Mit der Zuspitzung globaler Vielfachkrisen gewinnt auch deren Thematisierung in Forschung und Bildungspraxis an Bedeutung. Seit den Fridays-for-Future-Demonstrationen und immer besorgniserregenderen wissenschaftlichen Berichten des Weltklimarates, des Biodiversitätsrates und des Internationalen Ressourcenpanels rücken die bereits seit Jahrzehnten vielfach bedrohten und überschrittenen planetaren Belastungsgrenzen wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein. Schüler*innen bestreiken ein Bildungs- und Wissenschaftssystem, das selbst Anteil an der Reproduktion und Stabilisierung einer nicht-nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise hat. Gleichzeitig zeigen ökonomische, soziale und politische Krisen der vergangenen Jahrzehnte sehr eindrücklich, dass Konflikte um gerechte Zugänge zu lebenswichtigen Gütern wie Wasser, Land und Energie sowie der in Artikel 20a des Grundgesetzes verankerte Schutz natürlicher Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen nicht zu trennen sind von Fragen globaler "Arbeitsteilung" beziehungsweise Ausbeutung und imperialer Aneignung von Arbeitskraft und Natur. Auch Nachhaltigkeitsdiskurse gehen mit Verteilungskämpfen einher. Privilegien, die auf einem "guten Leben" für wenige auf Kosten inhumaner Lebensbedingungen für viele andere Menschen und Naturzerstörung basieren, kommen zunehmend ins Blickfeld.
In diesem Beitrag gehen wir von einem breiten Nachhaltigkeitsbegriff aus, der die globalen Vielfachkrisen in ihren Bedingungszusammenhängen verstehbar und bearbeitbar macht. Im Zentrum steht die Frage, welche Rolle Bildung als immer auch mit einem politischen – also das gesellschaftliche Zusammenleben gestaltenden – Anspruch verbundenes Konzept spielt. Häufig vernachlässigt scheint uns dabei die Rolle, die Bildungs- und Wissensregime selbst zur Verhinderung sozial-ökologischer Transformationen spielen.
Wir skizzieren Entwicklungslinien und Bildungskonzepte, die sich den Themen Umwelt-, Klima-, Biodiversitätsschutz (beziehungsweise der Ausbeutung und Zerstörung von Naturressourcen), globaler Gerechtigkeit und Wirtschaftsbeziehungen (beziehungsweise postkolonialen Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnissen) und Ansprüchen einer globalen demokratischen Weltbürger*innenschaft (beziehungsweise den anhaltenden Verhältnissen von Rassismus, (Neo-)Kolonialismus, Klassismus, Geschlechterhierarchien und Autoritarismus) widmen. Dabei argumentieren wir für eine stärkere Bindung pädagogischer Nachhaltigkeitskonzepte an globale und innergesellschaftliche Konflikte und strukturelle Bedingungen.
Bildung stabilisiert und transformiert Gesellschaft
Die Ziele, Inhalte und didaktischen Konzepte von Bildung spiegeln gesellschaftliche Konfliktlagen wider. So, wie Programme der Demokratieförderung auf (neue) Krisen demokratischer Teilhabe und gleichzeitige Ausgrenzungen und Gewaltverhältnisse zu "reagieren" versuchen, befassen sich Konzepte der Bildung für nachhaltige Entwicklung und des Globalen Lernens mit ökologischen, friedenspolitischen und globalen ökonomischen Krisen. Gemeinsam ist vielen dieser Konzeptionen die vage Hoffnung, Lernenden nicht nur ein Verständnis für aktuelle Krisen und "epochaltypische Schlüsselprobleme"
Die gesellschaftlichen Funktionen von Bildung bestehen zunächst in der Reproduktion und Stabilisierung einer sozialen und politischen Ordnung durch Qualifikation, Selektion, Integration und die Rechtfertigung ungleicher Berufs- und Lebenschancen. Jede Form von Bildung ist insofern politisch, als sie eine zentrale Rolle bei der Sozialisation von Menschen spielt. Bildung tradiert nicht nur Wissen und Fähigkeiten, sie vermittelt auch Werteordnungen und Alltagspraktiken des Zusammenlebens. Damit reproduziert sie wirtschaftliche, kulturelle und politische Strukturen. Zugleich verbindet sich mit Bildung in demokratischen Gesellschaften der Anspruch, die Voraussetzungen zur Umsetzung der (vielfach nicht erfüllten) normativen Ansprüche auf soziale und politische Teilhabe zu schaffen und gesellschaftliche Verhältnisse zu transformieren. Bildung bewegt sich also immer im Spannungsfeld zwischen Herrschaft und Emanzipation. Mit der Absicherung von liberalen Werten und rechtsstaatlichen Strukturen verbinden sich zugleich Leistungs-, Wettbewerbs-, Wachstums-, Eigentums- und Wohlstandsvorstellungen, die eine nicht-nachhaltige Produktions- und Lebensweise im Alltagsverstand als "mentale Infrastrukturen" tief verankert.
Globale Entwicklungen
Die Debatten um Nachhaltigkeit und die Entwicklung von Bildungskonzepten müssen vor dem Hintergrund zeithistorischer Entwicklungen und mit diesen verbundenen Deutungskämpfen um die Gestaltung von (Welt-)Gesellschaft betrachtet werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Bildung auf internationaler Ebene als Mittel zur Verständigung hervorgehoben. Mit der Gründung der Weltkulturorganisation Unesco 1946 wurden erste Leitlinien für eine International Education formuliert.
Mit dieser globalen Perspektive entstand bereits in den 1970er Jahren der Begriff "Global Education" für Konzeptionen, bei denen es um die Gestaltung der Globalisierung nach ethischen Zielen wie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sowie um eine neue Vorstellung von transnationaler (Welt-)Bürger*innenschaft geht. Diese Bemühungen standen in den USA unter einem anderen Vorzeichen als in Deutschland. Das strategische Interesse der US-Regierung bestand darin, ihre hegemoniale Rolle auf der Weltbühne zu stabilisieren und dafür den Welthorizont von Bürger*innen zu öffnen. Eine globale Perspektive auf Bildung entwickelte sich in Deutschland insbesondere durch zivilgesellschaftliche Akteur*innen in Verbindung mit den Solidaritäts- und Internationalismusbewegungen der 1960er und 70er Jahre. Soziale Bewegungen, die sich mit Fragen der Nord-Süd-Beziehungen und Entwicklungspolitik befassten, spielten eine zentrale Rolle für Friedens- und Menschenrechtspädagogik, Interkulturelle Pädagogik und Entwicklungspolitische Bildung. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen formulierten den Anspruch, weltgesellschaftlichen Transformationen begegnen zu können. Für die Bearbeitung von Themen wie Ungerechtigkeit oder die Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen sollte die Lernfähigkeit des Menschen als Potenzial entwickelt und genutzt werden.
Bereits in den 1960er und 70er Jahren wiesen Wissenschaftler*innen und soziale Bewegungen auf die Kosten hin, die durch die industrielle Entwicklung auch für die Umwelt entstanden. Mit dem "Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit" wurden "Die Grenzen des Wachstums" öffentlichkeitswirksam prognostiziert: "Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht."
Globales Lernen, BNE oder Transformative Bildung?
Die Auseinandersetzung mit Globalisierung und der Bedeutungsverlust von Nationalstaaten führte zu einer Neuausrichtung von Entwicklungspolitischer Bildung. Konzepte des Globalen Lernens erweiterten oder ersetzten sie nun. Mit dem Ende der Ost-West-Systemkonkurrenz wurde die Entwicklungsproblematik zudem nicht mehr entlang einer territorial definierten Nord-Süd-Achse definiert, und es kam zu einer veränderten Wahrnehmung globaler Herausforderungen und Schlüsselprobleme. Im Globalen Lernen verzahnten sich die durch zivilgesellschaftliche Akteur*innen geprägten und aus sozialen Bewegungen hervorgegangenen Ansätze der Friedenspädagogik, der Entwicklungspolitischen Bildung, Umwelt-, Menschenrechtsbildung und der Interkulturellen Erziehung.
Zugleich stärkten weitere UN-Programme die Relevanz des Globalen Lernens im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Die auf der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro verabschiedete Agenda 21 enthielt die Aufforderung, Bildung am Leitziel einer globalen Entwicklung zu orientieren als eine "unerlässliche Voraussetzung für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung".
Parallel zu dieser Erfolgsgeschichte steigt auch nach drei Jahrzehnten und zahlreichen BNE-Programmen die Nutzung fossiler Energieträger weltweit weiter massiv an und wird der Raubbau an der Natur unvermindert fortgesetzt.
Ausgehend von dieser Kritik werden verstärkt Ansätze Transformativer Bildung diskutiert.
Imperiale Produktions- und Lebensweise als Analysekonzept
Die Bildungskonzepte BNE und Globales Lernen sind mit normativen Ansprüchen verbunden, die auf einem breiten Konsens beruhen – etwa weltweite Gerechtigkeit und Konsum- und Produktionsweisen, die nicht langfristig Lebensgrundlagen zerstören. Jedoch zeigt sich, dass die geteilten Normen in institutionellen und alltäglichen Praktiken permanent unterlaufen werden. Dieser Aspekt ist oft eine Leerstelle in Bildungskonzepten. Die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen greifen mit ihrem Analysekonzept der imperialen Produktions- und Lebensweise (iPLw) das Paradox auf, dass sich die globalen Vielfachkrisen verschärfen, obwohl sie gesellschaftlich zunehmend als Herausforderung begriffen und mit normativen Vorstellungen "nachhaltigen Wirtschaftens" und "grünen Wachstums" verbunden werden. Vielmehr verallgemeinere und intensiviere sich global eine nicht-nachhaltige Wirtschafts- und
Lebensweise.
Dies lässt sich als Ergebnis jahrzehntelanger Hegemoniebildung verstehen, die globale Ausbeutung und das Leben auf Kosten anderer teils verschleiert, teils als "normal" erscheinen lässt. Diese Produktions- und Lebensweise ist "imperial", da sie auf der Ausbeutung von Menschen und Natur beruht, wobei der Globale Norden überproportional auf Arbeit und Ressourcen im Globalen Süden zugreift und Kosten wiederum zu einem großen Teil in den Globalen Süden externalisiert. Mit der iPLw geht ein Wohlstandsversprechen einher, wodurch alternative Produktions- und Lebensweisen verdrängt werden. Notwendigerweise bleibt sie jedoch exklusiv, da sie ökonomisch wie physikalisch nicht verallgemeinerbar ist. Dass sie trotz des zunehmenden Krisenbewusstseins selten ernsthaft infrage gestellt wird, liegt an ihrer hegemonialen Stellung: Sie ist in individuellen Handlungen, politischen Institutionen und materiellen Infrastrukturen tief verankert. Kulturelle Leitbilder normalisieren die Vorstellung eines Lebens auf Kosten anderer als Vorstellung eines "guten Lebens", das alltägliches Handeln und Denken prägt.
Mit dem Konzept der iPLw kommen strukturelle Gründe in den Blick, die eine nachhaltige, solidarische Produktions- und Lebensweise verhindern. Diese Gründe zeigen, wie Menschen selbst in Alltagspraktiken eingebunden sind und welche Gestaltungsspielräume bestehen oder auch behindert werden. Politische Nachhaltigkeitsbildung kann sich deshalb nicht normativ auf ein "Denken und Handeln im Welthorizont" sowie die Befähigung, "an der Gestaltung von Weltgesellschaft sachkundig und verantwortungsbewusst teilzuhaben",
Aufgabe politischer Bildung ist es, Zugänge zu schaffen, diese sozialen Kämpfe und Konflikte über und für Nachhaltigkeit und sozialökologische Transformationen zu verstehen und Möglichkeiten zu eröffnen, mündig, solidarisch, nachhaltig und kollektiv denken und handeln zu können.
Bildung in der sozial-ökologischen Transformation
Um die Deutungskämpfe um nachhaltige Zukunft genauer in den Blick zu bekommen, schlagen wir vier Bereiche vor, die unter Berücksichtigung der iPLw Potenziale und Hürden politischer Nachhaltigkeitsbildung verdeutlichen.
Politische Bildung zu Nachhaltigkeit macht Nachhaltigkeit zum Gegenstand politischer Bildung. Soziale, ökologische, ökonomische und kulturelle Dimensionen von Nachhaltigkeit werden zum Thema, um die iPLw analysieren und kritisieren zu können. Sie helfen, gängige, hegemoniale Annahmen sichtbar und diskutierbar zu machen. Dabei werden Fragen nach individuellen und kollektiven Werten, Leitbildern und Normen gestellt. Auch Praktiken, die Nachhaltigkeit beanspruchen – wie Programme des Green New Deals, die Umstellung auf Elektromobilität, Sorgekooperativen oder die Gründung von Ernährungsräten – werden befragt, und es wird diskutiert, welche strukturellen Herrschaftsformen ihnen zugrunde liegen oder infrage gestellt werden. In politischen Bildungsräumen werden Deutungskämpfe um Nachhaltigkeitskonzepte thematisiert und dabei die Gewordenheit und Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen anschaulich.
Politische Bildung für Nachhaltigkeit versteht sich nicht als Instrumentalisierung von Bildung im Sinne einer Absolutsetzung von bestimmten Nachhaltigkeitsvorstellungen. Im Sinne einer kritischen politischen Bildung
Politische Bildung als Nachhaltigkeit zielt nicht bloß darauf, "das Bestehende (…) mitzugestalten und zu reproduzieren". Vielmehr geht es ihr darum, "Wege zu finden, das Bestehende (…) individuell und kollektiv handelnd zu verändern".
Politische Bildung in Nachhaltigkeitspraktiken schließlich versteht diese Praktiken selbst als Lernräume. Sie sind Erfahrungsräume, in denen basisdemokratische und partizipative Entscheidungsstrukturen erprobt und Handlungsfähigkeiten erlernt werden. Politische Bildung in Nachhaltigkeitspraktiken stellt zudem Selbstverständlichkeiten politischer Bildung selbstreflexiv infrage und richtet den Blick auf die Verwobenheiten mit hegemonialen nicht-nachhaltigen Verhältnissen. Hier besteht die Aufgabe politischer Bildung darin, politischen Dissens als konstruktive Selbstverunsicherung der eigenen Praktiken, Annahmen und Vorstellungen sichtbar zu machen und darüber den Suchprozess zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft für alle offen zu halten. Politische Bildung in Nachhaltigkeitspraktiken fragt zudem, wie diese verankert und abgesichert werden können, um schrittweise zu einer gesamtgesellschaftlichen globalen Realität zu werden und die iPLw zu überwinden.
Fazit
Durch die geschilderten vier Bereiche wird die Bedeutung mentaler Infrastrukturen, die durch die Hegemonie der iPLw geprägt sind, für die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit als Bildungsaufgabe gezielt angesprochen. Sie prägen unsere Wahrnehmung und Vorstellung von (globaler) Gesellschaft, sie sind orientiert an kulturellen Leitbildern im Denken und Handeln. Dabei stehen sie in einem Verhältnis zu materiellen Infrastrukturen und Institutionen. Durch materielle Infrastrukturen wie autofreie Städte, offene Werkstätten und Bibliotheken oder Bürger*innenenergiegenossenschaften werden nachhaltige Produktions- und Lebensweisen ermöglicht, sichtbar und abgesichert, die ein anderes individuelles und kollektives Wahrnehmen und Verhalten ermöglichen. Das Ziel muss also sein, Nachhaltigkeitskonzepte langfristig über institutionelle und strukturelle Zusammenhänge zu verankern. Dies gilt auch für Konzepte politischer Nachhaltigkeitsbildung, wodurch der Blick auf Bildung über Inhalte hinaus erweitert wird. Im Fokus steht daher nicht nur die selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Eingebundenheit und Reproduktion der imperialen Produktions- und Lebensweise, sondern auch die Frage danach, wie materielle Infrastruktur und institutionelle Zusammenhänge geschaffen werden können, die eine politische Bildung als Nachhaltigkeit auch im Sinne nachhaltiger Bildungsinfrastrukturen ermöglichen.