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Viele Herausforderungen, desolate Lage Politische Bildung an berufsbildenden Schulen

Bettina Zurstrassen

/ 14 Minuten zu lesen

Politische Bildung an Berufsschulen sieht sich mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Es mangelt dabei nicht an fachdidaktischen Konzepten, sondern letztlich an politischem Willen, nachhaltige Strukturen zu schaffen, um die Situation zu verbessern.

In den vergangenen Jahren sind mehrere quantitative, vornehmlich explorative Studien zu den politischen Einstellungen der Lernenden und zur Lage der politischen Bildung an berufsbildenden Schulen erschienen. Diese eröffnen Einblicke in Problemlagen der beruflichen Schulen, weisen aber auch Blindstellen auf. Die Sensibilität für die spezifischen Herausforderungen politischer Bildung an berufsbildenden Schulen wächst. In diesem Beitrag wird eine Auswahl der Vielzahl der Herausforderungen skizziert, mit denen sich die berufliche politische Bildung konfrontiert sieht, und der aktuelle Umgang damit diskutiert.

Heterogenität der Lernenden: Soziale Ungleichheit

Eine ausgeprägte soziale, kulturelle und lebensweltliche Heterogenität der Lernenden hat an berufsbildenden Schulen Tradition. Die Herausforderung, die dadurch entsteht, kann am Beispiel von sozialer Ungleichheit, bezogen auf die Dimensionen sozioökonomischer Hintergrund und formaler Bildungsstatus, beschrieben werden. Die Strukturen sozialer, mitunter auch institutionell angelegter ungleicher Bildungschancen im Schulsystem sind spiegelbildlich auch im Bereich der politischen Bildung vorhanden. Im Vergleich zum Gymnasium haben Lernende an beruflichen Schulen weniger politische Lernchancen. Das bezieht sich nicht nur auf die zur Verfügung stehende Lernzeit, sondern auch auf Chancen, politisches Handeln zu erproben und zu lernen. Bildungsdiskriminierende Strukturen aus der Sekundarstufe I setzen sich an berufsbildenden Schulen fort. Die vorliegenden Daten zur Reproduktion sozial ungleicher politischer Bildungschancen legen nahe, politische Bildung nicht nur als Teil der Lösung, sondern auch als Teil des Problems zu betrachten.

Empirische Studien der politischen Einstellungsforschung zeigen, dass Lernende an berufsbildenden Schulen im Vergleich zu Lernenden an Gymnasien die Demokratie kritischer sehen, sich von der Politik weniger vertreten fühlen, sich weniger als politisch wirksam erleben und rassistische sowie andere gruppenbezogene menschenfeindliche Positionen stärker vertreten sind. Die Vertrauenskrise in wichtige gesellschaftliche Institutionen wie Parteien, Wirtschaftsunternehmen und religiöse Einrichtungen ist bei Lernenden an berufsbildenden Schulen stärker als an Gymnasien.

Die Befunde weisen auf einen erheblichen fachdidaktischen Handlungsbedarf. Die bestehende Politikdistanz ist in Teilen aber auch das Ergebnis real erfahrener Politik, denn empirisch nachweisbar können privilegierte Sozialgruppen mit höheren Einkommen ihre Interessen politisch eher durchsetzen und erfahren auch mehr Responsivität seitens der Politik – zum Beispiel werden Wahlstände vor allem in privilegierteren Wohnbezirken aufgebaut.

Problematisch ist, dass der öffentliche Diskurs über die Befunde zu den politischen Einstellungen von Lernenden an berufsbildenden Schulen Gefahr läuft, etikettierend gegenüber den Lernenden zu wirken. Er kann zur Verfestigung sozialer Vorurteile und in der Folge zu sozialer Ungleichheit der Lernenden beitragen. Die Daten sollten zudem differenzierter erhoben und ausgewertet werden. Die politischen Einstellungsmuster variieren zwischen den Ausbildungsgängen. Im Vergleich zu den kaufmännischen Berufen etwa stimmen Auszubildende im gewerblichen Bereich rechtspopulistischen Positionen signifikant häufiger zu.

Nicht der Status "Berufsschüler:in" ist also der Indikator für die politischen Einstellungen und Kompetenzen, sondern vor allem der sozioökonomische Status der Herkunftsfamilie, der formale Bildungsstatus und in Bezug auf Rechtsextremismus auch das Geschlecht. Diese Differenzierung ist mit Blick auf bildungspolitische Maßnahmen bedeutsam. Zwar muss die Situation der politischen Bildung an berufsbildenden Schulen insgesamt verbessert werden, aber es sollten auch Schwerpunktsetzungen erfolgen bei den Lerngruppen, die von Prozessen sozial ungleicher politischer Lern- und gesellschaftlicher Machtchancen bisher besonders negativ betroffen sind.

Entgegen sozialer Vorurteile sind Jugendliche mit einem geringen formalen Bildungsstand und niedrigem sozioökonomischem Hintergrund durchaus an Politik interessiert. Dieses Interesse entfaltet sich aber vor allem an Themen, die sie selbst betreffen, wie soziale Ungleichheit, Gerechtigkeitsfragen oder das Engagement im Stadtviertel, dem sozialen Nahraum. Politische Bildung kann an diesen Interessen ansetzen, muss allerdings auch darauf achten, dass sie Lernende nicht zugleich auf ihre Lebenswelt begrenzt und aus zentralen, für politische Macht relevanten Wissensbeständen ausschließt.

Die politische Bildung ist ein sehr innovatives und dynamisches Feld. Konzepte für die politische Arbeit mit bildungsdiskriminierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegen vor, müssen aber hinsichtlich ihrer Wirkung intensiver erforscht werden. Politische Bildung ist jedoch kein Reparaturbetrieb: Sie kann gesellschaftliche Strukturen nicht ändern. Aber sie kann Teil der Veränderung sein, indem sie die Lernenden befähigt, für eigene politische Interessen einzustehen.

Zielgruppenspezifische Angebote

Eine Antwort der politischen Bildung auf sozial ungleiche Lernvoraussetzungen und -chancen sind zielgruppenspezifische Angebote. Diese stehen aufgrund ihrer möglichen etikettierenden Effekte in Teilen der Politikdidaktik in der Kritik, haben aber aus inklusiver Perspektive durchaus eine Berechtigung, etwa bei der Integration von Geflüchteten.

Deutschland ist ein Zuwanderungsland. Mit 30,6 Prozent ist die Gruppe der 18- bis 30-Jährigen im Jahr 2022 die größte Altersgruppe der Asylbewerber:innen. In der Regel sind es die berufsbildenden Schulen, die Geflüchtete und Migrant:innen ab dem 16. Lebensjahr aufnehmen. Heterogenität ist an berufsbildenden Schulen der Regelfall. Dennoch ist der Unterricht mit Geflüchteten für Politiklehrkräfte sehr fordernd. Nicht nur, weil die Lerngruppen in Bezug auf ihre politischen Sozialisationserfahrungen, Lernvoraussetzungen (Sprachkenntnisse, Lese- und Schreibfähigkeit, politische Begriffskonzepte) und politischen Kompetenzen äußerst heterogen sind, sondern auch, weil bei manchen Lernenden Traumata aus politischer Verfolgung oder der Flucht bestehen. Politische Bildung muss geschützte Räume für Diskurse öffnen und auf Wunsch der Lernenden ihre Erfahrungen zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse machen. Viele Geflüchtete verfügen über erhebliche Ressourcen, zum Beispiel kulturelle Kompetenzen oder politische Widerstandserfahrungen, die zur Stärkung der Resilienz herausgearbeitet werden können.

Zielsetzung ist die demokratisch-soziale Integration, worunter vor allem die Befähigung der Lernenden zu politischer Mündigkeit verstanden wird. Die Lernenden sollen die Fähigkeit erwerben, für ihre politischen und sozialen Interessen einstehen beziehungsweise diese auch kollektiv organisieren zu können (Empowerment). Das ist an berufsbildenden Schulen umso bedeutsamer, weil es sich um Menschen handelt, die am Arbeitsmarkt aufgrund ihrer oft geringen Kenntnisse des Arbeitsrechts, geringen Sprachkenntnisse, prekären Lebenslage oder auch fehlenden sozialen Netzwerke besonders vulnerabel sind und deshalb Gefahr laufen, öfter von Arbeitsrechtsverletzungen betroffen zu sein.

Aus politikdidaktischer Perspektive wäre es dringend geboten, die politische Arbeit und Bildungsprozesse in diesen Lerngruppen, die Bedarfe der Lernenden, die Lernvoraussetzungen und funktionierende Lehrkonzepte intensiver zu beforschen – nicht nur zur Qualitätssicherung, sondern auch, um die Erkenntnisse in den "Regelunterricht" zu überführen und in der Lehrkräfteausbildung und Dozent:innenqualifizierung aufzunehmen.

Pluralisierung der Gesellschaft und Kontroversität

Die Pluralisierung der Gesellschaft verläuft nicht ohne Konflikte, verstärkt sie sogar. Konflikte erzeugen Verunsicherung, können gesellschaftlich destabilisierend wirken, sozialen Wandel initiieren und sind oft das Ergebnis von sozialen Emanzipationsbewegungen. Es handelt sich um Besitzstands- und Umverteilungskonflikte hinsichtlich politischer Macht, sozialer Akzeptanz und materieller Ressourcen. Die gesellschaftliche Konflikthaftigkeit stellt an die Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen fachdidaktisch hohe Anforderungen. Die soziale, kulturelle und lebensweltliche Heterogenität der Schüler:innen ist deutlich ausdifferenzierter als am Gymnasium. Die Thematisierung gesellschaftlicher Konflikte trifft deshalb viel öfter auf Lernende, die betroffen sind oder sich durch die Pluralisierung und den sozialen Wandel bedroht fühlen. Die Befürchtung, dass die thematisierten gesellschaftlichen Konflikte im Unterricht kontrovers diskutiert werden, erzeugt offenbar – so Rückmeldungen aus der Praxis, empirische Daten fehlen – bei Lehrkräften ein Vermeidungsverhalten.

Im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung wird ausgeführt, dass der politische Unterricht an berufsbildenden Schulen vor allem auf die Vermittlung von Fakten ausgerichtet und selten diskursiv sei. Begründet wird dies mit der begrenzten Lernzeit oder der Orientierung an den Kammerprüfungen. Zum Tragen kommt mit Gewissheit auch die massive Marginalisierung soziologischer Inhalte in den Bildungsplänen, nicht nur, aber vor allem im berufsbildenden Bereich (abgesehen von denen für soziale Berufe) – ein Umstand, den der Soziologe Thomas Meyer angesichts gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen als paradox bewertet.

Diese Erklärungsansätze haben ihre Berechtigung, legitimieren den Zustand aber nicht. Das Vermeidungsverhalten der Lehrkräfte sollte intensiver in den Blick genommen werden, denn Möglichkeiten, kontroverse Themen aufzugreifen, bestehen trotz der Widrigkeiten. Bei den Lehrkräften, das gilt es zu überprüfen, entsteht offenbar der Eindruck, dass gesellschaftlich konfliktbehaftete Themen nicht mehr "unterrichtbar" sind. Die politische Bildung verfügt zwar über elaborierte lehrlernmethodische Konzepte, Konflikte im Unterricht zu thematisieren, dennoch erfolgt offenbar vielfach die Flucht in den sicheren Hafen der schlichten Faktenvermittlung.

Das Vermeiden konfliktbehafteter Themen im Unterricht ist mit Blick auf die gesellschaftliche Diskurs- und Konfliktfähigkeit bedenklich, weil den Schüler:innen vorenthalten wird, Diskurskompetenzen zu erwerben und zu lernen, Differenz auszuhalten oder gesellschaftliche Widersprüche mit sich und anderen auszuhandeln. Da sich die Problematik in diesem Ausmaß offenbar am Gymnasium nicht abzeichnet, kann die Entwicklung die Differenz hinsichtlich der Politikkompetenz und hiermit verbundener Chancen, eigene Interessen im politischen Prozess durchzusetzen, verstärken.

Resilienz stärken

Besonders auffallende Befunde neuerer empirischer Studien zu den politischen Einstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind die wachsende Zukunftsangst und das nachlassende Vertrauen in die gesellschaftliche Problemlösungsfähigkeit. In der "Vertrauensstudie 2022" gab mehr als ein Drittel der Befragten an, die Zukunft der Gesellschaft pessimistisch zu sehen. Der Autor der Studie, der Erziehungswissenschaftler Holger Ziegler, befürchtet einen Rückzug ins Private und Resignation. Politische Radikalisierung könnte eine weitere Reaktion sein.

Intensiver als bisher muss sich die politische Bildung nicht nur an berufsbildenden Schulen mit der Frage auseinandersetzen, wie sie die politische Resilienz, also die politische Widerstandsfähigkeit der Lernenden in Krisensituationen, stärken kann. Politische Bildung zielt vornehmlich auf die individuelle Förderung und Aktivierung. Viel stärker sollten jedoch kollektive politische Beteiligungsformen thematisiert und erprobt werden, um politischen Überforderungsgefühlen des Einzelnen entgegenzusteuern. Das kann lehrlernmethodisch über mehrere Verfahren erfolgen. Intensiviert werden sollte etwa die unterrichtliche Auseinandersetzung mit kollektiven Beteiligungsformen, auch in sozialen Medien, oder sozialen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung oder der Frauenbewegung. Am Beispiel sozialer Bewegungen lässt sich aufzeigen, dass gesellschaftliche Verhältnisse sich wandeln können, wenn Menschen kollektiv dafür eintreten. Die Veränderungsprozesse sind langwierig – auch diese Erkenntnis gehört zum politischen Lernen – aber im historischen Rückblick beachtlich.

Vor allem aber sollten Fragen betrieblicher Mitbestimmung, insbesondere auch unter den Bedingungen von "New Work", vertieft bearbeitet werden. Diese Thematik ist in den Bildungsplänen verankert. Politisches Engagement im Betrieb, etwa im Betriebsrat oder bei der Teilnahme an Streiks, eröffnet kollektive politische Wirksamkeitserfahrungen, durch die sich Beschäftigte insgesamt als fähig erleben können, gemeinsam politisch etwas zu erreichen. Aber auch die Erfahrung, Forderungen nicht durchsetzen zu können und Kompromisse einzugehen, sind wichtige demokratische Lernprozesse.

Die politischen Erfahrungen der Auszubildenden, insbesondere in Branchen mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, tragen dazu bei, dass das politische Interesse und Engagement in der Arbeitswelt zunimmt. Ausgehend von der Spillover-These wird sogar davon ausgegangen, dass politische Partizipation am Arbeitsplatz sich auch auf das Engagement in anderen Lebensbereichen auswirkt. Diese These muss bei den Auszubildenden jedoch noch tiefergehender empirisch überprüft werden.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die politische Bildung an berufsbildenden Schulen mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert ist. Die Rahmenbedingungen, diese zu bewältigen, sind jedoch denkbar schlecht.

Randständigkeit politischer Bildung

Im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung wird ausgeführt, dass sich Berufsschüler:innen zuweilen gar nicht an ein Unterrichtsfach mit politischer Bildungsausrichtung erinnern können. Dieser Befund erstaunt zunächst, weil politische Bildung in den Stundentafeln aller Ausbildungsgänge des berufsbildenden Systems verankert ist. Er verweist aber auf zentrale strukturelle Probleme des Lernbereiches.

Politische Bildung ist, selbst in Unterrichtsfächern wie Sozialkunde (und andere Fachbezeichnungen) im Vergleich zu ökonomischen und rechtlichen Inhalten deutlich unterrepräsentiert. Diese Randständigkeit spiegelt sich auch in den Lernfeldern wider, obwohl die Kultusministerkonferenz (KMK) fächerintegratives Lernen explizit fordert: "Die Mehrdimensionalität, die Handlungen in einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Lebens- und Arbeitswelt kennzeichnet (z.B. ökonomische, ökologische, rechtliche, naturwissenschaftliche, fach- und fremdsprachliche, kommunikative, soziale und ethische Aspekte), erfordert eine breitere Betrachtungsweise als die Perspektive einer einzelnen Fachdisziplin." Dieser bildungspolitische Anspruch wird bis heute nicht erfüllt. So mahnte der Soziologe Martin Baethge an, die "bisweilen zu eng arbeitsprozesslich gefasste[n] Berufsbilder und Qualifizierungskonzepte durch Reflexion komplexerer Arbeitssituationen und Einbeziehung systematischer Perspektiven der institutionellen und gesellschaftlichen Kontexte zu
erweitern".

Bildungspolitisch gibt es erste Initiativen, dieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat in den modernisierten Standardberufsbildpositionen 2020 zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit der beruflichen Bildung vier Gegenstandsfelder für die politische Bildung definiert:

  • Organisation des Ausbildungsbetriebes, Berufsbildung sowie Arbeits- und Tarifrecht

  • Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit

  • Umweltschutz und Nachhaltigkeit

  • Digitalisierung der Arbeitswelt

Aus politikdidaktischer Perspektive sind die BIBB-Gegenstandsfelder bedeutsam und eröffnen Chancen des politischen Lernens, sie sind aber überarbeitungsbedürftig. Zentrale Inhalte wie "Sozialstruktur und soziale Ungleichheit", sind unbedingt zu ergänzen – nicht nur, weil der Beruf ein zentrales Kriterium für den Sozialstatus und damit auch maßgeblich für Lebenschancen der Lernenden ist, sondern auch, weil es sich um ein gesellschaftliches Problem handelt, das in der Arbeitswelt wirksam ist und zudem durch Berufshandeln entsteht, reproduziert und verfestigt wird. Zudem sollten die Gegenstandsfelder breiter definiert und um Fragen der Demokratisierung der Arbeitswelt und des Berufshandelns sowie des gesellschaftlich-betrieblichen Miteinanders erweitert werden.

Die nachfolgende, von mir erstellte Auflistung "sozialwissenschaftlicher Gegenstandsfelder" für die politische Bildung an beruflichen Schulen erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, ergänzt aber zentrale, ausbildungsrelevante gesellschaftliche Problemfelder:

  • Rechtsverhältnisse (duales Ausbildungssystem, Arbeitsverhältnisse), Arbeits- und Tarifrecht, Konflikte und Miteinander in Betrieb und Gesellschaft (etwa Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit)

  • Beruf, Arbeit, Ethik, Identität und Gesellschaft

  • Sozialer und technologischer Wandel und soziale Bewegungen

  • Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit in der Gesellschaft, Arbeitswelt und durch Berufsarbeit

  • Nachhaltigkeit in verschiedenen Teillebenswelten der Lernenden

  • Internationale Verflechtungen: Globalisierung, internationale Organisationen, Migration, Konfliktregulierung

Es stellt sich jedoch grundlegend die Frage, ob die Standardberufsbildpositionen oder die Bildungspläne der Schlüssel zur Veränderung sind. Die meisten Bildungspläne, die von den Bundesländern herausgegeben werden, weisen durchaus, wenn auch randständig, politische Inhalte auf. Die Lehrkräfte haben also Möglichkeiten, politische Fragestellungen intensiver zu thematisieren, aber mit Blick auf die Kammerprüfungen verzichten viele hierauf, in der Erwartung, dass genuin politische Themen nicht prüfungsrelevant sind. Die skizzierte Problematik wird im Berufsbildungsbereich seit Jahrzehnten unter dem Begriff "Kammerprüfungssyndrom" diskutiert. Die Kammerprüfungen sind vermutlich der Schlüssel zur Veränderung im dualen System. Neben der Überarbeitung der Bildungspläne bedarf es vor allem detaillierterer, verbindlicher bildungspolitischer Vorgaben für die prüfungsrelevanten Fachausschüsse hinsichtlich der didaktischen Qualität und des Umfangs der zu berücksichtigenden politischen Inhalte in den Kammerprüfungen. Dieser Verantwortung entzieht sich die Bildungsverwaltung der Länder jedoch bisher.

Unternehmerisches Selbst als Bildungsziel?

Die modernisierten Standardberufsbildpositionen haben das Potenzial, die Bedeutung politischer Bildung an berufsbildenden Schulen wieder stärker in die berufspädagogische Debatte hineinzutragen. Kontrovers dürfte vor allem die bildungspolitische Intention diskutiert werden, die mit den Standardberufsbildpositionen verfolgt wird. Diese sollen einen Beitrag zur Förderung von demokratischen Kompetenzen leisten, "indem sie auf die Eigenverantwortung des Einzelnen am Arbeitsplatz im Sinne von Rechten, Pflichten sowie die Bedeutung von Prävention und Weiterbildung hinweisen". Auch in den Standards der KMK für Sozialkunde für gewerblich-technische Ausbildungsberufe schlägt sich ein Verständnis von sozialkundlicher Bildung nieder, das weniger auf die Befähigung zu politischer Mündigkeit zielt, sondern eher auf die Sozialisation der Lernenden hin zum "unternehmerischen Selbst". Als politisch gestaltende Akteur:innen in der Arbeitswelt und Gesellschaft werden die Lernenden in den KMK-Standards dagegen – mit Ausnahme bei der Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der betrieblichen Mitbestimmung – kaum adressiert.

Es liegen nur wenige Daten vor, wie und inwiefern diese bildungspolitische Ausrichtung sich auf der Unterrichtsebene auswirkt. Befragt nach den Fähigkeiten, die im Politikunterricht vermittelt werden, weisen die Berufsschüler:innen bei den Items "Im Politikunterricht lerne ich": "politische Probleme zu verstehen", "mir eine eigene politische Meinung zu bilden" und "wie ich mich an politischen und gesellschaftlichen Prozessen beteiligen kann" jedoch deutlich geringere Zustimmungswerte auf als Lernende am Gymnasium. Offen ist, inwieweit diese Befunde auch auf die geringere Unterrichtszeit an Berufsschulen zurückzuführen sind. Sie weisen dennoch auf einen Handlungsbedarf hinsichtlich der stärkeren Fokussierung des Unterrichts auf politische Partizipation und Mündigkeit.

Die politische Bildung an berufsbildenden Schulen ist mit einer Vielzahl institutioneller, politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen konfrontiert. Diese sind in überwiegender Anzahl nicht neu; sie zu lösen oder zumindest systematisch anzugehen, ist bisher aber nur unzureichend erfolgt. Es mangelt dabei nicht an Problembewusstsein in der Bildungspolitik, auch liegen belastbare Daten und tragfähige fachdidaktische und pädagogische Konzepte vor. Es fehlt letztlich am politischen Willen, nachhaltige Strukturen zu schaffen, um die Situation des Bildungsbereichs zu verbessern. Das ist umso erstaunlicher, weil kaum eine andere gesellschaftliche Institution mit so vielfältigen sozialen Integrationsleistungen konfrontiert ist wie diese Schulform.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bettina Zurstrassen, Politische Bildung, soziale Ungleichheit und Partizipation. Politische Bildung im Interesse bildungsdiskriminierter Kinder und Jugendlicher, in: Alexander Wohnig/Peter Zorn (Hrsg.), Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung – politische Bildung, Bonn 2022, S. 219–231.

  2. Vgl. Sabine Achour/Susanne Wagner, Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen. Bestandsaufnahme, Rückschlüsse, Handlungsempfehlungen, Berlin 2019, S. 58f., S. 69.

  3. Vgl. Mahir Gökbudak/Reinhold Hedtke, Ranking Politische Bildung in der Sekundarstufe I und in der Berufsschule im Bundesländervergleich 2020, Bielefeld 2021, S. 10.

  4. Vgl. Helmut Bremer, "Bildungsferne" und politische Bildung. Zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das politische Feld, in: Journal für politische Bildung 1/2015, S. 27–41.

  5. Vgl. Achour/Wagner (Anm. 2), S. 120, S. 182.

  6. Vgl. Lea Elsässer/Svenja Hense/Armin Schäfer, "Dem Deutschen Volke"? Die ungleiche Responsivität des Bundestags, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 27/2017, S. 161–180.

  7. Vgl. Josef Held/Rita Bröse, Rechtspopulismus und Rassismus im Kontext der Fluchtbewegung. Politische Orientierungen von jungen Auszubildenden in Baden-Württemberg, Berlin 2017, S. 44.

  8. Vgl. Marc Calmbach/Silke Borgstedt, "Unsichtbares" Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von "bildungsfernen" Jugendlichen, in: Wiebke Kohl/Anne Seibring (Hrsg.), "Unsichtbares" Politikprogramm? Themenwelten und politische Interessen von "bildungsfernen" Jugendlichen, Bonn 2012, S. 43–80, hier S. 66f.

  9. Vgl. Meira Levinson, No Citizen Left Behind, Cambridge 2014.

  10. Vgl. Deutscher Bundestag, 16. Kinder- und Jugendbericht – Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter und Stellungnahme der Bundesregierung, Drucksache 19/24200, 11.11.2020, S. 52.

  11. Vgl. Thomas Meyer, Von der Königin zum Aschenputtel. Zur paradoxen Marginalisierung soziologischer Bildung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen, in: Wohnig/Zorn (Anm. 1), S. 248–267.

  12. Vgl. Bepanthen-Kinderförderung, Vertrauensstudie. Angst vor der Zukunft? Jugendliche zwischen gesunder Skepsis und gefährlicher Neigung zu Verschwörungstheorien, 2022, S. 19f.

  13. Vgl. Jugendliche misstrauen Medien, 30. 8. 2022, Externer Link: https://taz.de/Vertrauensstudie-der-Uni-Bielefeld/!5877576.

  14. Vgl. Hans-Joachim von Olberg, Sozialisationsbedingungen als Faktoren für politisches Lernen in berufsbildenden Schulen, in: Walter Gagel/Dieter Menne (Hrsg.), Politikunterricht. Handbuch zu den Richtlinien NRW, Opladen 1988, S. 123–138, hier S. 132.

  15. Vgl. Anja Mays, Fördert Partizipation am Arbeitsplatz die Entwicklung des politischen Interesses und der politischen Beteiligung? Eine Analyse mit SOEP-Daten, in: Zeitschrift für Soziologie 6/2018, S. 418–437, hier S. 421.

  16. Vgl. 16. Kinder- und Jugendbericht (Anm. 10), S. 54.

  17. Vgl. ebd., S. 251.

  18. Sekretariat der Kultusministerkonferenz, Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe, 2021, S. 17, Externer Link: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_06_17-GEP-Handreichung.pdf.

  19. Martin Baethge, Der Beitrag der Arbeits- und Berufssoziologie zur Berufsbildungsforschung, 2018, S. 19f., Externer Link: http://www.bibb.de/dokumente/pdf/AG_BFN_Beitrag_Baethge.pdf.

  20. "Standardberufsbildpositionen sind bildungspolitische Steuerungsinstrumente, die in den Ausbildungsordnungen im Ausbildungsrahmenplan geregelt, während der gesamten Ausbildung zu vermitteln und als Mindestanforderungen zu verstehen sind. Das bedeutet, ihre Vermittlung ist von allen ausbildenden Betrieben sicherzustellen und im betrieblichen Ausbildungsplan aufzugreifen." Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Empfehlungen des Hauptausschusses des BIBB vom 17. November 2020 zur "Anwendung der Standardberufsbildpositionen in der Ausbildungspraxis", 2020, S. 1, Externer Link: http://www.bibb.de/dokumente/pdf/HA172.pdf.

  21. Vgl. Barbara Hemkes/Karsten Rudolf/Bettina Zurstrassen (Hrsg.), Handbuch Nachhaltigkeit in der beruflichen Bildung. Politische Bildung als Gegenstandsaufnahme, Frankfurt/M. 2022.

  22. Vgl. Anja Besand, Monitor politische Bildung an beruflichen Schulen. Stand und Perspektiven, Bonn 2014.

  23. Vgl. Dieter Hölterhoff, Politische und berufliche Bildung – Annäherung an ein vernachlässigtes Forschungsfeld, in: ders. (Hrsg.), Zur Berufsbildungspolitik der KMK. Beiträge zur Bedeutung der Beruflichen Bildung sowie der dazugehörigen politischen Bildung, Hamburg 2022, S. 145–272, hier S. 236, S. 254.

  24. Vgl. ebd. S. 258.

  25. BIBB (Anm. 20), S. 3, sowie BIBB-Hauptausschuss, Erläuterungen zu den modernisierten Standardberufsbildpositionen. https, Bonn 2021, Externer Link: http://www.bibb.de/dokumente/pdf/HA_Erlaeuterungen-der-integrativ-zu-vermittelnden-Fertigkeiten-Kenntnisse-und-Faehigkeiten.pdf.

  26. Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007.

  27. Vgl. Sekretariat der KMK (Anm. 18), S. 39ff.

  28. Vgl. Achour/Wagner (Anm. 2), S. 70.

  29. Vgl. Bettina Zurstrassen, Ökonomische Bildung und politische Steuerung: Der "Arbeitskraftunternehmer" und das "unternehmerische Selbst" als Bildungsziele, in: Helmut Bremer/Rolf Dobischat/Gabriele Molzberger (Hrsg.), Bildungspolitiken. Spielräume für Gesellschaftsformation in der globalisierten Ökonomie?, Wiesbaden, S. 197–218.

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ist Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld.
E-Mail Link: bettina.zurstrassen@uni-bielefeld.de