In Zeiten gesellschaftlicher Konflikte und Polarisierungen, die als Bedrohung für das demokratische Zusammenleben wahrgenommen werden, sind in der Öffentlichkeit regelmäßig Rufe nach einer Stärkung der politischen Bildung zu vernehmen. Politische Bildung soll hiernach dabei helfen, demokratische Werte zu festigen und der Entwicklung "extremistischer" Einstellungen vorzubeugen.
Demokratie(-begriff) und politische Bildung
So eingängig und selbstevident die Aufgabenstellung einer politischen Bildung in der und für die Demokratie erscheinen mag – die Bedeutung dieser Formel ist notorisch umkämpft, da sich sowohl "Demokratie" und "(politische) Bildung" als auch deren Verhältnis unterschiedlich bestimmen lassen. Innerhalb des Feldes der politischen Bildung wurden diese Auseinandersetzungen in unterschiedlichen soziohistorischen Konstellationen auf der Grundlage unterschiedlicher Demokratieverständnisse ausgetragen, woraus sich wiederum unterschiedliche Perspektiven auf die Aufgaben und Ziele der Profession ergeben.
So waren etwa die Debatten der 1970er Jahre beeinflusst von einem Konflikt innerhalb der Profession, der sich, schematisch zusammengefasst, entlang eines sozialen und eines liberalen Demokratieverständnisses aufspannen lässt: Während die eine Seite Demokratisierung als Ziel der politischen Bildung definierte, diese durch die Förderung gesellschaftspolitischen Handelns vorantreiben wollte und damit Demokratie als offenen Prozess begriff, argumentierte die andere Seite, dass dieses Selbstverständnis politischer Bildung die Mündigkeit der Lernenden untergrabe und sie überwältige. Wo auf der einen Seite mit dem Verweis auf ein Verständnis von sozialer Demokratie der Abbau von Ungleichheit als Aufgabe politischer Bildung erklärt wurde, galt dies auf der anderen Seite als ungerechtfertigter politischer Anspruch, der vom pädagogischen Denken und Handeln abgetrennt werden sollte.
Der Beutelsbacher Konsens, der 1976 aus dieser Kontroverse hervorging,
Hinzu kommt, dass sich innerhalb des Feldes der politischen Bildung bei allem Verbindenden auch unterschiedliche Verständnisse von politischer Bildung entwickelt haben, die nicht nur den divergierenden Bezügen zu Demokratietheorien und -verständnissen entspringen, sondern auch den unterschiedlichen Bezügen zu Gesellschafts- und Bildungstheorien. Unter Rekurs auf Gesellschaftstheorien in der Tradition der Kritischen Theorie und/oder materialistischer Theorien etwa wird die Überwindung aller (ungerechtfertigten) Herrschaftsverhältnisse als Ziel politischer Bildung definiert.
Derartige Aushandlungen des Verhältnisses von politischer Bildung und Demokratie sind dabei nicht autonome Angelegenheit der Profession. Sie finden statt in und werden beeinflusst von staatlichen Strukturen, die ihrerseits mit spezifischen Vorstellungen über "politische Bildung in der und für die Demokratie" aufwarten. Der demokratische Staat und politische Bildung sind wechselseitig aufeinander bezogen und voneinander abhängig, sodass die unterschiedlichen Orientierungen immer wieder aufeinanderprallen, sich zu manifesten Konflikten auswachsen und unvorhergesehene Dynamiken entfachen. Die Autonomie politischer Bildung als Profession konstituiert sich in eben diesem Verhältnis zu staatlichen Anrufungen, weshalb ihre Gestalt einem andauernden zeitlichen Wandel ausgesetzt ist.
Zwischen regieren und bilden
Für den Staat ist politische Bildung ein zentrales Instrument, mit dem er seine Bestandsvoraussetzungen zu sichern versucht: Er benötigt Bürger*innen, die sich der demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen und die Gestaltung des Gemeinwesens als kollektive Aufgabe wahrnehmen. Die Reproduktion eines demokratischen Fundaments ist vor allem auch die Produktion einer spezifischen Form des Bürger*in-Seins.
Politische Bildung ist jedoch nicht bloß passives Objekt derartiger Inanspruchnahmen, sondern eine ausdifferenzierte Profession, die einen Anspruch auf Autonomie erhebt und eigene Sichtweisen dahingehend besitzt, was es heißt, politisch urteils- und handlungsfähig zu sein.
Abstrakter formuliert, lässt sich diese inhärente Konflikthaftigkeit des Verhältnisses von demokratischem Staat und politischer Bildung auf spezifische Bereichslogiken zurückführen: die des Regierens und die des Bildens. Diesen Logiken sind wiederum Ambivalenzen und Paradoxien eingeschrieben – in der politischen Bildung die Dialektik von Herrschaft und Emanzipation,
Die Adressierung politischer Bildung durch staatliches Regieren kann als Inanspruchnahme gedeutet werden und in drei idealtypischen Modi stattfinden:
Inanspruchnahme als Stabilitätsgarantin: Politischer Bildung werden vom Staat Aufgaben und Ziele zugewiesen, die dem Erhalt des Status quo dienen. Die dabei transportierten Wissensbestände repräsentieren das, was aus staatlicher Sicht als "Wahrheit" und "Wesenskern" der Demokratie erscheint.
Inanspruchnahme als Feuerlöscher: Politische Bildung wird vom Staat mit dem Ziel der Krisenlösung angesprochen. In der Bearbeitung von gesellschaftlichen Entwicklungen, die von staatlicher Seite als akute Gefahren wahrgenommen werden, wird Erhalt fokussiert, zugleich aber werden Perspektiven für Neues eröffnet.
Inanspruchnahme als Innovatorin: Politische Bildung wird vom Staat angesprochen, um Innovationen hervorzubringen, etwa in Form politischer Beteiligungsprozesse, die wiederum der Legitimation und damit Absicherung der demokratischen Ordnung dienen sollen.
In Reaktion auf solche Versuche der staatlichen Inanspruchnahme eröffnen sich aufseiten der politischen Bildung unterschiedliche Ausdeutungs- und Anschlussmöglichkeiten. Dabei lassen sich wiederum drei idealtypische Reaktionsweisen unterscheiden:
Entgegnung als Affirmation: Politische Bildung fügt sich der staatlichen Inanspruchnahme, zum Beispiel aufgrund einer weitgehenden Komplementarität der Wissensbestände.
Entgegnung als Umdeutung: In Programmen, Konzepten und Projekten der politischen Bildung werden die staatlichen Ansprachen subversiv umgedeutet, um eigene Wissensbestände zur Geltung zu bringen.
Entgegnung als Widerspruch: Politische Bildung tritt der staatlichen Ansprache offensiv entgegen, mit dem Resultat einer manifesten konflikthaften Auseinandersetzung.
Die Formen staatlicher Inanspruchnahme und professioneller Entgegnung verbinden sich in unterschiedlichen historischen Phasen auf je spezifische Art und Weise. Dabei kommt es immer wieder – aufgrund des inhärent widersprüchlichen Verhältnisses der Bereiche gleichsam notwendigerweise – zu manifesten Konflikten. Als jüngstes Beispiel hierfür kann das aktuell diskutierte "Demokratiefördergesetz" gelten.
Politische Bildung, Demokratieförderung und Prävention
Beim Gesetz über die Verstetigung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, kurz: Demokratiefördergesetz, handelt es sich um die jüngste Initiative der Bundesregierung, einen gesetzlichen Auftrag im Bereich der sogenannten Demokratieförderung zu etablieren und die finanzielle Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen "Extremismus" zu verstetigen. Gegenwärtig (Anfang November 2022) liegt der Entwurf für ein Gesetz vor, das zu Beginn des Jahres 2023 in Kraft treten soll. Es geht zurück auf die letztlich am Widerstand der Unionsfraktion gescheiterten Pläne der letzten Großen Koalition (2017–2021), ein sogenanntes Wehrhafte-Demokratie-Gesetz zu verabschieden. Beide Gesetzesvorhaben sind unter anderem im Lichte der rechtsextrem und/oder rassistisch motivierten Anschläge auf den CDU-Politiker Walter Lübcke sowie in Halle an der Saale und in Hanau zu sehen. Vor diesem Hintergrund deutet sich bereits an, dass politische Bildung hier, in den obigen Kategorien gesprochen, in erster Linie als "Feuerlöscher" und "Stabilitätsgarantin" angesprochen wird.
Zwischen der ursprünglichen und der aktuellen Gesetzesinitiative hat sich die Tonlage verändert. In den ersten Zeilen der Eckpunkte für ein Wehrhafte-Demokratie-Gesetz vom Mai 2021 hieß es, die Bundesregierung wolle "Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz unserer Demokratie sowie zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts" ergreifen; Aufgabe sei es, eine "wehrhafte, selbstbewusste, aufrechte und widerstandsfähige Demokratie" zu fördern, was bedeute, dass "Staat und Bürgergesellschaft gemeinsam handeln".
Das negativistische Moment der Verhinderung ist freilich auch im aktuellen Vorhaben nicht gänzlich verschwunden. Es lebt hier fort in der Figur der Prävention, die auch schon in der ersten Gesetzesinitiative anzutreffen war, etwa wenn die Absicht formuliert wird, "Projekte im Bereich der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention" finanziell und verlässlich unterstützen zu wollen.
Diese Ausrichtung ist Ausdruck eines grundlegenden Merkmals gegenwärtiger gesellschaftlicher Zeitlichkeit. In der "Risikogesellschaft" erscheint die Zukunft als Reservoir an möglichen Bedrohungen,
Es sind diese Formen der staatlichen Inanspruchnahme, denen sich die Profession und Praxis der politischen Bildung gegenwärtig gegenübersieht. In Reaktion auf die Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung und der Ausweitung des Förderprogramms "Demokratie leben!" des Bundesfamilienministeriums ist im Feld der politischen Bildung ein Verständigungsprozess darüber entbrannt, in welchem Verhältnis politische Bildung zu Prävention steht. Dieser Verständigungsprozess knüpft an Debatten in angrenzenden Professionen an, etwa in der Sozialen Arbeit, in der seit Langem über die Eignung des Präventionsparadigmas diskutiert wird und die Prävention als Aufgabenbeschreibung mehrheitlich ablehnt.
Im Selbstverständigungsprozess der politischen Bildung werden dabei nicht nur Fragen nach den Konsequenzen einer Verankerung des Präventionsparadigmas oder die Gefahr der "Versicherheitlichung" der politischen Bildung – als Teil eines sogenannten positiven Verfassungsschutzes und der sogenannten wehrhaften Demokratie – kritisch reflektiert. Vielmehr geht es auch um eine Auseinandersetzung mit dem Demokratieverständnis, das der Präventionsidee eingeschrieben ist. Der staatlichen Anrufung, als präventiver "Feuerlöscher" und als "Stabilitätsgarantin" zu fungieren, entgegnet die Profession der politischen Bildung nicht einheitlich, aber mehrheitlich in den Modi der "Umdeutung" und des "Widerspruchs": In Programmen, Konzepten und Projekten der politischen Bildung werden die staatlichen Ansprachen adaptiert, um eigene Wissensbestände zur Geltung zu bringen. Gleichzeitig treten viele Akteur*innen der politischen Bildung und auch angrenzender Handlungsfelder der staatlichen Ansprache offensiv entgegen und evozieren damit eine manifeste konflikthafte Auseinandersetzung.
Argumentiert wird insbesondere, Prävention entspräche nicht dem Bildungs- und Demokratieverständnis politischer Bildung, weshalb die Engführung von politischer Bildungsarbeit auf das Moment der Verhinderung abzulehnen sei. Auch hier zeigt sich der Dualismus von Affirmation und Widerspruch: Während – stark vereinfachend skizziert – die staatliche Anrufung auf einen Erhalt der gegenwärtigen Demokratie im Angesicht von (antizipierten) Bedrohungen zielt, pocht die Entgegnung politischer Bildung auf die Offenheit von Bildungsprozessen und damit auf die Offenheit von Demokratie. Die Aufgabenstellung "politische Bildung in der und für die Demokratie" wird also begleitet von einem Konflikt um die Demokratie selbst.
Fazit
So wichtig die Reflexion über Risiken und vorbeugende Maßnahmen ist: Politische Bildung geht darin nicht auf.
Prävention.
An den gegenwärtigen Debatten um das Demokratiefördergesetz zeigt sich das spannungsreiche Wechselverhältnis von staatlicher Inanspruchnahme durch Anrufungen der politischen Bildung und professioneller Entgegnung, wobei unterschiedliche Verständnisse von Demokratie aufeinanderprallen. Diese Interaktion aus Inanspruchnahmen und Entgegnungen lässt sich als Konflikt um Demokratie in der Demokratie deuten. Die so einleuchtende Aufgabenstellung einer "politischen Bildung in der und für die Demokratie" muss, soll sie nicht als reine Pathosformel gelesen werden,