Das Wetter war durchwachsen, aber die Stimmung ausgelassen. Am 18. September 2010 kamen über 50000 Menschen in Berlin zusammen, um gegen die Atompolitik der Bundesregierung zu demonstrieren.
Das Regierungsviertel sollte am frühen Nachmittag vollständig von Demonstranten umzingelt werden. Die Abschlussveranstaltung war ursprünglich auf der Rasenfläche vor dem Reichstagsgebäude geplant, doch das Verwaltungsgericht Berlin hatte am Tag zuvor das Betretungsverbot der Versammlungsbehörde aufgrund des Grünflächenschutzes bestätigt. Dennoch drangen gegen Nachmittag zahlreiche Demonstrierende auf das Gelände, besetzten die Treppe vor dem Parlamentsgebäude und belagerten die Wiese davor (Abbildung 1). Unter dem Giebel mit der Aufschrift "Dem deutschen Volke" wurde "Wir sind das Volk" und "Abschalten" skandiert.
Berlin, 29. August 2020
Ganz anders fiel die Reaktion zehn Jahre später aus, als rund 400 Menschen am Ende einer Berliner Großdemonstration gegen die Covid-19-Maßnahmen der Bundesregierung die Absperrungen vor der Treppe des Reichstagsgebäudes überwanden und zum Eingang des Parlaments rannten.
(picture-alliance, NurPhoto / Achille Abboud) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
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Eine Person hielt vor den Treppen des Reichstagsgebäudes eine Fahne mit einem von einer weißen Friedenstaube angeschnittenen "Q" hoch, die auf der einen Seite die US-amerikanische, auf der anderen die russische Flagge zeigte. Darunter war "Give us free" zu lesen, eine Abwandlung des berühmten Satzes "Give us, us free" aus dem Antisklavereifilm "Amistad" (1997) des US-amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg. In diesem Kontext jedoch steht der Satz nicht für Antirassismus, sondern für die unter Reichsbürgern verbreitete Behauptung, dass Deutschland immer noch von den Alliierten besetzt sei und sich weiterhin im Kriegszustand befinde. Die Frau mit Dreadlocks, die gegen 19.00 Uhr die von dem ehemaligen NPD-Politiker und heutigen Reichsbürger Rüdiger Hoffmann angemeldete Bühne vor den abgesperrten Reichstagtreppen betreten hatte und die Versammelten zum Überwinden der Barrieren aufforderte, trug ebenfalls ein T-Shirt mit dem Q-Emblem von Q-Anon. Diese Bewegung formierte sich 2017 im Internet in den USA und verbreitet seitdem aberwitzige Verschwörungstheorien von der angeblichen kinderblutsaugerischen Weltelite, die vermeintlich "autochthone" Nationalvölker vernichten will. Die Frau aus der Eifel war, wie später bekannt wurde, Mitarbeiterin des Webportals "Qlobal Change" mit Verbindungen in die Reichsbürgerszene. Aufgeregt schrie sie ins Mikrofon:
Wir schreiben heute hier in Berlin Weltgeschichte. Guckt euch um, die Polizei hat die Helme abgesetzt.
Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie am Schluss siegesgewiss den Menschen zurief, dass man gewonnen habe.
Für Außenstehende ist die Botschaft mehr oder weniger unverständlich und kryptisch, doch für das Milieu aus Q-Anon-Anhängern und Reichsbürgern, das sich vor der Bühne versammelt hatte, war sie klar und deutlich. Bereits am Nachmittag hatte der damalige Partner der Frau gezielt an anderen Orten der Demonstration um Unterstützung vor dem Reichstagsgebäude mit dem Gerücht geworben, dass der damalige US-Präsident Donald Trump in der Stadt sei und nur auf ein Zeichen für die Befreiung warte.
Von einem "Sturm auf den Reichstag" war bereits in den Tagen zuvor im Internet die Rede gewesen.
In Protesten bestärkt sich eine Gruppe in ihrem Anliegen vor allem durch die physische Präsenz von vielen mehr oder weniger gleichgesinnten Menschen im öffentlichen Raum. Mit den Bildern von den Ereignissen, die die Teilnehmenden zugleich in Echtzeit in Umlauf bringen, bekräftigt man das mit dem Anliegen verbundene Wir-Gefühl, das Stärke und Bedeutung vermittelt. So auch am 29. August 2020 vor dem Reichstagsgebäude: Mit urdemokratischen Mitteln wie dem Protest wurden Bilder geschaffen, die sich letztlich gegen die Demokratie richteten. Überall war an diesem Tag auch die Parole "Wir sind das Volk" zu hören und die Behauptung, dass man im Namen der Volkssouveränität Widerstand gegen ein unrechtmäßiges Regime leiste. Das erwähnte Plakat mit dem Bezug zur friedlichen Revolution von 1989 brachte nichts anderes zum Ausdruck. Im Unterschied jedoch zum Skandieren dieses legendären Satzes während der ersten Massenproteste in der DDR 1989 und später auf den Treppenstufen des Reichstagsgebäudes während der Antiatomkraftdemonstration von 2010 stand am 29. August 2020 nicht die Überzeugung im Vordergrund, dass das Volk von den Regierenden gehört werden muss, sondern der Wunsch nach einem Systemwechsel.
Nach der Demonstration in Berlin begannen einige Mitglieder der Reichsbürgerbewegung sogenannte Wahlkommissionen für "Fürstentümer" in den Ländern einzurichten, um einen Staat im Staat zu errichten. Auch der im Dezember 2022 in Frankfurt festgenommene Heinrich XIII. Prinz Reuß, der mutmaßlich mit einer Bande von Reichsbürgern einen tatsächlichen Coup plante, gehörte zu dieser Gruppe.
Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut in der Demokratie und verfassungsrechtlich geschützt. Das Volk darf und soll sich Gehör verschaffen können. Aus diesem Grund hatte die rot-grüne Regierung 1999 das Gesetz des Bannkreises um das Parlament abgeschafft, das seit 1955 bestand. Heute gibt es nur noch einen sogenannten befriedeten Bezirk im Regierungsviertel.
Mit den Bildern vom schwarz-weiß-roten Flaggenmeer auf den Stufen des Reichstagsgebäudes am 29. August 2020 gelangten sie erstmals ins breite Bewusstsein der Bevölkerung in Deutschland. Doch die Aufnahmen multiplizierten sich nicht nur über die herkömmlichen Medien und Bildagenturen, sondern auch über Facebook, Instagram, Telegram und andere Plattformen im Internet. Während in den öffentlichen Medien ein Aufschrei durch das Land ging, entstand in den sozialen Medien innerhalb mancher Gruppen ein Gefühl der Stärke, das über Organisationen wie Q-Anon in die ganze Welt getragen wurde.
Washington, D.C., 6. Januar 2021
Es dauerte nicht lang, bis der nächste Angriff auf ein Parlament in einer westlichen Demokratie folgte.
Die Bilder vom Angriff auf das Kapitol gingen während der fast vier Stunden der Belagerung live um die Welt und lösten eine Schockwelle aus, nicht etwa weil es noch nie eine Erstürmung eines Parlaments durch wütende Protestierende in der Geschichte gegeben hätte – im Gegenteil, die Liste ist lang –,
(picture-alliance/AP, Jose Luis Magana) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
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Zu sehen waren an diesem Tag neben den zahlreichen Nationalflaggen auch Fahnen mit Verweisen auf die Gründungsjahre der US-amerikanischen Republik, darunter die gelbe sogenannte "Gadsden Flag" mit Bezug zur Amerikanischen Revolution, die erste Nationalflagge, die sogenannte "Betsy Ross Flag" von 1777, sowie ein Banner mit der Aufschrift "We the people", dem berühmten Anfang der amerikanischen Verfassung. Die an der Erstürmung beteiligte paramilitärische Gruppe der Three Percenters zeigte die Nationalflagge in Abwandlung mit einer römischen Drei im Kreis der Sterne, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass zwischen 1760 und 1776 nur drei Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit des Landes in den Krieg gezogen seien, eine kleine Minderheit, die damals für die Nation gekämpft hat, so wie angeblich heute wieder.
Zu verstehen ist dieser ostentative Rückbezug auf die Amerikanische Revolution nur vor dem Hintergrund der enorm politisierten Auseinandersetzung um die Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Ende 2019 hatte das "New York Times Magazine" ein multimediales Publikationsunternehmen mit dem Titel "1619 Project" initiiert, in dem das Datum der ersten Ankunft afrikanischer Sklaven in Nordamerika zum verdrängten Ursprungsmoment der wahren Geschichte des Landes erklärt wurde.
Gegen den Anführer der Oath Keepers wurde zwei Jahre nach dem Angriff die bisher höchste Strafe von 18 Jahren Gefängnis verhängt, weil ihm im Unterschied zu anderen Beteiligten nachgewiesen werden konnte, dass er mit seiner Gruppe maßgeblich an einer Verschwörung mit dem Ziel beteiligt war, die demokratisch legitimierte Regierung zu stürzen. Der durch seine auffällige Erscheinung mit nacktem Oberkörper und Hörnerkopfschmuck vielfach fotografierte und dadurch vielleicht bekannteste Eindringling am 6. Januar 2021, der selbsternannte Q-Anon-Schamane Jacob Chansley, erhielt hingegen mit 41 Monaten wie viele andere Beteiligte eine relativ geringe Gefängnisstrafe für die Verhinderung einer Amtshandlung, ein Verurteilungsgrund, der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof für nicht rechtmäßig erklärt wurde.
Bereits einen Monat nach dem Angriff auf das Parlament in Washington, D.C. kamen die Senatoren im Sitzungssaal, aus dem sie am 6. Januar fliehen mussten, zusammen, um über ein Impeachment gegen den ehemaligen Präsidenten zu beraten, das dann am Widerstand der Republikaner scheiterte. Der für den Zweck dieses parlamentarischen Strafverfahrens von den Anklägern aus dem Repräsentantenhaus erstellte Zusammenschnitt von Filmaufnahmen zirkuliert noch immer im Internet. Er zeigt erschreckende Szenen der Gewaltbereitschaft gegen die Sicherheitskräfte und des Hasses auf die Parlamentarier und ihre Arbeit. Dennoch hat eine repräsentative Umfrage der "Washington Post" in Zusammenarbeit mit der University of Maryland drei Jahre nach den Ereignissen ergeben, dass nur noch knapp über die Hälfte der US-Amerikaner die gewaltsame Parlamentserstürmung für eine Bedrohung der Demokratie halten.
Brasília, 8. Januar 2023
Als am 8. Januar 2023 Tausende Anhänger des gerade abgewählten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gewaltsam in das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt eindrangen, war in vielen Kommentaren von einer US-amerikanischen Blaupause die Rede, die mit den Bildern vom Kapitol zwei Jahre zuvor in Umlauf gebracht worden sei.
(picture-alliance/AP, Eraldo Peres) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
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Im Unterschied jedoch zu den Trumpisten in Washington, D.C. gab es vergleichsweise wenig ausbuchstabierte Botschaften auf den Transparenten in Brasília. Das Äquivalent zu den "Trump 2020"-Fahnen und "Make America Great Again" fehlte. Stattdessen wurde auf der Dachkante der eleganten Kuppel des von Oscar Niemeyers Ende der 1950er Jahre entworfenen Parlamentsgebäudes ein Transparent entrollt, auf dem der Quellcode zu den Wahlmaschinen verlangt wurde. Andere forderten mit Bannern und durch Anbringen von Graffiti, dass das Militär intervenieren solle, um den Willen des Volkes durchzusetzen, das angeblich durch Wahlbetrug seiner Macht beraubt worden sei. Die Wut auf die Symbole der Demokratie entlud sich an diesem Tag umso zerstörerischer. Die Randalierenden fluteten das Kongressgebäude und plünderten den dahinter liegenden Palast des Präsidenten und den Obersten Gerichthof. Mobiliar wurde zertrümmert, noch von Niemeyer in Auftrag gegebene Kunstwerke wurden zerstochen, Vitrinen mit historischen Dokumenten und Staatsgeschenken eingeschlagen, Halterungen aus den Wänden gerissen und auf Wandbehänge uriniert. Die von Niemeyer entworfenen Gebäude setzten mit ihrer äußerlichen Offenheit, der Äquivalenz ihrer Glieder und dem harmonischen Ausbalancieren der verschiedenen Teile Standards für die Architektur der Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Zerstörungswut brachten die Protestierenden in Brasília nicht mehr und nicht weniger als ihre Verachtung für die hier Architektur gewordenen demokratischen Werte wie Gleichwertigkeit, Zugänglichkeit und Ausgleich zum Ausdruck.
Wie zuvor am 29. August 2020 in Berlin und am 6. Januar 2021 in Washington, D.C. berief man sich in Brasília eine Woche nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, als der alte schon nicht mehr im Land war, auf den urdemokratischen Grundsatz, dass die Macht vom Volk ausgeht und gegen seinen Willen nicht regiert werden darf. In allen drei Fällen war das jedoch eine unerhörte Anmaßung, die nur durch Konspirationstheorien oder Wahlfälschungsvorwürfe autosuggestiv plausibel erscheinen konnte.
Nachwirkung
Während in den USA die Erinnerung an die lauernde Gefahr für die Demokratie, die in diesen Ereignissen ihr Angesicht zeigte, zunehmend schwindet, hat die Aufarbeitung in Deutschland mit den Prozessen um die Reichsbürgerverschwörung 2024 an Fahrt aufgenommen. In Brasilien ist sie weit fortgeschritten. Präsident Lula da Silva hat den 8. Januar zum "Tag der Demokratie" erklärt, und der brasilianische Museumsverband hat die Errichtung eines Museums der Demokratie angekündigt, denn noch ist in diesem Land, wie die Forderungen beim Angriff auf das Parlament gezeigt haben, die Erinnerung an die Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) wach und lebendig und ihre Wiederkehr kein so abwegig erscheinender Gedanke wie die Wiederkehr oder Etablierung einer Tyrannei in der Bundesrepublik Deutschland und den USA.
Die Bilder, die am 29. August 2020 in Berlin, am 6. Januar 2021 in Washington, D.C. und am 8. Januar 2023 in Brasília entstanden sind, bleiben ambivalent. Während sie für die einen von der realen Gefahr für die Demokratie zeugen, verstärken sie für die anderen den Wunsch nach einem Systemwechsel. Je nachdem in welchen virtuellen Foren man unterwegs ist, bekommt man eine andere Auswahl präsentiert. Das alle Ereignisse verbindende Element aber ist Donald Trump. Welche Deutung der Bilder sich letztlich durchsetzen kann, wird nicht unerheblich davon abhängen, ob er erneut zum US-Präsidenten im November 2024 gewählt wird.