Repräsentative Demokratien erfordern allgemeine Wahlen und die Vertretung der Interessen unterschiedlicher Gruppen im Parlament. Mit dem Grundprinzip politischer Gerechtigkeit ist schwer vereinbar, bestimmte Personen und Gruppen dauerhaft von politischer Teilhabe auszuschließen und sie damit als Bürger:innen "zweiter Klasse" zu behandeln.
Das Zuwanderungsgesetz des Jahres 2005 besiegelte den Wandel von einer reflexhaften Abwehr- zu einer konstruktiven Integrationspolitik, bei der es auch darum geht, "Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben [zu] ermöglichen und für Toleranz, Akzeptanz und wechselseitigen Respekt zwischen den Bevölkerungsgruppen [zu] werben".
Die Erwartungen, Forderungen und Begründungen hinsichtlich Machtteilhabe unterscheiden sich jedoch zum Teil erheblich. Eine Forderung ist, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in Mandaten und Ämtern repräsentiert sein müssten. Sie zielt auf die deskriptive Repräsentation ab. Als ein effektives Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, werden oft Quoten angeführt. Mit mehr Präsenz von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in der Politik ist häufig die Erwartung verbunden, dass solche Abgeordneten dann die Interessen der Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte vertreten – gegebenenfalls auch nur derjenigen, die ihrer eigenen Herkunft zugerechnet werden. In diesem Fall spricht man von substanzieller Repräsentation. Unabhängig vom Eintreten für Interessen verschiedener Gruppen wird von der Präsenz in Institutionen (Fraktionen, Ausschüsse, Parlamente, Ämtern) ein sensibilisierender Effekt für die Sichtweisen bisher unterrepräsentierter Gruppen innerhalb der Institutionen erwartet, aber auch in die Bevölkerung hinein. Diese Annahme lenkt den Blick auf die symbolische Repräsentation. Eine umfassendere Begründung dafür, dass Präsenz und Machtteilhabe bisher unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen von Bedeutung ist, erwächst aus einer liberaldemokratischen Grundhaltung: Es geht um Chancengerechtigkeit oder, wie es die Soziologin Devrimsel Deniz Nergiz ausgedrückt hat, letztlich vor allem um "Normalität" von Politiker:innen unterschiedlicher Herkunft in einer multiethnischen, diversen Gesellschaft.
Präsenz
Wie Abbildung 1 zeigt, ist die Präsenz von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte heute viel "normaler" als noch vor drei Jahrzehnten. Jüngste Daten des Projekts REPCHANCE belegen, dass nach der Bundestagswahl 2021 11,4 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und 7,3 Prozent der Abgeordneten der Landesparlamente einen Migrationshintergrund hatten.
Blickt man auf die kommunale Ebene, dann ergeben sich sowohl ein ähnlicher Trend als auch vergleichbare Muster. Hatten zu Anfang der 2000er Jahre rund 2,5 Prozent der Ratsmitglieder in deutschen Großstädten einen Migrationshintergrund, war der Anteil Ende der 2000er Jahre bereits auf 4,2 Prozent angestiegen.
Auch wenn regional und lokal Zusammenhänge zwischen dem Anteil von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte einerseits und dem Bevölkerungsanteil sowie dem Organisationsgrad größerer Herkunftslandgruppen andererseits bestehen, kommt Parteien immer noch die zentrale Rolle als "Gatekeeper" parlamentarischer Repräsentation unterschiedlicher Personengruppen zu.
Diese lager- und parteispezifischen Repräsentationsmuster haben verschiedene Ursachen. Da eine Unterrepräsentation bereits auf der Ebene der Kandidat:innen besteht,
Im Vergleich zu ihrem Anteil unter den Wahlberechtigten gab es bei der Bundestagswahl 2021 nur bei der Linkspartei überdurchschnittlich viele Kandidat:innen mit Einwanderungsgeschichte.
Zusammensetzung und Hintergründe
Die Anzahl und die Anteile von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte sind relevante Informationen, doch "wer" diese Abgeordneten sind, ist ebenfalls von Bedeutung. Betrachten wir zunächst die Frauenanteile, dann zeigt sich, dass diese mit Ausnahme von FDP und AfD unter den Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte etwas höher ausfallen als bei den Parteien insgesamt. Am auffälligsten ist dies bei den Unionsparteien, wo offenbar die "doppelte Quote" für Frauen mit Einwanderungsgeschichte einen Vorteil gegenüber Männern mit Einwanderungsgeschichte bedeutet. Gerade dieses Muster indiziert, dass es in Parteien, auf Parteilisten und bei Wahlkreiskandidaturen häufig nicht nur um die Repräsentation eines einzelnen Merkmals geht, sondern dass die Kombination verschiedener Merkmale (Intersektion), die es beispielweise im Hinblick auf die Vertretung unterschiedlicher Regionen immer gegeben hat, inzwischen auch stärker bei persönlichen Merkmalen greift. Insbesondere die größeren Parteien versuchen möglichst viele Bevölkerungsgruppen anzusprechen, und da sind Merkmalskombinationen bei Kandidat:innen eine oft besonders interessante Option.
Beim formalen Bildungsgrad lassen sich kaum Unterschiede zwischen Abgeordneten mit und ohne Migrationshintergrund feststellen.
Dieses generelle Muster der Zusammensetzung nach Herkunftsländern zieht sich nicht durch alle Parteien und Fraktionen. Schon auf der Ebene der Bundestagskandidat:innen 2021 zeigte sich, das die Parteien rechts der Mitte deutlich weniger Kandidat:innen mit einem Hintergrund in muslimischen, arabischen und subsaharisch-afrikanischen Ländern aufgestellt haben.
Symbolische und substanzielle Repräsentation
Ein anderer Aspekt der parlamentarischen Repräsentation von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte sind die inhaltlichen Schwerpunkte, die diese Abgeordneten setzen. Dabei ist zunächst festzustellen, dass sie sich, wie alle Abgeordneten, mit ganz unterschiedlichen Themen beschäftigen. So gehören zu den Ausschussmitgliedschaften der Bundestagsabgeordneten mit Einwanderungsgeschichte auch "Finanzen", "Verkehr und digitale Infrastruktur" oder "Angelegenheiten der Europäischen Union".
Im Lichte der bestehenden deskriptiven Repräsentationslücke, die nicht nur in Bezug auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte, sondern insbesondere auch auf Frauen und Personen mit niedrigerem Sozialstatus besteht,
Parlamentarische Präsenz ist eine wichtige Komponente von Machtteilhabe, doch der Verbleib im Mandat und Aufstieg in führende Positionen gehören sicher auch dazu. Etliche Politiker:innen mit Einwanderungsgeschichte sind inzwischen Amtsträger:innen geworden, allen voran Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir in der derzeitigen Ampelkoalition, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und vorherige Staatsministerin Aydan Özuğuz, bis hin zu Partei-Generalsekretären wie Bijan Djir-Sarai und Paul Ziemiak (erst im Bund, nun in NRW). Im Bundestag finden wir etliche Obleute der Parteien mit Einwanderungsgeschichte sowie stellvertretende Ausschuss- und Fraktionsvorsitzende, sodass es inzwischen durchaus einige politische Karrieren von Politiker:innen mit Einwanderungsgeschichte gibt. Sie sind role models in der Einwanderungsgesellschaft.
Allerdings belegen empirische Analysen, dass mit längerem Verbleib im Parlament und vor allem mit der Übernahme von Ämtern die migrationsbezogenen Aktivitäten nachlassen,
Eine andere Vermutung ist, dass Parteien Menschen mit Einwanderungsgeschichte häufiger instrumentalisieren, um Diversität nach außen zu demonstrieren und sich davon auch strategisch Vorteile erhoffen (tokenism), während die konkreten Personen von untergeordneter Bedeutung sind. Sie wären damit eher austauschbar. Für einen gewissen Grad an tokenism spricht auch die Zuweisung migrationsspezifischer Aufgaben an Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte, die eigentlich andere fachliche Schwerpunkte haben, doch, manches Mal zusätzlich, solche Aufgaben für ihre Parteien oder Fraktionen übernehmen.
Lage und Ausblick
Was vor 30 Jahren kaum vorstellbar schien, ist heute Realität: Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte sind in deutschen Parlamenten und politischen Ämtern angekommen. Sie bringen andere Prägungen, Erfahrungen und Sichtweisen in politische Prozesse ein und erweitern dadurch die Basis politischer Entscheidungen. Durch ihre parlamentarische Präsenz wird das Repräsentationsdefizit, das bezüglich einiger soziodemographischer Gruppen besteht, geringer. Zugleich ergibt sich kein einheitliches Bild. Es besteht immer noch eine deskriptive Repräsentationslücke, vor allem in Landesparlamenten. Mancherorts fehlen Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte ganz. Die Lage ist bei Parteien der politischen Linken weiterhin besser als bei Parteien rechts der Mitte. Auch sind manche Gruppen besser repräsentiert als andere. Und so manches Mal müssten wir vielleicht eher von tokenism als von gleichberechtigter Machtteilhabe sprechen.
Klar ist aber, dass durch die demografische Entwicklung, höhere Bildung und Berufsqualifikationen der postmigrantische Teil der Einwanderungsgesellschaft Machtteilhabe weiter einfordern wird. Ein Großteil der deutschen Gesellschaft sieht diese Entwicklung gelassen und positiv.
Inzwischen hat sich aber auch Widerstand gegen Menschen anderer Herkunft, Kulturen und Religionen formiert. Die Realitäten einer multiethnischen und kulturell vielfältigen Gesellschaft und berechtigte Mahnungen zur Wahrung von Chancengerechtigkeit werden von einer Minderheit nicht anerkannt.