. 24.

  19. Vgl. exemplarisch für den deutschen Kontext Maureen Maisha Eggers et al. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005.

  20. Vgl. Kalwant Bhopal, Critical Race Theory: Confronting, Challenging and Rethinking White Privilege, in: Annual Review of Sociology 49/2023, S. 111–128.

  21. Vgl. Noel Ignatiev, How the Irish Became White, New York 1995. Siehe dazu auch Matthew Frye Jacobsen, Whiteness of a Different Color. European Immigrants and the Alchemy of Race, Cambridge MA 1999.

  22. Staatssekretär Solf an das Gouvernement in Apia, Berlin, 17.1.1912, Bundesarchiv Berlin, Reichskolonialamt, R 1001/5432, Bd. 1, KA V Gr. 6, Nr. A.V. 1410/11.

  23. Vgl. Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt/M.–New York 2001, S. 85. Zum historischen Zusammenhang von „Weißsein“ und Staatsbürgerschaft vgl. Katharina Walgenbach, „Weißsein“ und „Deutschsein“ – historische Interdependenzen, in: Eggers et al. (Anm. 19), S. 377–393.

  24. Vgl. ausführlich Walgenbach (Anm. 18), insb. Kapitel 9.

  25. Vgl. Peggy McIntosh, White Privilege and Male Privilege: A Personal Account of Coming to See Correspondences through Work in Women’s Studies, Wellesley Center for Research on Women, Working Paper 189/1988.

  26. Für eine Diskussion des Privilegientests in Deutschland siehe die Methodenkonferenz im Portal Intersektionalität: Externer Link: http://www.portal-intersektionalitaet.de/forum-praxis/methodenkonferenzen/intersektionalitaet/2018/3-methodenkonferenz-privilegientest. Vgl. auch Katharina Walgenbach/Friederike [Jonah] Reher, Reflecting on Privileges: Defensive Strategies of Privileged Individuals in Anti-Oppressive Education, in: The Review of Education, Pedagogy and Cultural Studies 2/2016, S. 189–210.

  27. Vgl. etwa bell hooks, Black Looks. Race and Representation, Boston 1992; Ruth Frankenberg, White Women, Race Matters: The Social Construction of Whiteness, London 1993; Richard Dyer, White, London–New York 1997; Vron Ware, Beyond the Pale. White Women, Racism and History, London–New York 1993; Catherine Hall, White, Male and Middle-Class. Explorations in Feminism and History, Cambridge 1992; David R. Roediger, The Wages of Whiteness. Race and the Making of the American Working Class, London–New York 1991; Theodore W. Allen, The Invention of the White Race. The Origin of Racial Oppression in Anglo-America, London 1997.

  28. Vgl. Sarah Karim/Anne Waldschmidt, Ungeahnte Fähigkeiten? Behinderte Menschen zwischen Zuschreibung von Unfähigkeit und Doing Ability, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 3/2019, S. 269–288; Swantje Köbsell, Ableism: Neue Qualität oder „alter Wein“ in neuen Schläuchen?, in: Iman Attia/dies./Nivedita Prasad (Hrsg.), Dominanzkultur reloaded: Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, S. 21–34.

  29. Vgl. Dan Goodley, The Dis/ability Complex, in: Journal of Diversity and Gender Studies 1/2018, S. 5–21.

  30. Rebecca Maskos, Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Inklusion 2/2015, 28.6.2015, Externer Link: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/277.

  31. Vgl. Gregor Wolbring, Ability Privilege: A Needed Addition to Privilege Studies, in: Journal for Critical Animal Studies 2/2014, S. 118–141; Emily J. Hutcheon/Gregor Wolbring, Voices of „Disabled“ Post Secondary Students: Examining Higher Education „Disability“ Policy Using an Ableism Lens, in: Journal of Diversity in Higher Education 1/2012, S. 39–49.

  32. Vgl. Markus Rieger-Ladich, Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument, Stuttgart 2022, S. 167.

  33. Für Vorarbeiten siehe Walgenbach/Reher (Anm. 26) und Walgenbach (Anm. 1).

  34. Vgl. Rieger-Ladich (Anm. 32), S. 136, S. 174.

  35. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M. 2001, S. 304.

  36. Vgl. Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018.

  37. Die folgenden Ausführungen zur partiellen Integration in der Spätmoderne sind entnommen aus: Katharina Walgenbach, Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen, in: dies./Anna Stach (Hrsg), Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen, Opladen 2015, S. 21–50, hier S. 40ff.

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ist Professorin für Bildung und Differenz am Institut für Bildungswissenschaft und Medienforschung der Fernuniversität in Hagen.