Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Neustart der Privilegienkritik | Privilegien | bpb.de

Privilegien Editorial Neustart der Privilegienkritik. Ein Plädoyer Privilege Studies. Einführung und Überblick Gerechtigkeit durch Ungleichbehandlung? Eine rechtshistorische Betrachtung des Privilegs White Privilege. Das gute Leben auf den Schultern der Anderen Privateigentum als Privileg Erscheinung und Gegenstand: Privilegien im Bildungsbereich Vom Nutzen und Schaden eines Begriffs. Kleine Diskursgeschichte des „Privilegs“

Neustart der Privilegienkritik Ein Plädoyer

Markus Rieger-Ladich

/ 17 Minuten zu lesen

Die Kritik an Privilegien ist in die Krise geraten – sie läuft Gefahr, zur Spielwiese sektiererischer politischer Auseinandersetzungen zu werden und die eigenen Anliegen zu untergraben. Wie konnte es dazu kommen? Und wie könnte ein Neustart gelingen?

Vier Wochen nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels erschien im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ ein ganzseitiger Artikel, der aus der Vielzahl der Beiträge zum Thema herausstach. Die Autorin Nele Pollatschek skizzierte nicht allein geopolitische Folgen des Terrorangriffs und gewährte Einblicke in jüdische Gemeinschaften, die nun mit der bitteren Erkenntnis leben müssen, dass sie ihrer „Grundversicherung“ – Israel als sicherer Zufluchtsort – beraubt wurden. Zugleich protokollierte sie die Geschichte eines schmerzhaften Erwachens und stellte Zeugnisse derer zusammen, die sie die „internationale Linke“ nennt. Darunter finden sich über Social-Media-Kanäle geteilte Fotos von Paraglidern, versehen mit dem Satz „I stand with Palestine“, die Rede eines Professors der Cornell University, der erklärt, über den Terrorangriff der Hamas „hoch erfreut“ zu sein, sowie der Hinweis auf eine Petition, die von rund 30 Studierendenorganisationen der Harvard University initiiert wurde. Keine 24 Stunden nach dem Massaker erklärten Studierende der Elite-Universität, die Verantwortung für die mehr als 1.000 getöteten Zivilist:innen liege allein bei der israelischen Regierung. Die Hamas erwähnten sie nicht, deren Gräueltaten bezeichneten sie als „Ereignisse“.

Pollatschek war vom Ausbleiben der Anteilnahme, der Täter-Opfer-Umkehr und dem Versagen des politischen Urteilsvermögens derer, die sich gerne der eigenen Achtsamkeit rühmen, kaum weniger entsetzt als von den Taten selbst. Und sie fragte sich, wie sie früheren Bekundungen hatte Glauben schenken können: „Ich bin nicht wütend, ich bin nicht mal enttäuscht. Ich frage mich nur, wie wir so dumm sein konnten. Wie man denken konnte, es ginge der progressiven Linken um Menschenrechte, um universelle Werte.“

Wie lässt sich erklären, dass Lehrende und Studierende der renommiertesten Universitäten der USA, mithin jene, die auf höchstem Niveau ausgebildet und „sonst mit dem Checken von Privilegien beschäftigt“ sind, mit einer Kaltschnäuzigkeit auf den Tod Unschuldiger reagieren, die einen schaudern lässt? Wie lässt sich verstehen, dass jene, die unter bestmöglichen Voraussetzungen ihrem Studium nachgehen, voller Häme erklären, eben dies – also die Anschläge der Hamas – sei unter „Dekolonialisierung“ zu verstehen, und sich für das Leid der Angehörigen völlig unempfänglich zeigen?

Die Petition aus Harvard ist ein Hinweis darauf, dass das Projekt der Privilegienkritik in eine veritable Krise geraten ist. Soll die kritische Befassung mit Privilegien nicht zur Spielwiese sektiererischer politischer Auseinandersetzung werden, muss sie künftig in einem anderen Modus betrieben werden. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden zunächst die Dringlichkeit eines solchen Neustarts verdeutlichen und anschließend an die Anfänge der Privilegienkritik erinnern, um dann deren weitere Entwicklung zu kommentieren und abschließend Hinweise zu geben, was es beim Neustart zu beachten gilt.

Exkludierende Solidarität

Dass es sich bei den Reaktionen aus Harvard und anderen Universitäten nicht um Einzelfälle handelt, zeigt sich rasch, sobald man sich mit der Tradition des Antisemitismus in der Linken befasst. Dann wird deutlich, dass auch die studentischen Protestaktionen an der Berliner Universität der Künste, die im Dezember 2023 bekannt wurden, als Teil einer Bewegung begriffen werden müssen. Was sich hier bei „Solidaritätsbekundungen“ zu erkennen gibt, ist eine politische Praxis, die sich zwar eines linken Vokabulars bedient, aber Gefahr läuft, das ursprüngliche Anliegen linker Bewegungen zu verraten – nämlich als gegenhegemoniale Kraft für die gesellschaftliche Gleichheit aller einzutreten. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht dabei die Privilegienkritik; sie illustriert zugleich die Sackgasse, in die sich Teile der identitätspolitischen Linken manövriert haben.

Was auf dem Spiel steht, wenn der Begriff des Privilegs seines normativen Gehalts entkleidet und zum Instrument einer unaufgeklärten politischen Praxis wird, hat David Baddiel in seinem jüngsten Buch gezeigt. In „Jews don’t count“ geht der britische Comedian, der aus einer jüdischen Familie stammt, der Frage nach, wie es sich erklären lässt, dass die Linke bei ihren Sympathiebekundungen die Jüdinnen und Juden stets übersieht. Aus der Vielzahl von Beispielen, die er anführt, sei hier nur eines genannt: 2019 hielt Dawn Butler, die designierte Ministerin für Frauen und Gleichberechtigung der Labour-Party, eine Rede, an deren Ende sie all jene aufführte, die sich der Unterstützung ihrer Partei gewiss sein könnten. Dabei ließ sie, so schien es, keine Gruppe aus, die zum Opfer von Diskriminierung werden kann: „Wenn Sie in einer Sozialwohnung leben, wenn Sie LGBT+ sind, wenn Sie hetero sind, wenn Sie Sinti und Roma sind (…), wenn Sie schwarz, wenn Sie weiß, wenn Sie asiatischer Herkunft sind, wenn Sie gebrechlich sind, wenn Sie keinen Treuhandfonds besitzen, wenn Sie nicht in Oxford oder Cambridge studiert haben, wenn Sie zur Arbeiterklasse gehören, (…) dann haben Sie eine Zukunft und verdienen Gleichbehandlung, Würde und Respekt.“ So grotesk diese Liste ist – sie ist doch insofern repräsentativ, als Jüdinnen und Juden nicht genannt werden. Baddiel sucht nun nach einer Erklärung dafür, dass zwar Wertschätzung großzügig in Aussicht gestellt wird, aber eben doch nicht alle einschließt.

Das Bild, das er für diese Form exkludierender Solidarität findet, ist überaus treffend. Die „progressiven modernen Linken“ zögen um jene, für die sie sich politisch einsetzen, einen „heiligen Kreis“. Warum aber erhielten Jüdinnen und Juden dazu keinen Zugang? Warum könnten sie in Großbritannien kaum auf Unterstützung der identitätspolitischen Linken hoffen? Baddiel erklärt das wie folgt: „Juden [sind] die einzigen Opfer von Rassismus (…), denen von den Rassisten sowohl ein niedriger als auch ein hoher Status beigemessen wird. Juden werden von Rassisten auf die gleiche Weise stereotypisiert wie andere Minderheiten – als verlogen, diebisch, schmutzig, niederträchtig, stinkend –, aber eben auch als vermögend, privilegiert, mächtig, als geheime Herrscher über die Welt.“ Juden scheinen sich der klassischen Täter-Opfer-Unterscheidung zu entziehen: Sie tauchen auf beiden Seiten auf, sind, in dieser Logik, sowohl „Untermenschen“ als auch die „Herren der Menschheit“. Anders formuliert: Weil Jüdinnen und Juden als privilegiert gelten – mithin als vermögend, mächtig und einflussreich –, bleibt ihnen ein Platz im „heiligen Kreis der Unterdrückten“ verwehrt, können sie keinen Anspruch auf Beistand erheben.

In dieser alten antisemitischen Denkfigur zeigt sich nun die dringende Korrekturbedürftigkeit der zeitgenössischen Rede von Privilegien. War deren Kritik zunächst eine zentrale Forderung emanzipatorischer Bewegungen, die – wie etwa in der Französischen Revolution, im Abolitionismus und der Frauenbewegung – der Egalité zum Durchbruch verhelfen wollten und allen Ideologien der Ungleichheit den Kampf angesagt hatten, wird sie nun für gegenteilige politische Anliegen instrumentalisiert und mitunter zu einem Element antisemitischer Pamphlete.

Semantische Verschiebungen

Was den Begriff des Privilegs für politische Bewegungen attraktiv macht, ist die Tatsache, dass er sich im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung auf grundlegende Weise transformiert hat. In der Feudalgesellschaft war er als juristischer Terminus geläufig, der den Sachverhalt bezeichnete, dass einem Individuum oder einer Personengruppe eine Sonderbehandlung gewährt wurde – ein Privilegiengeber erteilte einem Privilegiennehmer ein besonderes Recht und sicherte ihm zugleich dessen Exklusivität zu. An dieser Praxis nahm lange Zeit kaum jemand Anstoß. Dies änderte sich erst im 17. Jahrhundert, als die Naturrechtslehre in der Philosophie mehr und mehr Anhänger gewann und die Ideen von Freiheit und Gleichheit die politischen Debatten zu dominieren begannen. In der Folge wurden weltliche wie auch religiöse Würdenträger zunehmend darauf verpflichtet, in ihrer politischen Praxis nicht länger Partikularinteressen zu vertreten, sondern die Anliegen aller.

Seine heutige charakteristische Färbung erhielt der Begriff des Privilegs während der Französischen Revolution. Hatte die Aufklärung schon die Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Fokus gerückt und jene unter Erklärungsdruck gesetzt, die sich an eine soziale Ordnung klammerten, die noch von Willkürakten, Asymmetrien und Standesgrenzen geprägt war, wurde das Privileg im revolutionären Frankreich zum Schimpfwort – zum Synonym für skandalöse, unhaltbare Zustände. In aller Schärfe hatte dies der Theologe Emmanuel Sieyès 1788 und 1789 in zwei Streitschriften ausgeführt. So heißt es in dem Traktat „Was ist der dritte Stand?“: „Als Privilegierten bezeichne ich jeden Menschen, der aus dem gemeinsamen Recht heraustritt, sei es, weil er behauptet, nicht in allem dem gemeinsamen Recht unterworfen zu sein, sei es, weil er exklusive Rechte verlangt.“ Was davon zu halten sei, hatte er zuvor in der „Abhandlung über Privilegien“ unmissverständlich festgehalten: „Alle Privilegien sind also ihrem Wesen nach ungerecht, hassenswert und dem höchsten Zweck jeder staatlichen Gemeinschaft entgegengesetzt.“

Dieser historisch-politische Hintergrund wird seither aufgerufen, wenn Privilegien thematisiert und kritisiert werden. Moderne Gesellschaften westlicher Prägung beschreiben sich durchweg als meritokratisch: Gesellschaftliche Platzierungen sollen nicht länger aufgrund klangvoller Namen und weit zurückreichender Stammbäume vorgenommen werden, sondern allein individuell zurechenbare Leistungen berücksichtigen. Aus diesem Wettbewerb um wertvolle Bildungsabschlüsse und herausgehobene gesellschaftliche Positionen darf – so das Selbstverständnis – niemand aufgrund unveränderlicher zugeschriebener Merkmale ausgeschlossen werden. Anders formuliert: Soziale Herkunft und sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Geschlecht, religiöse Bekenntnisse und andere Marker dürfen nicht länger berücksichtigt werden; sie sollen nicht zur Grundlage von Diskriminierung und Ausgrenzung werden. Entsprechend heißt es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 in aller Klarheit: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie.“

Dass eine Selbstthematisierung nicht die realen Verhältnisse abbildet, muss nicht eigens erläutert werden; sie ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine Form der (idealisierten) Selbstbeschreibung. Auch gegenwärtig kann keine Rede davon sein, dass die Gesellschaften des Globalen Nordens tatsächlich meritokratisch organisiert sind. Für die Entwicklung der Privilegienkritik ist es nun wichtig, daran zu erinnern, dass emanzipatorische Bewegungen zunächst darauf setzten, dass das, was ihnen versprochen wurde, in die Wirklichkeit überführt werde. Sie betrachteten die gesellschaftlichen Leitbilder nicht als ideologisches Blendwerk, sondern erkannten, dass diese Selbstthematisierung normativ imprägniert war – und knüpften daran an.

Die Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa pochte darauf, dass die versprochene Gleichheit endlich umgesetzt und juristisch wie auch ökonomisch ausbuchstabiert wird. Soziologen wie Ralf Dahrendorf und Pierre Bourdieu wiederum geißelten in den 1960er und 1970er Jahren die Bildungseinrichtungen für ihre feudalen Strukturen und suchten diese auf Bestenauslese zu verpflichten – also darauf, die verdeckte Weitergabe von Bildungsprivilegien endlich zu beenden und einen fairen Wettbewerb um Bildungsabschlüsse zu organisieren.

Partikularistische Identitätspolitik

Nur wenige Jahre nachdem Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron und andere das französische Bildungssystem einer scharfen Kritik unterzogen und die politisch Verantwortlichen mit dem Vorwurf konfrontiert hatten, die Ideale der Französischen Revolution verraten zu haben, publizierte in den USA eine Gruppe Schwarzer Frauen und Lesben ein Papier, das eine neue Form politischer Interessenvertretung ankündigte. Enttäuscht von der mangelnden Solidarität der Schwarzen Männer wie auch der weißen Frauen, formulierten sie in ihrem „Black Feminist Statement“ eine Absage an weitere Versuche der Zusammenarbeit. Im Kampf gegen Sexismus und Rassismus zählten sie nicht länger auf den Beistand weißer Feministinnen oder Schwarzer Weggefährten. Zur Gründungsurkunde der emanzipatorischen Identitätspolitik wurde ihr Statement durch den besonderen Politikstil, den die Verfasserinnen entwarfen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht und nicht aus dem Kampf gegen die Unterdrückung anderer Menschen.“

Linke Identitätspolitik fußt somit auch auf der Erfahrung, dass sich die Solidarität zwischen diskriminierten Gruppen als wenig belastbar erwiesen hat. Weder die männlich dominierte Schwarze Befreiungsbewegung noch die von weißen, bürgerlichen Frauen geprägte feministische Bewegung war interessiert an dem Schicksal der Schwarzen Frauen, die als Betroffene rassistischer und patriarchaler Strukturen doppelt diskriminiert wurden. Und so wandten sich die Mitglieder des Combahee River Collective, das sich Mitte der 1970er in Boston gegründet hatte, von diesen Gruppen ab und wählten genau jene Kombination von Merkmalen, aufgrund derer sie diskriminiert wurden, zum Ausgangspunkt der eigenen Politisierung. In der Neuausrichtung des black feminism liegt daher auch eine bedeutsame Gelenkstelle der Geschichte emanzipatorischer Bewegungen. Immer häufiger wird nun die Zugehörigkeit zu einer Bewegung an geteilte Erfahrungen und gemeinsame Identitätsmerkmale geknüpft – und damit die emanzipatorische Identitätspolitik begründet.

Für die Entwicklung der Kritik von Privilegien war diese Bewegung von großer Bedeutung. Nicht allein für die politische Kultur war es wichtig, dass in den 1970er Jahren die „Pluralität partikularer Perspektiven“ und damit die mangelnde Repräsentation marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen deutlich wurde. Auch deren strukturelle Benachteiligung konnte in der Folge sehr viel besser artikuliert werden. Warum dies in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zunächst auf beträchtlichen Widerstand stieß, erläutert der Philosoph Charles Mills: Die Kritik an white privilege, male privilege oder etwa an class privilege sei der amerikanischen Selbstbeschreibung, in der Integration und Egalität stets großgeschrieben wurden, und dem Selbstbild der meisten Bürger:innen schlicht zuwidergelaufen. „Offensichtlich behindert ein solcher Ausgangspunkt jegliche realistische soziale Erkenntnistheorie auf entscheidende Weise, da sie praktisch die Dinge auf den Kopf stellt. Sexismus und Rassismus, Patriarchat und weiße Vormachtstellung sind nicht die Ausnahme, sondern die Norm gewesen.“

Privilegierte sind für jene Strukturen, deren sie ihre unberechtigte Bevorzugung verdanken, meist eigentümlich blind. Sie bestreiten zwar nicht die Existenz gesellschaftlicher Verteilungskämpfe, wähnen sich aber nicht in diese involviert, beschreiben sich als unmarkierte Beobachter:innen. Dieses „Nichtwissen“ sei daher, das zeigt Mills am Beispiel des Rassismus, nicht zwingend ein Ausdruck von „Unaufrichtigkeit oder Heuchelei“. Vielmehr verweise es auf die hegemonialen Formen der (Selbst-)Wahrnehmung derer, die zur „Dominanzgesellschaft“ zählen.

„Olympische Spiele“

Ruft man sich die Mischung aus Blindheit und Unkenntnis, aus Ignoranz und Herablassung in Erinnerung, mit der viele Vertreter:innen der Dominanzgesellschaft Repräsentant:innen sozialer Bewegungen gegenübertraten, die um Anerkennung ihrer partikularen Perspektiven und „abweichenden Lebensentwürfe“ kämpften, kann es nicht verwundern, dass diese an die etablierten Formen der Interessenvertretung keine großen Hoffnungen knüpften. Schwule, Lesben, Schwarze Frauen, von Klassismus Betroffene oder etwa Jüdinnen und Juden organisierten sich daher bevorzugt in eigenen Gruppen. Parallel wurde von Vertreter:innen der Gender Studies und der Postcolonial Studies der Universalismus westlicher Prägung einer scharfen Kritik unterzogen.

Damit geriet auch die Kategorie des Allgemeinen in die Krise. Sie wurde von Theoretiker:innen und Aktivist:innen, die am Poststrukturalismus geschult waren, nach allen Regeln der Kunst dekonstruiert. Dies führte zu einem „kollektiven Lernprozess“, der die politische Debatte auf ein neues Niveau hob: „Man weiß heute, dass das Allgemeine und Universelle, wie es seit der Aufklärung postuliert wurde, eurozentristisch, weiß und männlich war und diese verhehlte Markierung bis in die Gegenwart hinein aufrechterhält.“

So wichtig dieser Prozess der Dekonstruktion hegemonialer Leitbilder war (und ist), hat er doch auch dazu geführt, dass die Kritik der unterschiedlichen Privilegien seither weitgehend getrennt voneinander betrieben wird. Sie folgt der beschriebenen Logik des Identitären. Und dies, obwohl Peggy McIntosh, jene weiße Sozialwissenschaftlerin, die Ende der 1980er Jahre die Metapher vom „unsichtbaren Rucksack“ prägte, um die Funktionsweise von Privilegien zu illustrieren, nicht nur von white privilege, sondern auch von male privilege sprach – und überdies von Privilegiensystemen. Sie warb also schon früh dafür, das Zusammenspiel von repressiven Strukturen zu untersuchen, die einzelne Gruppen mit Vorrechten ausstatten und dadurch andere benachteiligen.

In der Folge entstand das, was die Schwarze feministische Autorin Roxane Gay „Olympische Spiele der Privilegien“ genannt hat: Fixiert auf jene Formen der Diskriminierung, die die eigene Community konstituieren, scheinen bei den Betroffenen nur noch geringe Ressourcen dafür zur Verfügung zu stehen, sich für die Schicksale anderer zu interessieren. Die Tatsache, zum Opfer der Privilegierung einer bestimmten Gruppe zu werden, wird dann kaum einmal zu einer geteilten Erfahrung, die verschiedene Gruppen verbinden könnte, sondern führt ungleich häufiger zu einem fatalen Wettstreit, in dem unterschiedliche Formen der Benachteiligung miteinander verrechnet werden. „Wer würde im Kampf der Privilegien gewinnen, der queere weiße Mann oder die queere asiatische Frau? Wer würde gewinnen, der weiße Mann aus der Arbeiterklasse oder die reiche mexikanische Frau mit Behinderung?“

Folgenreicher Irrtum

Versucht man nun, die eingangs erwähnte Petition der Harvard-Studierenden in ihrer grotesken Logik zu verstehen und sie zugleich als Hinweis auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung der Privilegienkritik zu interpretieren, gilt es, das Zusammenspiel unterschiedlicher Entwicklungen zu berücksichtigen.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Kritik an der kolonialen Vergangenheit des Globalen Nordens dazu geführt hat, dass in vielen studentischen Gruppen und aktivistischen Milieus der Rekurs auf universalistische Modelle kategorisch abgelehnt wird. Verallgemeinerungsfähigkeit gilt in diesen Kreisen nicht länger als ein Gütekriterium kritischer Positionierungen.

Es kommt hinzu, dass das Streben nach Anerkennung, das für weite Teile der Identitätspolitik charakteristisch ist, ökonomische Zusammenhänge in den Hintergrund treten lässt – und diese nach derselben Logik behandelt. Dies aber ist ein folgenreicher Irrtum, so der Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels: Während es „einleuchten mag, sich Kulturen als verschieden und doch gleich vorzustellen, kann es nicht einleuchten, sich Klassen ebenso vorzustellen. Angeordnet auf einer vertikalen Achse – oben, mittel, unten –, bezeichnen Klassen nichts anderes als ein Verhältnis von Ungleichheit.“

Schließlich lässt sich kaum noch übersehen, dass die Privilegienkritik zu einem Elitenprojekt zu verkommen droht. Als besonders versiert erweisen sich dabei, wenig überraschend, die Studierenden der renommiertesten Universitäten: Sie beweisen ihre Eloquenz bei der „Beichte“ der eigenen Privilegien – und ihren „Klassen-Rassismus“ (Bourdieu) in der Gnadenlosigkeit, mit der sie jene bloßstellen, die weniger souverän die semantischen Versatzstücke aufrufen.

Das Verbindende suchen

Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend auf drei Herausforderungen hinweisen. Sie gilt es zu berücksichtigen, damit die Kritik von Privilegien, die von ihrer Brisanz und Dringlichkeit nichts eingebüßt hat, auf jenem Niveau betrieben werden kann, das notwendig ist, um den zeitgenössischen Konflikten und gesellschaftlichen Verwerfungen angemessen begegnen zu können.

Erstens ist es unverzichtbar, die Suche nach den Ursachen der eklatant ungleichen Verteilung von Privilegien zu intensivieren. An die Stelle von folgenlosen „Schuldeingeständnissen“ und dem Verrechnen unterschiedlicher Formen der Benachteiligung hat die theoriegeleitete Erforschung jener Strukturen zu treten, die Privilegierungen immer wieder aufs Neue produzieren. Statt also Individuen ins Zentrum zu rücken und deren Handlungen im Modus der Moralisierung zu kommentieren, kommt es darauf an, die Frage nach den Strukturen kapitalistischer Gesellschaften aufzuwerfen. Esme Choonara und Yuri Prasad, zwei britische Marxist:innen, weisen denn auch völlig zu Recht darauf hin, dass das „Checken von Privilegien“, das sich unter den Studierenden liberaler Universitäten derzeit großer Beliebtheit erfreut, lediglich dazu beiträgt, „das Bestehen der Ungleichheit festzustellen – es hilft uns aber nicht, diese zu verstehen oder zu bekämpfen“. Schlimmer noch: „Faktisch wird die Anerkennung von Ungleichheit zum Selbstzweck.“

Zweitens muss neu über Bündnisfähigkeit nachgedacht werden. Es sollte in meinen Ausführungen deutlich geworden sein, dass es zunächst unvermeidbar war, dass sich scharf konturierte Gruppen bildeten, die ihre kohäsiven Kräfte geteilten Erfahrungen verdanken. Auch eingedenk der Tatsache, dass es eine lange, leidvolle Geschichte des Paternalismus und der Bevormundung gibt, ist es zwingend, über das nachzudenken, was der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke „Modelle eines selbst-reflexiven Für-Andere-Einstehens“ nennt. Dem Tribalismus geschlossener Gruppen kann nur dann entgegenwirkt werden, wenn es gelingt, den Begriff der Gleichheit zu rehabilitieren und dort verbindungsstiftende Ähnlichkeiten zu finden, wo zuvor nur Differenzen vermutet wurden. Vielleicht ist es nicht abwegig, auch die sich verschärfenden gesellschaftlichen Krisen als Auslöser einer Bewegung zu interpretieren, die uns, so die Hoffnung Koschorkes, zu einem „vertieften Gattungsbewußtsein verhelfen“.

Drittens wäre daran zu erinnern, dass jene Regime der Ungleichheit, die Privilegien zuteilen und entziehen, von keinerlei höherer Logik gesteuert werden. Hier regiert die nackte Kontingenz, die grausame Beliebigkeit. Was für den Antisemitismus gilt – er komme, so ein Bonmot, wenn notwendig, auch ohne Jüdinnen und Juden aus –, trifft auch auf andere Ideologien der Ungleichheit zu. „Der Grund für seine Privilegierung“, so der Theatermacher Milo Rau, „ist zufällig. Jeder muss damit rechnen, irgendwann als Teil einer Minderheit diskriminiert zu werden.“ Anders formuliert: Grundsätzlich ist niemand davor gefeit, eines Tages selbst zum Ziel von Hohn und Spott, von Gewalt und Verfolgung zu werden. Das gilt es in Erinnerung zu rufen, auch wenn die Verletzlichkeit höchst ungleich verteilt ist – etwa zwischen Männern, Frauen und Angehörigen der queeren Community, aber auch zwischen denjenigen, die im Globalen Norden leben, und jenen, die im Globalen Süden beheimatet sind.

Auch aus diesem Grund gilt: Beim Kampf gegen Privilegierungen sind alle gefragt, nicht nur jene, die aufgrund der herrschenden Verhältnisse aktuell diskriminiert, stigmatisiert und ausgegrenzt werden (und auf Beistand angewiesen sind). Jeder und jedem sollte daran gelegen sein, dabei eine Perspektive einzunehmen, die über Partikularinteressen hinausweist. Protestbewegungen derer, die in besonderer Weise betroffen sind – also jeweils spezifische Formen der Interessenvertretung –, werden dadurch keineswegs obsolet. Sie bleiben notwendig. Gleichwohl gilt es, beim Neustart der Privilegienkritik universalistische Perspektiven wie auch solidarische Praktiken zu entwickeln, also das zu kultivieren, was der Philosoph Gilles Deleuze einmal „Horizontwahrnehmung“ nannte: an der Seite der unterdrückten Gruppen zu stehen und allen hegemonialen Bestrebungen entgegenzutreten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nele Pollatschek, Fünf bittere Erkenntnisse nach dem 7. Oktober, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 31.10.2023, S. 9.

  2. Ebd.

  3. Vgl. Nicholas Potter/Stefan Lauer (Hrsg.), Judenhass Underground. Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen, Göttingen 2023.

  4. Vgl. etwa Jean-Philipp Baeck, Unis vor der Zerreißprobe, in: Die Tageszeitung (taz), 1.12.2023, S. 13.

  5. Vgl. Leszek Kołakowski, Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, München 1976.

  6. David Baddiel, Und die Juden?, München 2021, S. 24f.

  7. Ebd., S. 28.

  8. Vgl. Klaus Holz, Der Jude. Dritter der Nationen, in: Eva Eßlinger et al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 292–303.

  9. Vgl. Markus Rieger-Ladich, Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument, Ditzingen 2022, S. 46–51.

  10. Vgl. Heinz Mohnhaupt, Untersuchungen zum Verhältnis von Privileg und Kodifikation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ius Commune 5/1975, S. 71–121.

  11. Emmanuel Sieyès, Abhandlung über Privilegien. Was ist der dritte Stand?, Frankfurt/M. 1968, S. 25, S. 138.

  12. Vgl. Rieger-Ladich (Anm. 9), S. 30.

  13. Vgl. Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt, Frankfurt/M. 2020.

  14. Vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2021.

  15. Vgl. Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1965; Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971.

  16. Vgl. Christian Baudelot, Das Bildungswesen, ein neues wissenschaftliches Objekt, in: Catherine Colliot-Thélène et al. (Hrsg.), Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt/M. 2005, S. 165–178.

  17. Combahee River Collective, Ein Schwarzes feministisches Statement (1977), in: Natasha A. Kelly (Hrsg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, S. 47–60, hier S. 51.

  18. Vgl. ebd.; Patricia Hill Collins (Hrsg.), Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York 2009.

  19. Vgl. Paula-Irene Villa Braslavsky, Identitätspolitik, in: POP. Kultur und Kritik 9/2020, S. 70–76.

  20. Karsten Schubert/Helge Schwiertz, Konstruktivistische Identitätspolitik. Warum Demokratie partikulare Positionierung erfordert, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 31/2021, S. 565–593, hier S. 567.

  21. Charles W. Mills, Weißes Nichtwissen, in: Kristina Lepold/Marina Martinez Mateo (Hrsg.), Critical Philosophy of Race. Ein Reader, Berlin 2021, S. 180–216, hier S. 186.

  22. Ebd., S. 193.

  23. Albrecht Koschorke, Identität, Vulnerabilität und Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten, in: Leviathan 3/2022, S. 469–486, hier S. 477.

  24. Vgl. Peggy McIntosh, Weißsein als Privileg. Die Privilege Papers, Ditzingen 2024 (i.E.).

  25. Roxane Gay, Fragwürdige Privilegien, in: dies., Bad Feminist. Essays, München 2019, S. 31–36, hier S. 35.

  26. Walter Benn Michaels, Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren, Berlin 2021, S. 136.

  27. Vgl. ebd., S. 11.

  28. Vgl. Maria-Sibylla Lotter, Ich bin schuldig, weil ich bin (weiß, männlich und bürgerlich). Politik als Läuterungsdiskurs, in: Herwig Grimm/Stephan Schleissing (Hrsg.), Moral und Schuld. Exkulpationsnarrative in Ethikdebatten, Baden-Baden 2019, S. 67–86.

  29. Esme Choonara/Yuri Prasad, Der Irrweg der Privilegientheorie, in: International Socialism. A Quarterly Review of Socialist Theory 142/2020, Externer Link: http://isj.org.uk/der-irrweg-der-privilegientheorie.

  30. Vgl. Markus Rieger-Ladich, Bündnisse schmieden. Drei Herausforderungen beim Kampf gegen Privilegien, 1.12.2022, Externer Link: http://www.theorieblog.de/index.php/2022/12/buendnisse-schmieden-drei-herausforderungen-beim-kampf-gegen-privilegien.

  31. Vgl. Linda Martín Alcoff, Das Problem, für andere zu sprechen, Ditzingen 2023.

  32. Koschorke (Anm. 23), S. 483.

  33. Ebd.

  34. Milo Rau, Identitätspolitik, in: ders., Die Könige der Schöpfung, München 2022, S. 62–67, hier S. 67.

  35. Vgl. Sasha Marianna Salzmann, An der Formel stimmt etwas nicht, in: SZ, 4.1.2024, S. 5.

  36. Vgl. den Dokumentarfilm „Abécédaire – Gilles Deleuze von A bis Z“ von Pierre-André Boutang (2009). Deleuze griff auf diesen Begriff zurück, als er in einem Interview gefragt wurde, was „links“ charakterisiere.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Markus Rieger-Ladich für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen.