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Vielfalt organisieren | Politische Bildung | bpb.de

Politische Bildung Editorial Konjunkturen und Zäsuren. 70 Jahre Bundeszentrale für politische Bildung Politische Bildung in der und für die Demokratie. Über das Verhältnis von staatlichem Regieren und politischem Bilden Vielfalt organisieren. Herausforderungen für die nonformale politische Bildung Viele Herausforderungen, desolate Lage. Politische Bildung an berufsbildenden Schulen Konzepte politischer Nachhaltigkeitsbildung Intersektionale politische Bildung. Zur Relevanz von "race", "class" und "gender" in Bildungsprozessen Stärker im Verbund. Zum Verhältnis von politischer und ökonomischer Bildung

Vielfalt organisieren Herausforderungen für die nonformale politische Bildung

Helle Becker

/ 14 Minuten zu lesen

Die Diversifizierung der Gesellschaft fordert die nonformale, außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung heraus. Ist diese gut aufgestellt, um auf Bedarfe verschiedener Bevölkerungsgruppen und vielfältige Perspektiven adäquat reagieren zu können?

Die zunehmende Diversifizierung der Gesellschaft fordert die nonformale, also außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung heraus. Ist diese gut aufgestellt, um auf Bedarfe verschiedener Bevölkerungsgruppen und vielfältige Perspektiven in gesellschaftlichen Transformationsprozessen adäquat reagieren zu können? Birgt eine damit einhergehende notwendige Vervielfältigung politischer Bildung die Gefahr einer "Entgrenzung" der Profession? Um diese Fragen zu beantworten, sollen zunächst die Felder politischer Bildung und ihre Regeln ausbuchstabiert werden, um dann neuere Entwicklungen einzuordnen und daraus wiederum einige Empfehlungen abzuleiten.

Profession "politische Bildung"

"Politische Jugendbildung" und "Politische Erwachsenenbildung" sind als Praxisfelder nicht eindeutig bestimmbar. Anders als für die schulische politische Bildung gibt es weder eine ordnungspolitische Regelung, was Einrichtungen oder Organisationen politischer Bildung sind, noch einen geregelten Zugang zur Tätigkeit im Berufsfeld. Professionstheoretisch kann man allerdings davon ausgehen, dass es sich bei der nonformalen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung um Bereiche handelt, für die erstens ein gemeinsamer Wissensbestand rund um den Bildungsgegenstand "Politik, Politisches, Demokratie" identifiziert werden kann; in denen zweitens eine Tätigkeit wissensbasierte Kompetenzen voraussetzt, etwa ein Handlungsrepertoire nonformaler Bildungsarbeit; in denen drittens die darin Tätigen ein grundlegendes Qualitätsverständnis und bestimmte Werte teilen, also über ein "Berufsethos" und Standards wie den Beutelsbacher Konsens verfügen; und die viertens einen gewissen Grad an Organisation oder Institutionalisierung aufweisen.

Die "Profession (nonformale) politische Bildung" ist keine fixe Konstruktion, sondern konstituiert sich in einem ständigen Selbstvergewisserungsprozess, in dem Fachlichkeit und Rollenverständnis permanent verhandelt werden. Dabei agiert sie als öffentlich gefördertes Praxisfeld jedoch nicht im fachlichen Schonraum. Bereits in den 1950er Jahren entwickelten freie, also unabhängige und plurale Institutionen und Organisationen gemeinsame Vorstellungen zu Gegenständen, Formen und Qualitäten politischer Bildung – nicht nur untereinander, sondern auch entlang der Verrechtlichung, der öffentlichen Förderung und von Förderregeln. So ist es bis heute: Die Verständigung darüber, wie die vier genannten Punkte inhaltlich gefüllt werden, erfolgt innerhalb der verschiedenen Arbeitsfelder politischer Bildung im Austausch mit der Wissenschaft, aber in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Anforderungen. Für die Reflexion von Status und Rolle gegenwärtiger nonformaler politischer Bildung ist es zunächst wichtig, sich die aktuelle Praxis mit ihren Stärken und Schwächen näher anzuschauen.

Stärken politischer Bildung

Die Stärke nonformaler politischer Bildung liegt in der Vielfalt der Träger, die mit ihren verschiedenen konfessionell/religiösen, politischen und humanistisch-weltanschaulichen Werte- und Interessensorientierungen das plurale Grundverständnis unserer Demokratie repräsentieren. Die Vielfalt spiegelt sich auch in Einrichtungs- und Organisationsformen sowie themen- und handlungsbereichsspezifischen Schwerpunkten wider: Neben Bildungsstätten, Akademien, Instituten und Bildungswerken oder Volkshochschulen gibt es unzählige Einzelorganisationen mit verschiedenen thematischen oder methodischen Ausrichtungen. Aus Wertorientierungen und Organisationsformen werden programmatische Schwerpunkte, pädagogische Intentionen, bildungstheoretische Vorannahmen und spezifische Themen für politische Bildungsangebote oder -Gelegenheiten abgeleitet. Damit wird eine Vielzahl unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen angesprochen.

Dies ist umso relevanter, als Teilnehmende die Bildungsgelegenheiten freiwillig wahrnehmen. Die "Abstimmung mit den Füßen" entscheidet, ob Bildungsinhalte und -formen dem entsprechen, was Menschen in unserer Demokratie bewegt und wozu sie sich selbst bilden möchten. Freiwilligkeit und Subjektorientierung sind Ausgangspunkte, von denen aus politische Bildung Räume bietet, um öffentliche Angelegenheiten zu erkennen, kritisch zu reflektieren, kontrovers zu diskutieren sowie politische Meinungsprozesse und Handlungsoptionen anzuregen. Das heißt, es geht weder um Belehrung noch um Prävention im Sinne der Übernahme vorgegebener politisch intendierter Positionen. Politische Bildung bietet Bildungsgelegenheiten, die für eine liberale Demokratie zentral sind. Die damit zusammenhängende Notwendigkeit, Ziele, Bildungsgegenstände, Orte, Formate und Methoden politischer Bildung vielfältig zu gestalten und immer wieder neu zu reflektieren, kann als Stärke angesehen werden, weil auf aktuelle Bedarfe und Perspektiven von potenziellen Teilnehmenden reagiert werden kann beziehungsweise könnte.

Schwächen politischer Bildung

Die Schwäche nonformaler politischer Bildung liegt in Bedingungen, die Vielfalt und Innovation behindern können. Das beginnt damit, dass die Praxis darauf angewiesen ist, sich selbst zu professionalisieren. Es gibt keinen Studiengang für politische Bildner*innen, der als genuine Berufsvorbereitung dienen könnte – auch deshalb gibt es immer wieder Diskussionen um Leit- und Bezugsdisziplinen. Die wissenschaftliche Begleitung und Beforschung der Praxis nonformaler politischer Bildung an Universitäten und Hochschulen war und ist damit von Lehrstuhlinhaber*innen abhängig, die sich für das Thema interessieren. Dies ist nicht nur eine sehr überschaubare Anzahl, auch führt deren Anbindung an unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen – Politikwissenschaft, Politikdidaktik, Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Soziologie, Soziale Arbeit/‌‌Sozialpädagogik, Psychologie und andere – zu einer Vielzahl voneinander separierter Fachdiskurse. Mangels eigener Studiengänge wird die nonformale politische Bildung von der meist schulisch ausgerichteten Fachdidaktik bestimmt, die allerdings vor allem Erkenntnisse und Modelle für die Gestaltung von Unterricht bietet, weniger aber Antworten darauf gibt, was qualitätsvolle nonformale politische Bildung ausmacht. Die Frage nach geeigneten Reaktionen auf die sich vervielfältigenden Bedarfe in der Bevölkerung wird zwar gestellt, aber es fehlen der Praxis unabhängig ermittelte, wissenschaftliche Erkenntnisse über sich selbst, die Begründungen für Neuerungen liefern können.

Eine weitere Schwäche bringt die gewachsene Institutionalisierung mit sich, die nonformale politische Bildung in unterschiedliche, politisch reglementierte und gesellschaftlich akzeptierte (Praxis-)Felder politischer Bildung oder Subsysteme separiert. Einen systematischen Überblick über diese Felder bietet die "Topografie der Praxis politischer Bildung" der Fachstelle politische Bildung. Sie basiert auf Zuordnungen zu Rechtsbereichen, Politikressorts und Wissenschaftsdisziplinen, die erheblichen Einfluss auf den fachlichen Diskurs und das Handeln in diesen Feldern haben, ja sogar eine je eigene "Logik" der Praxisfelder begründen. Denn es ist nicht beliebig, sondern wesentlich, ob die Praxis zum Beispiel auf der Grundlage der rechtlichen Anerkennung als Weiterbildungsträger oder als Träger der freien Jugendhilfe fußt, welchen Politikbereichen sie zugeordnet ist, welche Finanzierungsbedingungen und Förderlogiken daran geknüpft sind und welche Wissenschaftsbezüge und Wissensbestände typischerweise Geltung haben. Diese Bezugspunkte und Bedingungen – die nicht bloß Rahmenbedingungen sind, weil sie der Arbeit nicht äußerlich bleiben – bieten der nonformalen politischen Bildung einerseits Rechts- und Finanzsicherheit, andererseits fesseln sie ihr Innovationspotenzial. Sie werden im Folgenden näher betrachtet.

Strukturen politischer Bildung

Die Differenzierung beginnt mit der Unterscheidung von Jugend- und Erwachsenenbildung, die bereits eher formal als fachlich begründet ist. Denn als politische Jugendbildung werden Aktivitäten gefördert, die bis zu 27-Jährige einbeziehen können; politische Erwachsenenbildung kann Menschen ab 16 Jahren umfassen. Fachlich lässt sich der große Überschneidungsbereich kaum begründen. Was sich dagegen begründen ließe, wären generationsübergreifende Bildungsmaßnahmen. Für die allerdings gibt es kaum Fördermöglichkeiten.

Die politische Erwachsenenbildung wird formal über Förderpolitik und -programme geeint, in der Regel unter dem Dach der Weiterbildungspolitik der Länder, teilweise als Bundesförderung über die Bundeszentrale für politische Bildung. Die politische Verortung "politischer Bildung" ist allerdings sehr unterschiedlich. Die Zuständigkeit liegt auf Bundesebene bei der Innenpolitik, in den Bundesländern zum Beispiel bei Schule und Berufsbildung (Hamburg) oder Wissenschaft und Kultur (Niedersachsen). Erweitert man den Blick auf Sonderprogramme, kommen förderpolitische Auflagen aus Ressorts wie Sozialpolitik, Engagementpolitik, Umweltpolitik und Sicherheitspolitik hinzu. Alle Förderungen sind mit speziellen Ansprüchen an die Praxis und oft an Anerkennungsverfahren (zum Beispiel als staatlich anerkannter Träger der politischen Erwachsenenbildung) verbunden. Sie betreffen nicht nur die Qualitätsstandards einzelner Maßnahmen, sondern auch die Einrichtungs- und Angebotsformen.

Die Orientierung auf die Fördergeber auf Landes- und Bundesebene spiegelt sich auch in den übergeordneten Organisationsformen wider. So kommen die aus den genuinen Förderprogrammen geförderten Träger politischer Bildung auf Landes- und Bundesebene bei der Bundeszentrale und den Landeszentralen für politische Bildung an Runden Tischen oder in ähnlichen Gremien zusammen. Fach- und Dachverbände politischer Bildung gibt es vor allem auf der Bundesebene. Damit sind die Diskussionen über aktuelle Entwicklungen, Qualitätsentwicklung und Lobbyarbeit auf die Landes- oder Bundesebene und auf die jeweilige Förderpolitik bezogen. Auf kommunaler Ebene ist die politische Erwachsenenbildung, sieht man von den Volkshochschulen ab, die überwiegend in kommunaler Trägerschaft sind, selten repräsentiert. Damit fehlen vor Ort Gremien und Anlässe, sich mit anderen Trägern, die ähnliche Bildungsanliegen oder andere Adressat*innenkreise einbringen, zu vernetzen, untereinander zu koordinieren und zu kooperieren.

Auch die politische Jugendbildung hat sich über Jahrzehnte als spezialisiertes Feld etabliert und eigene Professionalitätsvorstellungen, Orte, Formate, Methoden und Themen herausgebildet. Sowohl aus der eigenen wie aus der Perspektive anderer Felder der Jugendarbeit gilt die politische Jugendbildung damit als ein besonderer Bereich. Sie ist gleichzeitig rechtlich und förderpolitisch Teil der Kinder- und Jugendhilfe und wäre damit eigentlich Teil des kommunalen Gefüges der Jugendarbeit. Allerdings werden freie Träger der politischen Bildung wie Jugendbildungsstätten oder Bildungswerke nur selten aus der kommunalen Jugendförderung finanziert; sie erhalten Mittel aus eigener Bundes- und Landesförderung. Als Folge sind sie wenig bis gar nicht in die Zusammenarbeit der Jugendarbeit eingebunden oder auf kommunaler und landesweiter politischer Ebene präsent, etwa in Jugendhilfeausschüssen oder Arbeitsgemeinschaften, wie sie Paragraf 78 des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII vorsieht.

Die Abhängigkeit von diesen Verwaltungs- und Finanzlogiken hat Einfluss auf die Vielfalt und Flexibilität politischer Jugend- und Erwachsenenbildung. Will diese neue Adressat*innen erreichen, stehen gleich zwei Faktoren im Weg. Die oft geringe Einbindung in (zum Beispiel kommunalpolitische) Strukturen sowie mangelnde Präsenz in der Lebenswelt der Menschen vor Ort machen es erstens nicht einfach, Bedarfe zu ermitteln, schnell zu reagieren oder sich kooperativ zu organisieren. Zweitens zwingen die Regularien der Maßnahmenförderung die Träger, in einer Angebotslogik zu denken und zu planen. Das heißt, Konzepte und Eckpunkte zu Themen, Zeiten, Art und Alter der Teilnehmenden, Gruppengrößen, Formaten, Methoden, Lernzielen müssen weit im Voraus festgelegt werden. So richten sie ihre Angebote auf (ihnen bekannte) aktiv Suchende aus oder, die eigenen Grundregeln missachtend, auf nicht immer freiwillig Teilnehmende, zum Beispiel auf Schulen beziehungsweise Schüler*innen.

Folgerichtig tut sich politische Bildung schwer mit der Steuerungslogik von Politik, die von den Trägern immer wieder verlangt, neue "Zugänge" für ihre Kommstrukturen zu finden und entsprechende "Angebote" zu machen. Denn Kontakt, Zugänge und Zusammenarbeit zu anderen Adressat*innen als denjenigen, die von sich aus kommen, müssen mühsam gesucht und hergestellt werden. Dies ist erst recht problematisch, wenn die Gewinnung neuer Zielgruppen für wichtig erachtet wird, weil bestimmte Gruppen politische Bildung angeblich besonders nötig haben, oder Präventionsziele wie die Vorbeugung von Radikalisierung jeder Art leitend sind. Der Blick auf bestimmte Zielgruppen – sogenannte Benachteiligte, Politik- oder Bildungsferne, häufig konkret benannt als Arbeitslose, Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund, sozial und ökonomisch Abgehängte und so weiter – geht dann mit einer defizitären, normativen Bewertung einher. Diese Voraussetzung erleichtert das Verhältnis zu den so Angesprochenen nicht, ganz abgesehen davon, dass die sozialpolitische Begründung den Prinzipien einer nonformalen Bildung – Freiwilligkeit, Subjektorientierung, Selbstbildung – widerspricht.

Formen politischer Bildung, die in steter Kommunikation mit Adressat*innen nach deren Interessen konzipiert werden – offene Arrangements, die regelmäßig oder wenig vorgeplant zur Verfügung stehen, kurzfristige oder kurze Angebote, zum Beispiel ad hoc zu aktuellen Themen, aufsuchende Bildungsarbeit im Kontext oder in Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen und öffentlichen Bereichen wie Kultur/kulturelle Bildung, Gemeindearbeit, Stadtplanung oder Berufsbildung, die schon angesprochenen intergenerativen Angebote oder digitale Formen politischer Bildung –, sind häufig nur im Rahmen von Modellprojekten umsetzbar beziehungsweise finanzierbar.

Nicht verschwiegen werden soll, dass viele Träger und politische Bildner*innen ihre Arbeitsbedingungen habituell übernommen haben und Veränderungen, notgedrungen, oft nur in den Grenzen ihrer derzeitigen strukturellen, finanziellen und organisationalen Möglichkeiten denken (können). Dennoch gibt es Beispiele für viele kleine Fluchten, bei denen in den vergangenen Jahren eigenwillige Formate und Methoden, aufsuchende Einmischung, Kooperationen und Mischformen unter dem Radar politischer und wirtschaftlicher Zwänge umgesetzt wurden. Sie zeigen: Es sind vor allem die strukturellen Arbeitsbedingungen und weniger die Einfallslosigkeit der Akteure in der politischen Bildung, die eine Diversifizierung von Adressat*innenkreisen und Angeboten verhindern. Damit wird auch deutlich: Debatten über eine fachliche Weiterentwicklung und über strukturelle Arbeitsbedingungen sind kaum voneinander zu trennen.

Kein Wunder, dass politische Bildung, die in diesen Grenzen arbeiten muss, Schwierigkeiten hat, auf die fortschreitende Diversifizierung von Perspektiven und Interessen in der Gesellschaft zu antworten. Kein Wunder außerdem, dass sich neben diesen institutionalisierten Strukturen politischer Bildung andere Träger, Themen und Formate entwickelt haben, die auf vorhandene Bedarfe antworten und die sich in den "alten" Strukturen schwerlich organisieren lassen.

"Neue" alte Vielfalt

Während Debatten um Diversifizierung und Flexibilisierung politischer Bildung seit gut 30 Jahren geführt werden, ohne dass es einschlägige strukturelle Veränderungen gab, hat sich in anderen Bildungsbereichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen eine politische Bildung eigener Art ausgebildet. Sie schließt Lücken und leuchtet blinde Flecken aus, und macht so Interessen und Anliegen deutlich, die anderswo kaum Berücksichtigung fanden. Schon weil Anbieter*innen und Nutzer*innen hier häufig in Personalunion auftreten, können sie oft gezielter, schneller und vor allem adäquater auf Bedarfe von Beteiligten und Adressat*innen eingehen.

Bereits Anfang der 1980er Jahre kamen die Akteure aus den damals viel diskutierten "sozialen Bewegungen", die, verbunden mit politischem Engagement, neue Aktionsfelder der Erwachsenenbildung erschlossen. Nun machten auch Frauenbuchläden und Wissenschaftsläden, alternative Bildungswerke und soziokulturelle Zentren politische Bildungsangebote. Inzwischen repräsentieren Selbstorganisationen und thematisch orientierte Initiativen spezielle, bisher vernachlässigte Perspektiven und Themen, beispielsweise von Migrant*innen, Schwarzen Menschen, Muslim*innen, LGBTQ*, Sinti*zze und Rom*nja sowie anderen Gruppen. Viele dieser Organisationen und Einrichtungen arbeiten mit der eigenen Community und bewegen sich in eigenen Fachdebatten, außerhalb "etablierter" Fachdiskurse der politischen Bildung. Sie reklamieren dennoch eine Anerkennung als Akteure politischer Bildung – ein Anspruch, der nicht vorschnell mit Verweis auf angeblich fehlende professionelle Standards erledigt ist. Zur Erinnerung sei auf die genannten, keineswegs fixen, professionstheoretischen Kriterien verwiesen. Auch deswegen wird die Berücksichtigung von Vielfalt in der politischen (Erwachsenen-)Bildung, freilich erst seit wenigen Jahren und wieder nur in Form von Modellprojekten, inzwischen offensiv und selbstreflexiv thematisiert. Nun wird neben unterschiedlichen Vorstellungen dazu, was politische Bildung ist, kann oder soll, auch die Offenheit etablierter Strukturen, Organisation und Förderregularien befragt.

Noch deutlicher lässt sich die Diversifizierung politischer Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit, ausmachen. Hier war und ist politische Bildung seit 1961 in der Rahmengesetzgebung – damals im Gesetz zur Jugendwohlfahrt, heute im SGB VIII – als allgemeiner Auftrag verankert. Dieser hatte in Theorie und Praxis unterschiedliche Konjunkturen, wurde aber in den 1990er Jahren und in jüngerer Zeit wieder verstärkt theoretisch und praktisch relevant.

So bildeten sich in der Kinder- und Jugendarbeit eigene Formen politischer Bildung – und neuerdings, als quasi eigene Form politischer Bildung der Jugendarbeit, die sogenannte Demokratiebildung – aus. Gleichzeitig änderte sich der Blick auf Kinder und Jugendliche. Mit der Anerkennung der (Beteiligungs-)Rechte von Kindern und Jugendlichen, die sich bereits in der Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990 niederschlug, wurden diese als "vollwertige und grundsätzlich handlungsfähige Mitglieder einer Gesellschaft" eingestuft. Damit wurde Partizipation in der Jugendarbeit zu einem zentralen Thema, Anlass und Medium politischer Bildung. Beteiligung wurde der individuellen Beziehung(sgunst) entrissen und als öffentliches Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern beziehungsweise Jugendlichen verstanden, aus dem heraus gesellschaftlich (und politisch) relevante Regelungen verhandelt werden. In der Folge wurden theoretische Grundlagen und praktische Konzepte entwickelt, die die Perspektive von Kindern und Jugendlichen und deren politische Anliegen für sie selbst und andere erkennbar und reflektierbar machen.

Die Entwicklungen in der Kinder- und Jugendarbeit haben sich lange unbeachtet vom etablierten Fachdiskurs politischer Bildung vollzogen. Erst die Sachverständigenkommission zum 16. Kinder- und Jugendbericht thematisierte prominent, dass politische Bildung auch jenseits gewachsener Fachstrukturen in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe geboten wird, nachdem eine Expertise zeigte, dass sich in Jugendverbänden, Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, in Sportvereinen, Medienprojekten und der Jugendsozialarbeit ebenfalls Formen politischer Bildung finden. Dabei gibt es stark partizipationsbezogene Formen neben solchen, die auf bekannten Kriterien politischer Bildung basieren – von jugendtheoretischen sowie politik- und demokratietheoretischen Parametern bis zum Beutelsbacher Konsens.

Vielfalt organisieren

Politische Bildung ist also herausgefordert – nicht nur aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, sondern auch durch neue "Konkurrenz". Je mehr die Vielfalt politischer Bildung gefordert und sichtbar wird, umso mehr muss die anerkannte, "etablierte" politische Bildung ein Verhältnis zu den anderen Akteuren finden, die keinesfalls so neu sind, wie sie immer bezeichnet werden, und die auf der einen Seite wenig an Fachdiskursen und Strukturen der politischen Bildung teilhaben, andererseits über eigene Wissensbestände, Kontexte und Organisationsformen verfügen.

Die Frage, wie diese Vielfalt zu organisieren ist, steht unbeantwortet im Raum. Helfen sollen Sonderprogramme wie das vom Bundesfamilienministerium initiierte Förderprogramm "Demokratie leben!" oder das geplante "Demokratiefördergesetz". Dabei werfen beide Fragen auf. So fördert "Demokratie leben!" seit 2015 "zivilgesellschaftliches Engagement für ein vielfältiges und demokratisches Miteinander und die Arbeit gegen Radikalisierungen und Polarisierungen in der Gesellschaft". Das Programm ermöglicht Vieles, was die politische Bildung bisher nicht umsetzen konnte, von fachübergreifender und intergenerativer Arbeit bis zu kommunaler, landes- oder bundesweiter Vernetzung. Was im Prinzip eine gute Idee ist, produziert jedoch auch Verwerfungen: Denn "neue" Akteure, neue Strukturen und eine bessere finanzielle Ausstattung des Programms als herkömmliche Programme für politische Bildung haben "natürlich zu Konkurrenzen zwischen neuen und alten Trägern nicht nur der Jugend- und Bildungsarbeit geführt".

Mehr noch: Ein fachlich ausgewiesenes und erfahrenes Feld wie die politische Bildung, auf dessen Schultern lange allein die Aufgabe lastete, "Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu
stärken", bleibt weitgehend außen vor. Denn die drei zentralen Handlungsfelder des Programms – "Demokratie fördern", "Vielfalt gestalten" und "Extremismus vorbeugen" – haben zwar starke Überschneidungen mit Themen und Anliegen politischer Bildung, diese ist aber nicht explizit Programminhalt und -ziel. Wohl auch deshalb sind viele freie und öffentliche Träger der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung an den neu installierten Zusammenschlüssen auf kommunaler und Landesebene ("Partnerschaften für Demokratie", "Landes-Demokratiezentren") nicht beteiligt. So werden zwar bisher marginalisierte Organisationen und Projekte gestärkt, gleichzeitig aber scheint man die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und fachlicher und struktureller "Versäulung", Separierung und Parallelstrukturen Vorschub zu leisten. Will man die gegenwärtigen und künftigen gesellschaftlichen, politischen und fachlichen Herausforderungen annehmen, kann dies jedoch nur gemeinsam gehen: durch Öffnung, Austausch und Zusammenarbeit.

Das geplante "Demokratiefördergesetz", mit dem auch "Demokratie leben!" dauerhaft abgesichert werden soll, sollte dafür entsprechende Möglichkeiten vorsehen. Denn es bedarf gezielter Anstrengungen, alle Akteure politischer Bildung zusammenzubringen, um miteinander die Debatten darüber zu führen, was politische Bildung ausmacht, welche gemeinsamen fachlichen Nenner – auch gegenüber der Politik – unveräußerlich sind und wie die Vielfalt der Akteure produktiv für eine Vielfalt an Bildungsgelegenheiten für unterschiedliche Menschen genutzt werden kann. Dafür müssen vorhandene und neue Strukturen koordiniert, Austausch und Kooperation gefördert und (Förder-)Mittel vermehrt werden. Erfahrungen, wie diese Vielfalt – als Stärke – zu organisieren ist, liegen vor. Transfer für Bildung e.V. hat als unabhängige Plattform in den vergangenen Jahren unterschiedliche Tools und Formate für die politische Bildung entwickelt, mit denen Wissen aus verschiedenen Praxisfeldern und Wissenschaftsdisziplinen zugänglich gemacht sowie Austausch und Zusammenarbeit organisiert werden können. Wir können aus dieser Erfahrung heraus nicht sagen, dass es einfach ist. Aber es ist jede Anstrengung wert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Helle Becker, Wir Kellerkinder? Zur Geschichte der "Profession politische Bildung" in der außerschulischen Jugendbildung und der Erwachsenenbildung, in: Klaus-Peter Hufer/Dagmar Richter (Hrsg.), Politische Bildung als Profession, Bonn 2013, S. 49–63.

  2. Die Aufzählung lässt sich den drei Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses zuordnen, dem Kontroversitätsgebot, dem Überwältigungsverbot und der Ermöglichung, "eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren", siehe Externer Link: http://www.bpb.de/51310 .

  3. Vgl. Journal für politische Bildung 1/2020 zum Thema Bezugswissenschaften.

  4. Für einen Überblick siehe Externer Link: https://transfer-politische-bildung.de/transfermaterial/forschungslandkarte.

  5. Siehe Externer Link: https://transfer-politische-bildung.de/transfermaterial/topografie-der-praxis.

  6. Vgl. Helle Becker, Zwischen Freiraum und Prävention – Politische Jugendbildung, in: Kurt Möller/Florian Neuscheler/Felix Steinbrenner (Hrsg.), Demokratie gestalten! Herausforderungen und Ansätze für Bildungs- und Sozialarbeit, Stuttgart 2022, S. 114–124; dies., Im Niemandsland oder: Wie legitimiert sich außerschulische politische Kinder- und Jugendbildung? in: Alexander Wohnig/Peter Zorn (Hrsg.), Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung – politische Bildung, Bonn 2022, S. 29–40.

  7. Vgl. dies., Demokratiebildung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit (SGB VIII §11–13) – Studie. Materialien zum 16. Kinder- und Jugendbericht, München 2020.

  8. Beispiele sind die Maßnahmenförderung der Bundeszentrale für politische Bildung, der Kinder- und Jugendplan des Bundes oder Landesjugendförderpläne.

  9. Siehe zum Beispiel "Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken" des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten: Externer Link: http://www.adb.de/projekte/polyphon.

  10. Vgl. Becker (Anm. 7); Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, Auftrag und Anspruch politischer Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit, Berlin 2022.

  11. Bundesjugendkuratorium, Partizipation von Kindern und Jugendlichen – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, München 2009, S. 11.

  12. Vgl. Burkhard Müller/Susanne Schmidt/Marc Schulz, Wahrnehmen können. Jugendarbeit und informelle Bildung, Freiburg/Br. 2008; Benedikt Sturzenhecker/Thomas Glaw/Moritz Schwerthelm, Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern, Bde. 1–3, Gütersloh 2015–2020.

  13. Vgl. Becker (Anm. 7).

  14. Siehe Externer Link: http://www.demokratie-leben.de/das-programm/ueber-demokratie-leben.

  15. Benedikt Widmaier, Das Trilemma der Demokratieförderung, in: Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland 3/2022, S. 4.

  16. Siehe Externer Link: http://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Helle Becker für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und Geschäftsführerin von Transfer für Bildung e.V. sowie Leiterin von Expertise & Kommunikation für Bildung mit Lehraufträgen an der Technischen Hochschule Köln, der Hochschule Osnabrück und der Universität Hildesheim.
E-Mail Link: becker@transferfuerbildung.de