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Antidemokratische Bilder der Demokratie | bpb.de

Antidemokratische Bilder der Demokratie Berlin, Washington, Brasília

Charlotte Klonk

/ 17 Minuten zu lesen

2020, 2021 und 2023 griffen wütende Protestierende Parlamente in Berlin, in Washington und in Brasília an. Ihre Bildsprache speist sich aus historischer, oft autoritär geprägter Symbolik, die durch ihren Einsatz im vermeintlich demokratischen Widerstand neue Geltung gewinnt.

Das Wetter war durchwachsen, aber die Stimmung ausgelassen. Am 18. September 2010 kamen über 50000 Menschen in Berlin zusammen, um gegen die Atompolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Überall wehten gelbe Fahnen mit roten Anti-Atom-Sonnen, dazwischen grüne, rote, orange Erkennungszeichen und Transparente der damaligen politischen Opposition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Linken und Piratenpartei. Seifenblasen und Luftballons flogen durch die Luft, man tanzte Samba oder zur Technomusik eines Berliner Clubkollektivs. Menschen in weißen Schutzanzügen trommelten auf gelben Atommülltonnen, übergroße, selbstgebastelte Karikaturen der Kanzlerin Angela Merkel wurden zur Schau gestellt, und an einer Ecke sang ein Chor mehrstimmig Protestlieder. Zum Auftakt am Berliner Hauptbahnhof spielte die niederländische Band "Bots" ihre Hits aus dem Programm der Protestbewegungen der 1980er Jahre. Veteranen der Friedens- und Antiatomkraftbewegung konnten an ihre früheren Erfahrungen anknüpfen, während Jüngere das Kollektiverlebnis um neue Aktionen und Zeichen erweiterten.

(picture-alliance/dpa, Tobias Kleinschmidt) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Regierungsviertel sollte am frühen Nachmittag vollständig von Demonstranten umzingelt werden. Die Abschlussveranstaltung war ursprünglich auf der Rasenfläche vor dem Reichstagsgebäude geplant, doch das Verwaltungsgericht Berlin hatte am Tag zuvor das Betretungsverbot der Versammlungsbehörde aufgrund des Grünflächenschutzes bestätigt. Dennoch drangen gegen Nachmittag zahlreiche Demonstrierende auf das Gelände, besetzten die Treppe vor dem Parlamentsgebäude und belagerten die Wiese davor (Abbildung 1). Unter dem Giebel mit der Aufschrift "Dem deutschen Volke" wurde "Wir sind das Volk" und "Abschalten" skandiert. Zunächst sah die Polizei noch zu, doch je länger die Belagerung andauerte, desto mehr Antikonflikt-Teams und Hundertschaften erschienen auf dem oberen Treppenabsatz vor dem Eingang zum Gebäude. Schließlich forderte am frühen Abend einer der Veranstalter dazu auf, die Treppe zu verlassen. "Bilder von Festgenommenen", rief er ins Megafon, "kann heute keiner mehr brauchen". Fotos der Besetzung erschienen am nächsten Tag in vielen Zeitungen. Eine Welle der Empörung riefen sie jedoch nicht hervor.

Berlin, 29. August 2020

Ganz anders fiel die Reaktion zehn Jahre später aus, als rund 400 Menschen am Ende einer Berliner Großdemonstration gegen die Covid-19-Maßnahmen der Bundesregierung die Absperrungen vor der Treppe des Reichstagsgebäudes überwanden und zum Eingang des Parlaments rannten. Warum nach diesem Ereignis nun Schockwellen durch das Land gingen, zeigen die Bilder. Statt der freundlichen Antiatomkraftsonne auf gelbem Grund flatterte am 29. August 2020 für eine knappe halbe Stunde nach 19.00 Uhr die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreichs in vielfacher Ausführung vor dem Bundestag (Abbildung 2). Sie war von 1933 bis 1935 auch die Nationalflagge des NS-Regimes. Auf manchen Exemplaren war der preußische Adler zu sehen, auf anderen das Eiserne Kreuz aus der Kriegsflagge vor 1919, das zu Beginn des "Dritten Reiches" auch auf der Fahne der Reichswehr abgebildet war. Dazwischen tauchten deutsche, US-amerikanische und russische Fahnen neben Flaggen der Bundesländer auf, aber auch ein einsames Regenbogenbanner mit der Aufschrift "Peace". Auf einem Plakat wurde mit "DDR 1989 = BRD 2020" ein Bezug zur friedlichen ostdeutschen Revolution am Ende des 20. Jahrhunderts hergestellt und auf einem großen Transparent war in altdeutscher Schrift "Schluß mit den Völkermordsystemen" zu lesen, zu denen angeblich, so wurde ebenfalls behauptet, die UN, die EU, die NATO, die BRD, NGOs und "NWOs" gehören, Letzteres ein unter Verschwörungstheoretikern verbreitetes Akronym für die "Neue Weltordnung", in der angeblich die politischen Eliten unter jüdischem Einfluss im Geheimen damit beschäftigt sind, die Nationen abzuschaffen, um eine autoritäre Weltregierung zu etablieren. Keines dieser Bildzeichen ist verboten, doch zusammengenommen verweisen sie auf einen großen Anteil an rechtsextremistischen Überzeugungen unter den Beteiligten. Die schwarz-weiß-rote Fahne mit Eisernem Kreuz dient zum Beispiel in rechtsradikalen Kreisen als Ersatz für die verbotene Hakenkreuzfahne, die Reichsflagge innerhalb der Reichsbürgerbewegung als Ausdruck für die Überzeugung, dass die Bundesrepublik kein legitimer und souveräner Staat in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches sei.

(picture-alliance, NurPhoto / Achille Abboud) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Eine Person hielt vor den Treppen des Reichstagsgebäudes eine Fahne mit einem von einer weißen Friedenstaube angeschnittenen "Q" hoch, die auf der einen Seite die US-amerikanische, auf der anderen die russische Flagge zeigte. Darunter war "Give us free" zu lesen, eine Abwandlung des berühmten Satzes "Give us, us free" aus dem Antisklavereifilm "Amistad" (1997) des US-amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg. In diesem Kontext jedoch steht der Satz nicht für Antirassismus, sondern für die unter Reichsbürgern verbreitete Behauptung, dass Deutschland immer noch von den Alliierten besetzt sei und sich weiterhin im Kriegszustand befinde. Die Frau mit Dreadlocks, die gegen 19.00 Uhr die von dem ehemaligen NPD-Politiker und heutigen Reichsbürger Rüdiger Hoffmann angemeldete Bühne vor den abgesperrten Reichstagtreppen betreten hatte und die Versammelten zum Überwinden der Barrieren aufforderte, trug ebenfalls ein T-Shirt mit dem Q-Emblem von Q-Anon. Diese Bewegung formierte sich 2017 im Internet in den USA und verbreitet seitdem aberwitzige Verschwörungstheorien von der angeblichen kinderblutsaugerischen Weltelite, die vermeintlich "autochthone" Nationalvölker vernichten will. Die Frau aus der Eifel war, wie später bekannt wurde, Mitarbeiterin des Webportals "Qlobal Change" mit Verbindungen in die Reichsbürgerszene. Aufgeregt schrie sie ins Mikrofon:

Wir schreiben heute hier in Berlin Weltgeschichte. Guckt euch um, die Polizei hat die Helme abgesetzt. (…) Trump ist in Berlin. Die ganze Botschaft ist hermetisch abgeriegelt, wir haben fast gewonnen. Wir brauchen Masse. Wir müssen jetzt beweisen, dass wir alle hier sind. Wir gehen da drauf und holen uns heute, hier und jetzt unser Hausrecht. Wir werden gleich diese komischen kleinen Dinger brav niederlegen und gehen da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben.

Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie am Schluss siegesgewiss den Menschen zurief, dass man gewonnen habe.

Für Außenstehende ist die Botschaft mehr oder weniger unverständlich und kryptisch, doch für das Milieu aus Q-Anon-Anhängern und Reichsbürgern, das sich vor der Bühne versammelt hatte, war sie klar und deutlich. Bereits am Nachmittag hatte der damalige Partner der Frau gezielt an anderen Orten der Demonstration um Unterstützung vor dem Reichstagsgebäude mit dem Gerücht geworben, dass der damalige US-Präsident Donald Trump in der Stadt sei und nur auf ein Zeichen für die Befreiung warte. Entsprechend hatten sich zu diesem Zeitpunkt vor allem jene auf dem Platz der Republik versammelt, die wussten, was mit dieser Ankündigung gemeint war. Unter Q-Anon-Anhängern und Reichsbürgern steht Trump für den Systemwechsel, durch den man sich von den "korrupten Welteliten" befreien wird. Mit dem Gerücht, dass er nach Deutschland gekommen sei, um den von den Reichsbürgern konstatierten fehlenden Friedensvertrag zu unterzeichnen und jetzt nur noch darauf warte, dass die Versammelten die Bundesregierung übernähmen, ermächtigte man sich selbst im Rausch der Stunde zum Staatsstreich.

Von einem "Sturm auf den Reichstag" war bereits in den Tagen zuvor im Internet die Rede gewesen. "Sturm" und damit die Erinnerung an Hitlers Sturmabteilung (SA) ist eine beliebte Bezeichnung in rechtsextremistischen Kreisen und soll daher hier vermieden werden, denn letztlich ging es am 29. August 2020 auch gar nicht um einen irgendwie planvollen Umsturzversuch, sondern um die Generierung von symbolischen Bildern. Dass sich hinter der Menschenmenge auf dem obersten Absatz der Treppenstufen sehr unschöne Szenen abspielten, weil einige der Demonstranten die mangelnde Polizeipräsenz ausnutzten, um sich gewaltsam Zugang zum Gebäude zu verschaffen, und nur mit Mühe von fünf Polizisten und einer Polizistin zurückgehalten werden konnten, wird in den meisten Videos und Fotografien, die anschließend zirkulierten, nicht sichtbar. Der Zugführer der Bereitschaftspolizei, der rechtzeitig vor Ort war, berichtete später, dass seine Beamten beim Versuch, auf den Treppenabsatz zu gelangen, Fußtritten und Faustschlägen ausgesetzt waren und in den ersten entscheidenden Minuten nur zunächst drei, dann sechs Sicherheitskräfte oben ankamen. Zugleich zeigt die Tatsache, dass es wenigen Polizisten gelang, die Situation unter Kontrolle zu halten und die Treppen nach Eintreffen weiterer Kollegen und Kolleginnen mit Hilfe von Pfefferspray innerhalb von knapp 20 Minuten zu räumen, wie gering die tatsächliche Bedrohung für den demokratischen Staat an diesem Tag war. Der symbolische Sieg jedoch, den die Angreifer anschließend feierten, ist nicht zu unterschätzen. In ihren Augen, so zeigen erschütternde Interviews, die "Die Zeit" drei Jahre später mit einigen Teilnehmenden führte, ist der Versuch der Einnahme des Parlaments nicht gescheitert. Im Gegenteil, er hat sie ermutigt: Man ist schon einmal so weit gekommen und kommt unter Umständen das nächste Mal noch weiter.

In Protesten bestärkt sich eine Gruppe in ihrem Anliegen vor allem durch die physische Präsenz von vielen mehr oder weniger gleichgesinnten Menschen im öffentlichen Raum. Mit den Bildern von den Ereignissen, die die Teilnehmenden zugleich in Echtzeit in Umlauf bringen, bekräftigt man das mit dem Anliegen verbundene Wir-Gefühl, das Stärke und Bedeutung vermittelt. So auch am 29. August 2020 vor dem Reichstagsgebäude: Mit urdemokratischen Mitteln wie dem Protest wurden Bilder geschaffen, die sich letztlich gegen die Demokratie richteten. Überall war an diesem Tag auch die Parole "Wir sind das Volk" zu hören und die Behauptung, dass man im Namen der Volkssouveränität Widerstand gegen ein unrechtmäßiges Regime leiste. Das erwähnte Plakat mit dem Bezug zur friedlichen Revolution von 1989 brachte nichts anderes zum Ausdruck. Im Unterschied jedoch zum Skandieren dieses legendären Satzes während der ersten Massenproteste in der DDR 1989 und später auf den Treppenstufen des Reichstagsgebäudes während der Antiatomkraftdemonstration von 2010 stand am 29. August 2020 nicht die Überzeugung im Vordergrund, dass das Volk von den Regierenden gehört werden muss, sondern der Wunsch nach einem Systemwechsel.

Nach der Demonstration in Berlin begannen einige Mitglieder der Reichsbürgerbewegung sogenannte Wahlkommissionen für "Fürstentümer" in den Ländern einzurichten, um einen Staat im Staat zu errichten. Auch der im Dezember 2022 in Frankfurt festgenommene Heinrich XIII. Prinz Reuß, der mutmaßlich mit einer Bande von Reichsbürgern einen tatsächlichen Coup plante, gehörte zu dieser Gruppe. Man redet von Wahl und Verfassung, aber meint einen Umsturz der repräsentativen Demokratie zugunsten eines autokratischen, nicht mehrheitlich legitimierten Regimes. Seit einigen Jahren ziehen rechtsextreme Organisationen zusammen mit den Reichsbürgern regelmäßig zum Hambacher Schloss in Rheinland-Pfalz, um das Hambacher Fest von 1832 als Sinnbild der frühen deutschen Demokratiebewegung für sich zu reklamieren, denn so, wie damals gegen die Fürstenherrschaft protestiert wurde, wähnt man sich heute abermals im Widerstand gegen die Regierung. Auch hier sind die antidemokratischen Bilder der Demokratie, die dabei in Umlauf gebracht werden, entscheidend. Erst durch sie wird die Botschaft verbreitet. Eine in vielen kleinen Gruppen über das Land verstreute Gemeinschaft formiert sich dadurch symbolisch. Die Reichsflaggen und Deutschlandfahnen im umgedrehten Farbverlauf als Signal für die falsche Regierung oder in korrekter Anordnung mit schwarzem Streifen oben als Ausdruck der wahren nationalen Gesinnung bilden dabei die Erkennungszeichen – ein Bild im Bild.

Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut in der Demokratie und verfassungsrechtlich geschützt. Das Volk darf und soll sich Gehör verschaffen können. Aus diesem Grund hatte die rot-grüne Regierung 1999 das Gesetz des Bannkreises um das Parlament abgeschafft, das seit 1955 bestand. Heute gibt es nur noch einen sogenannten befriedeten Bezirk im Regierungsviertel. Es darf dort protestiert werden, wenn die Arbeit des Parlaments nicht gestört wird, und so werden vor dem Bundestag in der Regel Demonstrationen an Wochenenden erlaubt. Um die Wende zum 21. Jahrhundert war man sich noch sicher, dass die liberale Demokratie im Streit der Systeme und nach dem Untergang der Sowjetunion gewonnen hatte. Mittlerweile aber sind in der ganzen Welt autokratische Demokratien und Regime wieder auf dem Vormarsch und entsprechende Bestrebungen auch in jenen Ländern zu beobachten, in denen die liberale Demokratie tief verwurzelt schien.

Mit den Bildern vom schwarz-weiß-roten Flaggenmeer auf den Stufen des Reichstagsgebäudes am 29. August 2020 gelangten sie erstmals ins breite Bewusstsein der Bevölkerung in Deutschland. Doch die Aufnahmen multiplizierten sich nicht nur über die herkömmlichen Medien und Bildagenturen, sondern auch über Facebook, Instagram, Telegram und andere Plattformen im Internet. Während in den öffentlichen Medien ein Aufschrei durch das Land ging, entstand in den sozialen Medien innerhalb mancher Gruppen ein Gefühl der Stärke, das über Organisationen wie Q-Anon in die ganze Welt getragen wurde.

Washington, D.C., 6. Januar 2021

Es dauerte nicht lang, bis der nächste Angriff auf ein Parlament in einer westlichen Demokratie folgte. Dieses Mal stand das Mutterland der Staatsform, die Vereinigten Staaten von Amerika, im Fokus. Vier Monate nach dem Ansturm auf das deutsche Parlament liefen mehrere tausend Menschen in Washington, D.C. nach einer Rede des noch amtierenden US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump zum Kapitol. Um die tausend Personen drangen mit Gewalt zu einem Zeitpunkt in das Parlament ein, als hier gerade der Senat und das Repräsentantenhaus förmlich begonnen hatten, die Wahlniederlage des Idols der Eindringlinge zu bestätigen. Zwar hielt sich der Sachschaden in Grenzen, aber am Ende des Tages gab es vier Tote.

Die Bilder vom Angriff auf das Kapitol gingen während der fast vier Stunden der Belagerung live um die Welt und lösten eine Schockwelle aus, nicht etwa weil es noch nie eine Erstürmung eines Parlaments durch wütende Protestierende in der Geschichte gegeben hätte – im Gegenteil, die Liste ist lang –, sondern weil sie im Land einer der ältesten und institutionell am besten etablierten Demokratien unvorstellbar schien. Wie bereits in Berlin, so wurde auch der Platz vor dem Kapitol am 6. Januar 2021 nach der Durchbrechung der Barrikaden mit einem Meer an Flaggen und Fahnen überschwemmt (Abbildung 3). Während auf den Demonstrationen der Klima- oder der Black-Lives-Matter-Bewegung in den Monaten zuvor selbstgebastelte Pappschilder dominiert hatten, bezeugten die Anhänger Trumps, die seinem Aufruf gefolgt waren, nicht nur Loyalität zu ihrem Anführer, sondern auch zu ihrem Land. Überall waren amerikanische Nationalflaggen zwischen den ebenfalls in den Nationalfarben gehaltenen Trump-2020-Wahlkampfbannern zu sehen. In den USA sind die rot-weiß-blauen "Stars and Stripes" im Alltag omnipräsent. An diesem Tag aber wurden sie wieder zum Feldzeichen: Mit der Insignie der demokratisch verfassten Republik zog man in den Kampf gegen eine ihrer grundlegenden Spielregeln, die Anerkennung der Wahlniederlage.

(picture-alliance/AP, Jose Luis Magana) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Zu sehen waren an diesem Tag neben den zahlreichen Nationalflaggen auch Fahnen mit Verweisen auf die Gründungsjahre der US-amerikanischen Republik, darunter die gelbe sogenannte "Gadsden Flag" mit Bezug zur Amerikanischen Revolution, die erste Nationalflagge, die sogenannte "Betsy Ross Flag" von 1777, sowie ein Banner mit der Aufschrift "We the people", dem berühmten Anfang der amerikanischen Verfassung. Die an der Erstürmung beteiligte paramilitärische Gruppe der Three Percenters zeigte die Nationalflagge in Abwandlung mit einer römischen Drei im Kreis der Sterne, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass zwischen 1760 und 1776 nur drei Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit des Landes in den Krieg gezogen seien, eine kleine Minderheit, die damals für die Nation gekämpft hat, so wie angeblich heute wieder.

Zu verstehen ist dieser ostentative Rückbezug auf die Amerikanische Revolution nur vor dem Hintergrund der enorm politisierten Auseinandersetzung um die Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Ende 2019 hatte das "New York Times Magazine" ein multimediales Publikationsunternehmen mit dem Titel "1619 Project" initiiert, in dem das Datum der ersten Ankunft afrikanischer Sklaven in Nordamerika zum verdrängten Ursprungsmoment der wahren Geschichte des Landes erklärt wurde. Trump reagierte umgehend und setzte eine Kommission ein, die die traditionelle Bedeutung von 1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung, als Gründungsmoment in der Erinnerungskultur der Nation verteidigen sollte. Entsprechend wurde am 6. Januar 2021 immer wieder "1776 or never" skandiert und Fahnen mit der Aufschrift "1776 2.0" tauchten in der Menge auf. Zum Ausdruck gebracht wurde damit nicht mehr und nicht weniger als die Forderung nach einem Zurückdrehen der Geschichte in die Zeit vor der Demokratisierung der Demokratie, als politische Mitbestimmung und vollumfängliche Rechte nur frei geborenen weißen Männern zustanden. Vergessen gemacht werden sollten dadurch auch die Niederlage der Südstaaten im Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 und die sukzessiven Errungenschaften der gleichen Rechte, die darauf folgten. Auf häufig publizierten Fotos des 6. Januar sieht man, wie ein Mann die Flagge der Konföderierten Staaten von Amerika durch das Parlamentsgebäude trägt. Mit ihr wird heute in der Regel die vermeintliche Überlegenheit der weißen Menschen zum Ausdruck gebracht, eine Überzeugung, die auch von anderen maßgeblich an der Erstürmung des Kapitols beteiligten rechtsradikalen paramilitärischen Gruppen wie den Oath Keepers, den Proud Boys und den Three Percenters vertreten wird.

Gegen den Anführer der Oath Keepers wurde zwei Jahre nach dem Angriff die bisher höchste Strafe von 18 Jahren Gefängnis verhängt, weil ihm im Unterschied zu anderen Beteiligten nachgewiesen werden konnte, dass er mit seiner Gruppe maßgeblich an einer Verschwörung mit dem Ziel beteiligt war, die demokratisch legitimierte Regierung zu stürzen. Der durch seine auffällige Erscheinung mit nacktem Oberkörper und Hörnerkopfschmuck vielfach fotografierte und dadurch vielleicht bekannteste Eindringling am 6. Januar 2021, der selbsternannte Q-Anon-Schamane Jacob Chansley, erhielt hingegen mit 41 Monaten wie viele andere Beteiligte eine relativ geringe Gefängnisstrafe für die Verhinderung einer Amtshandlung, ein Verurteilungsgrund, der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof für nicht rechtmäßig erklärt wurde. Ob Trump sich für seine Rolle an diesem Tag vor einem Gericht verantworten muss, steht nach einem weiteren Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 1. Juli 2024 mehr denn je in den Sternen.

Bereits einen Monat nach dem Angriff auf das Parlament in Washington, D.C. kamen die Senatoren im Sitzungssaal, aus dem sie am 6. Januar fliehen mussten, zusammen, um über ein Impeachment gegen den ehemaligen Präsidenten zu beraten, das dann am Widerstand der Republikaner scheiterte. Der für den Zweck dieses parlamentarischen Strafverfahrens von den Anklägern aus dem Repräsentantenhaus erstellte Zusammenschnitt von Filmaufnahmen zirkuliert noch immer im Internet. Er zeigt erschreckende Szenen der Gewaltbereitschaft gegen die Sicherheitskräfte und des Hasses auf die Parlamentarier und ihre Arbeit. Dennoch hat eine repräsentative Umfrage der "Washington Post" in Zusammenarbeit mit der University of Maryland drei Jahre nach den Ereignissen ergeben, dass nur noch knapp über die Hälfte der US-Amerikaner die gewaltsame Parlamentserstürmung für eine Bedrohung der Demokratie halten. In den sozialen Medien zirkulieren unter den Trump-Anhängern nicht die Bilder des Zusammenschnitts aus dem parlamentarischem Verfahren, sondern Aufnahmen der Teilnehmenden selbst, die den Eindruck bestätigen, den die Umfrage belegt: Immer mehr Menschen sind in den USA in diesen Tagen davon überzeugt, dass der Angriff auf das Parlament eine legitime Protestaktion war. Trump fordert seitdem immer lautstarker Gerechtigkeit für die Verurteilten des 6. Januar, die er als "politische Gefangene" bezeichnet.

Brasília, 8. Januar 2023

Als am 8. Januar 2023 Tausende Anhänger des gerade abgewählten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gewaltsam in das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt eindrangen, war in vielen Kommentaren von einer US-amerikanischen Blaupause die Rede, die mit den Bildern vom Kapitol zwei Jahre zuvor in Umlauf gebracht worden sei. Hier wie dort gab es Wahlbetrugsvorwürfe des unterlegenen Kandidaten, hier wie dort erschienen die Sicherheitskräfte vor Ort zunächst vollkommen überfordert, und hier wie dort bestimmten die Farben der Nationalflagge das Bild (Abbildung 4). Dass es Verbindungen gab zwischen Bolsonaros Team und Steve Bannon, dem ehemaligen Berater von Trump und Strippenzieher rechtsextremer Netzwerke, die auch hinter dem Angriff auf das Kapitol standen, war bekannt.

(picture-alliance/AP, Eraldo Peres) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Im Unterschied jedoch zu den Trumpisten in Washington, D.C. gab es vergleichsweise wenig ausbuchstabierte Botschaften auf den Transparenten in Brasília. Das Äquivalent zu den "Trump 2020"-Fahnen und "Make America Great Again" fehlte. Stattdessen wurde auf der Dachkante der eleganten Kuppel des von Oscar Niemeyers Ende der 1950er Jahre entworfenen Parlamentsgebäudes ein Transparent entrollt, auf dem der Quellcode zu den Wahlmaschinen verlangt wurde. Andere forderten mit Bannern und durch Anbringen von Graffiti, dass das Militär intervenieren solle, um den Willen des Volkes durchzusetzen, das angeblich durch Wahlbetrug seiner Macht beraubt worden sei. Die Wut auf die Symbole der Demokratie entlud sich an diesem Tag umso zerstörerischer. Die Randalierenden fluteten das Kongressgebäude und plünderten den dahinter liegenden Palast des Präsidenten und den Obersten Gerichthof. Mobiliar wurde zertrümmert, noch von Niemeyer in Auftrag gegebene Kunstwerke wurden zerstochen, Vitrinen mit historischen Dokumenten und Staatsgeschenken eingeschlagen, Halterungen aus den Wänden gerissen und auf Wandbehänge uriniert. Die von Niemeyer entworfenen Gebäude setzten mit ihrer äußerlichen Offenheit, der Äquivalenz ihrer Glieder und dem harmonischen Ausbalancieren der verschiedenen Teile Standards für die Architektur der Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Zerstörungswut brachten die Protestierenden in Brasília nicht mehr und nicht weniger als ihre Verachtung für die hier Architektur gewordenen demokratischen Werte wie Gleichwertigkeit, Zugänglichkeit und Ausgleich zum Ausdruck.

Wie zuvor am 29. August 2020 in Berlin und am 6. Januar 2021 in Washington, D.C. berief man sich in Brasília eine Woche nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, als der alte schon nicht mehr im Land war, auf den urdemokratischen Grundsatz, dass die Macht vom Volk ausgeht und gegen seinen Willen nicht regiert werden darf. In allen drei Fällen war das jedoch eine unerhörte Anmaßung, die nur durch Konspirationstheorien oder Wahlfälschungsvorwürfe autosuggestiv plausibel erscheinen konnte.

Nachwirkung

Während in den USA die Erinnerung an die lauernde Gefahr für die Demokratie, die in diesen Ereignissen ihr Angesicht zeigte, zunehmend schwindet, hat die Aufarbeitung in Deutschland mit den Prozessen um die Reichsbürgerverschwörung 2024 an Fahrt aufgenommen. In Brasilien ist sie weit fortgeschritten. Präsident Lula da Silva hat den 8. Januar zum "Tag der Demokratie" erklärt, und der brasilianische Museumsverband hat die Errichtung eines Museums der Demokratie angekündigt, denn noch ist in diesem Land, wie die Forderungen beim Angriff auf das Parlament gezeigt haben, die Erinnerung an die Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) wach und lebendig und ihre Wiederkehr kein so abwegig erscheinender Gedanke wie die Wiederkehr oder Etablierung einer Tyrannei in der Bundesrepublik Deutschland und den USA.

Die Bilder, die am 29. August 2020 in Berlin, am 6. Januar 2021 in Washington, D.C. und am 8. Januar 2023 in Brasília entstanden sind, bleiben ambivalent. Während sie für die einen von der realen Gefahr für die Demokratie zeugen, verstärken sie für die anderen den Wunsch nach einem Systemwechsel. Je nachdem in welchen virtuellen Foren man unterwegs ist, bekommt man eine andere Auswahl präsentiert. Das alle Ereignisse verbindende Element aber ist Donald Trump. Welche Deutung der Bilder sich letztlich durchsetzen kann, wird nicht unerheblich davon abhängen, ob er erneut zum US-Präsidenten im November 2024 gewählt wird.

ist Professorin für Kunst und Neue Medien am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin.