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Gut vertreten? Parlamentarische Repräsentation im Einwanderungsland

Andreas M. Wüst

/ 13 Minuten zu lesen

Menschen mit Migrationsgeschichte waren als Abgeordnete in Parlamenten in Deutschland lange unterrepräsentiert. Die Lage hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten dank unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungen deutlich verbessert, doch Defizite bleiben bestehen.

Repräsentative Demokratien erfordern allgemeine Wahlen und die Vertretung der Interessen unterschiedlicher Gruppen im Parlament. Mit dem Grundprinzip politischer Gerechtigkeit ist schwer vereinbar, bestimmte Personen und Gruppen dauerhaft von politischer Teilhabe auszuschließen und sie damit als Bürger:innen "zweiter Klasse" zu behandeln. Es war deshalb überfällig, die deutsche Staatsangehörigkeit, die fast 90 Jahre lang primär den Nachkommen deutscher Staatsbürger:innen vorbehalten war, für in Deutschland geborene Kinder von Eingewanderten im Jahr 2000 zu öffnen. Nicht zuletzt aufgrund des ein Jahr zuvor verabschiedeten Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) besitzt mittlerweile rund die Hälfte der in Deutschland lebenden Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte die deutsche Staatsangehörigkeit.

Das Zuwanderungsgesetz des Jahres 2005 besiegelte den Wandel von einer reflexhaften Abwehr- zu einer konstruktiven Integrationspolitik, bei der es auch darum geht, "Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben [zu] ermöglichen und für Toleranz, Akzeptanz und wechselseitigen Respekt zwischen den Bevölkerungsgruppen [zu] werben". Mit zunehmender, auch geförderter Integration wuchs das Bewusstsein, dass (weiterhin) Ungleichheit besteht, die auf Diskriminierung beruht. Und mit einem höheren Grad gesellschaftlicher Anerkennung von Menschen unterschiedlicher Herkunft wurden "Teilhabe- und Repräsentationsforderungen lauter und offensiver". Es geht mittlerweile nicht mehr nur diffus um politische Integration von Individuen und Gruppen mit Einwanderungsgeschichte, sondern ganz konkret um Beteiligung an politischer Macht durch Parlamentsmandate, Funktionen und Ämter.

Die Erwartungen, Forderungen und Begründungen hinsichtlich Machtteilhabe unterscheiden sich jedoch zum Teil erheblich. Eine Forderung ist, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in Mandaten und Ämtern repräsentiert sein müssten. Sie zielt auf die deskriptive Repräsentation ab. Als ein effektives Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, werden oft Quoten angeführt. Mit mehr Präsenz von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in der Politik ist häufig die Erwartung verbunden, dass solche Abgeordneten dann die Interessen der Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte vertreten – gegebenenfalls auch nur derjenigen, die ihrer eigenen Herkunft zugerechnet werden. In diesem Fall spricht man von substanzieller Repräsentation. Unabhängig vom Eintreten für Interessen verschiedener Gruppen wird von der Präsenz in Institutionen (Fraktionen, Ausschüsse, Parlamente, Ämtern) ein sensibilisierender Effekt für die Sichtweisen bisher unterrepräsentierter Gruppen innerhalb der Institutionen erwartet, aber auch in die Bevölkerung hinein. Diese Annahme lenkt den Blick auf die symbolische Repräsentation. Eine umfassendere Begründung dafür, dass Präsenz und Machtteilhabe bisher unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen von Bedeutung ist, erwächst aus einer liberaldemokratischen Grundhaltung: Es geht um Chancengerechtigkeit oder, wie es die Soziologin Devrimsel Deniz Nergiz ausgedrückt hat, letztlich vor allem um "Normalität" von Politiker:innen unterschiedlicher Herkunft in einer multiethnischen, diversen Gesellschaft.

Präsenz

Wie Abbildung 1 zeigt, ist die Präsenz von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte heute viel "normaler" als noch vor drei Jahrzehnten. Jüngste Daten des Projekts REPCHANCE belegen, dass nach der Bundestagswahl 2021 11,4 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und 7,3 Prozent der Abgeordneten der Landesparlamente einen Migrationshintergrund hatten. Dies sind insgesamt 221 Abgeordnete, und verglichen mit einer Handvoll Abgeordneter Anfang der 1990er Jahre, bedeutet dies eine Vervielfachung. Aus der Perspektive deskriptiver Repräsentation besteht jedoch immer noch ein Repräsentationsdefizit, denn der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund betrug 2021 in Deutschland 27,2 Prozent, und auch unter Wahlberechtigten lag der Anteil bei 13,6 Prozent, Tendenz steigend. Vor allem in den Landtagen der westdeutschen Flächenländer klafft demnach eine Repräsentationslücke. Diese Repräsentationslücke in der Politik sehen auch über 60 Prozent der Bevölkerung.

Blickt man auf die kommunale Ebene, dann ergeben sich sowohl ein ähnlicher Trend als auch vergleichbare Muster. Hatten zu Anfang der 2000er Jahre rund 2,5 Prozent der Ratsmitglieder in deutschen Großstädten einen Migrationshintergrund, war der Anteil Ende der 2000er Jahre bereits auf 4,2 Prozent angestiegen. Die neueste Erhebung 2022 ergab einen Abgeordnetenanteil von 13 Prozent in den 77 deutschen Großstädten. Dies entspricht einer Verfünffachung des Anteils von vor 20 Jahren. Auch wenn dieser Anteil im Vergleich zum Bund und zu den Ländern höher erscheint, so ist die Repräsentationslücke bei einem Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund von 35,8 Prozent und einem Wahlberechtigtenanteil von 21,5 Prozent in den Großstädten höher als im Bund und in den Ländern.

Auch wenn regional und lokal Zusammenhänge zwischen dem Anteil von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte einerseits und dem Bevölkerungsanteil sowie dem Organisationsgrad größerer Herkunftslandgruppen andererseits bestehen, kommt Parteien immer noch die zentrale Rolle als "Gatekeeper" parlamentarischer Repräsentation unterschiedlicher Personengruppen zu. Verschiedene Bestandsaufnahmen zeigen, dass die parlamentarische Repräsentation von Politiker:innen mit Einwanderungsgeschichte in Parteien links der Mitte (hier: SPD, Grüne, Die Linke) sowohl quantitativ als auch prozentual höher ausfällt als in Parteien rechts der Mitte (hier: FDP, CDU, CSU, AfD). Weniger als ein Viertel der Abgeordneten mit Migrationshintergrund in Bund und Ländern gehörte Ende 2021 diesem Teil des politischen Spektrums an.

Diese lager- und parteispezifischen Repräsentationsmuster haben verschiedene Ursachen. Da eine Unterrepräsentation bereits auf der Ebene der Kandidat:innen besteht, ist zum einen denkbar, dass es nicht genug Aspirant:innen mit Einwanderungsgeschichte für Nominierungen gibt, zum anderen, dass die Parteien zu wenige solcher Personen nominieren. Eine groß angelegte Studie in Schweden konnte jedoch kein geringeres Interesse von Einwander:innen und ihren Kindern an Kandidaturen feststellen. In Deutschland besteht aber möglicherweise zumindest in konservativen Parteien eine größere Zurückhaltung von politisch Interessierten mit Einwanderungsgeschichte, in ein Nominierungsverfahren einzutreten. Es sind wohl bestimmte "Selektoren", die zumindest zurückhaltender sind, vielfältige Kandidat:innen aufzustellen: Personen aus Parteien rechts der Mitte und solche, die auch der Gleichstellung der Geschlechter einen geringen Stellenwert beimessen. Offenbar wägen Parteien – wie in einer Analyse Schweizer Wahlen unterstrichen wird – immer wieder ab, ob gerade Kandidat:innen, deren Einwanderungsgeschichte offensichtlich ist, aufgestellt und auf einem vorderen Listenplatz positioniert werden sollen oder nicht.

Im Vergleich zu ihrem Anteil unter den Wahlberechtigten gab es bei der Bundestagswahl 2021 nur bei der Linkspartei überdurchschnittlich viele Kandidat:innen mit Einwanderungsgeschichte. Unter den Abgeordneten auf Bundesebene kann auch bei den Grünen und der SPD von einer überproportionalen Repräsentation gesprochen werden; in den Landtagen gibt es lediglich in den Fraktionen der Grünen einen insgesamt überproportionalen Anteil an Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte. Möglicherweise sorgt das 2020 verabschiedete Vielfaltsstatut von Bündnis 90/Die Grünen in den verschiedenen Verbänden der Partei für einen besonders hohen Grad an Sensibilität für Vielfalt der Repräsentation.

Zusammensetzung und Hintergründe

Die Anzahl und die Anteile von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte sind relevante Informationen, doch "wer" diese Abgeordneten sind, ist ebenfalls von Bedeutung. Betrachten wir zunächst die Frauenanteile, dann zeigt sich, dass diese mit Ausnahme von FDP und AfD unter den Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte etwas höher ausfallen als bei den Parteien insgesamt. Am auffälligsten ist dies bei den Unionsparteien, wo offenbar die "doppelte Quote" für Frauen mit Einwanderungsgeschichte einen Vorteil gegenüber Männern mit Einwanderungsgeschichte bedeutet. Gerade dieses Muster indiziert, dass es in Parteien, auf Parteilisten und bei Wahlkreiskandidaturen häufig nicht nur um die Repräsentation eines einzelnen Merkmals geht, sondern dass die Kombination verschiedener Merkmale (Intersektion), die es beispielweise im Hinblick auf die Vertretung unterschiedlicher Regionen immer gegeben hat, inzwischen auch stärker bei persönlichen Merkmalen greift. Insbesondere die größeren Parteien versuchen möglichst viele Bevölkerungsgruppen anzusprechen, und da sind Merkmalskombinationen bei Kandidat:innen eine oft besonders interessante Option.

Beim formalen Bildungsgrad lassen sich kaum Unterschiede zwischen Abgeordneten mit und ohne Migrationshintergrund feststellen. Das bedeutet, dass für alle Abgeordneten, unabhängig von persönlichen Merkmalen, vergleichsweise hohe Anforderungen an einen zentralen Teil der Qualifikation bestehen und Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht leichter und auch nicht nur aufgrund ihres Hintergrunds Abgeordnete werden. Der Blick auf die Herkunftsländer der Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte auf Bundes- und Landesebene kombiniert (Abbildung 2) zeigt zum einen, dass es sehr viele (88) Abgeordnete gibt, die keinem Herkunftsland zuzuordnen sind, das mindestens 3 Prozent der Abgeordneten mit Migrationshintergrund stellt. Zum anderen stellen Deutsche mit Wurzeln in der Türkei die höchste Zahl und den höchsten Anteil an Abgeordneten, während Deutsche mit Wurzeln auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, deren Gruppe in der Bevölkerung erheblich größer ist, deutlich schlechter parlamentarisch vertreten sind.

Dieses generelle Muster der Zusammensetzung nach Herkunftsländern zieht sich nicht durch alle Parteien und Fraktionen. Schon auf der Ebene der Bundestagskandidat:innen 2021 zeigte sich, das die Parteien rechts der Mitte deutlich weniger Kandidat:innen mit einem Hintergrund in muslimischen, arabischen und subsaharisch-afrikanischen Ländern aufgestellt haben. Nicht überraschend setzt sich dieses Muster bei den Abgeordneten fort. In besonderem Maße gilt dies für die AfD, die allerdings die höchste Zahl an Abgeordneten mit einem Hintergrund auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (primär (Spät-)Aussiedler) aufweist. Bei den Fraktionen der Unionsparteien finden sich zwar vergleichsweise wenige Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte, doch sind hier sowohl Türkeistämmige als auch Politiker:innen mit einem Hintergrund auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion vertreten. In den Fraktionen der Parteien links der Mitte gibt es nicht nur deutlich mehr Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte, sondern es besteht auch die größte Varianz im Hinblick auf die dort vertretenen Herkunftsländer.

Symbolische und substanzielle Repräsentation

Ein anderer Aspekt der parlamentarischen Repräsentation von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte sind die inhaltlichen Schwerpunkte, die diese Abgeordneten setzen. Dabei ist zunächst festzustellen, dass sie sich, wie alle Abgeordneten, mit ganz unterschiedlichen Themen beschäftigen. So gehören zu den Ausschussmitgliedschaften der Bundestagsabgeordneten mit Einwanderungsgeschichte auch "Finanzen", "Verkehr und digitale Infrastruktur" oder "Angelegenheiten der Europäischen Union". Es handelt sich also um "ganz normale" Abgeordnete. Ihre vielfältige Präsenz zeigt, dass sie in nahezu allen soziopolitischen Bereichen präsent sind und auf Entscheidungen Einfluss nehmen können. Dass diese Abgeordneten aufgrund ihres Hintergrunds und eigener sowie vermittelter Erfahrungen auch eine höhere Sensibilität für Migrations- und Integrationsaspekte besitzen, ist aber naheliegend. Ein Indikator hierfür ist, dass es proportional mehr Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte gibt, die in Ausschüssen sitzen, deren Themen überdurchschnittlich häufig Migrationsbezüge aufweisen wie beispielsweise Innen- und Sozialausschüsse.

Im Lichte der bestehenden deskriptiven Repräsentationslücke, die nicht nur in Bezug auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte, sondern insbesondere auch auf Frauen und Personen mit niedrigerem Sozialstatus besteht, ist es zu begrüßen, dass durch die Präsenz einer unterrepräsentierten Gruppe auch andere Schwerpunkte und Sichtweisen in den parlamentarischen Diskurs Einzug halten können. Darauf, dass dies tatsächlich so ist, deuten empirische Analysen parlamentarischer Aktivitäten hin: Abgeordnete, deren Migrationshintergrund sichtbar ist, greifen in Reden und individuellen Fragen, die sie in Parlamenten stellen, Migrations- und Integrationsthemen häufiger auf als andere Abgeordnete. Mit ihren Beiträgen zum politischen Diskurs weiten oder ergänzen sie Blickwinkel auf Themen und können damit gegebenenfalls auch die Anliegen etlicher Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Debatten und parlamentarische Beratungen einbringen.

Parlamentarische Präsenz ist eine wichtige Komponente von Machtteilhabe, doch der Verbleib im Mandat und Aufstieg in führende Positionen gehören sicher auch dazu. Etliche Politiker:innen mit Einwanderungsgeschichte sind inzwischen Amtsträger:innen geworden, allen voran Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir in der derzeitigen Ampelkoalition, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und vorherige Staatsministerin Aydan Özuğuz, bis hin zu Partei-Generalsekretären wie Bijan Djir-Sarai und Paul Ziemiak (erst im Bund, nun in NRW). Im Bundestag finden wir etliche Obleute der Parteien mit Einwanderungsgeschichte sowie stellvertretende Ausschuss- und Fraktionsvorsitzende, sodass es inzwischen durchaus einige politische Karrieren von Politiker:innen mit Einwanderungsgeschichte gibt. Sie sind role models in der Einwanderungsgesellschaft.

Allerdings belegen empirische Analysen, dass mit längerem Verbleib im Parlament und vor allem mit der Übernahme von Ämtern die migrationsbezogenen Aktivitäten nachlassen, was allerdings auch den entweder umfassenderen oder fachspezifischen Aufgaben der Ämter geschuldet ist. Jüngste Analysen der Dauer des Verbleibs von Bundestags- und Landtagsabgeordneten mit Einwanderungsgeschichte im Parlament zeigen jedoch, dass die durchschnittliche Verweildauer mit unter zwei Legislaturperioden sehr kurz ist und bei ausgeschiedenen Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund eine Legislaturperiode kürzer ausfällt als bei den Kolleg:innen, die keinen Migrationshintergrund haben. Dies mag daran liegen, dass die Integration von Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte in die Parteien und Fraktionen oder umgekehrt die Öffnung der Parteien und Fraktionen für diese Abgeordneten schlechter funktioniert als dies bei Abgeordneten ohne Einwanderungsgeschichte der Fall ist, sodass es seltener zu aussichtsreichen Nominierungen bei nachfolgenden Wahlen kommt.

Eine andere Vermutung ist, dass Parteien Menschen mit Einwanderungsgeschichte häufiger instrumentalisieren, um Diversität nach außen zu demonstrieren und sich davon auch strategisch Vorteile erhoffen (tokenism), während die konkreten Personen von untergeordneter Bedeutung sind. Sie wären damit eher austauschbar. Für einen gewissen Grad an tokenism spricht auch die Zuweisung migrationsspezifischer Aufgaben an Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte, die eigentlich andere fachliche Schwerpunkte haben, doch, manches Mal zusätzlich, solche Aufgaben für ihre Parteien oder Fraktionen übernehmen. Es scheint jedoch, dass diese Praxis inzwischen seltener geworden ist – Ergebnisse jüngerer Datenerhebungen liegen noch nicht vor.

Lage und Ausblick

Was vor 30 Jahren kaum vorstellbar schien, ist heute Realität: Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte sind in deutschen Parlamenten und politischen Ämtern angekommen. Sie bringen andere Prägungen, Erfahrungen und Sichtweisen in politische Prozesse ein und erweitern dadurch die Basis politischer Entscheidungen. Durch ihre parlamentarische Präsenz wird das Repräsentationsdefizit, das bezüglich einiger soziodemographischer Gruppen besteht, geringer. Zugleich ergibt sich kein einheitliches Bild. Es besteht immer noch eine deskriptive Repräsentationslücke, vor allem in Landesparlamenten. Mancherorts fehlen Abgeordnete mit Einwanderungsgeschichte ganz. Die Lage ist bei Parteien der politischen Linken weiterhin besser als bei Parteien rechts der Mitte. Auch sind manche Gruppen besser repräsentiert als andere. Und so manches Mal müssten wir vielleicht eher von tokenism als von gleichberechtigter Machtteilhabe sprechen.

Klar ist aber, dass durch die demografische Entwicklung, höhere Bildung und Berufsqualifikationen der postmigrantische Teil der Einwanderungsgesellschaft Machtteilhabe weiter einfordern wird. Ein Großteil der deutschen Gesellschaft sieht diese Entwicklung gelassen und positiv. Es wird akzeptiert, dass sich die Gesellschaft verändert hat, und der Beitrag von Einwander:innen und ihren Nachkommen wird geschätzt.

Inzwischen hat sich aber auch Widerstand gegen Menschen anderer Herkunft, Kulturen und Religionen formiert. Die Realitäten einer multiethnischen und kulturell vielfältigen Gesellschaft und berechtigte Mahnungen zur Wahrung von Chancengerechtigkeit werden von einer Minderheit nicht anerkannt. Durchaus legitime Forderungen nach einer besseren Steuerung und gegebenenfalls der Begrenzung von Zuwanderung vermischen sich mitunter mit einer ethnischen Differenzierung von Zugehörigkeit und Remigrationsfantasien bis hin zu Hass, Hetze und Gewalt, die zumindest auf kommunaler Ebene Politiker:innen mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen trifft. Trotz beachtlicher Resilienz vieler Mandatsträger:innen kommt es immer wieder zu Rückzügen aus öffentlichen Ämtern, und auch einige politisch Aktive mit Einwanderungsgeschichte wägen inzwischen stärker ab, ob sie für ein Mandat zur Verfügung stehen möchten. Daher sind Ermutigung, Unterstützung und Rückhalt der Bevölkerung für Mandats- und Amtsträger:innen, gerade bisher politisch unterrepräsentierter Gruppen, in unserer Demokratie wichtig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M.–New York 1992, S. 104.

  2. Vgl. Andreas M. Wüst, Einwanderung und politische Integration in Deutschland, Gütersloh–Weimar 2024.

  3. Bundesministerium des Innern, Bericht der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung", Berlin 2001, S. 18.

  4. Vgl. Aladin El-Mafaalani, Das Integrations-Paradox, Köln 20202.

  5. Naika Foroutan, Brauchen wir eine neue, postmigrantische Partei?, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Repräsentation – Identität – Beteiligung, Bonn 2022, S. 154–166.

  6. Devrimsel Deniz Nergiz, I long for Normality, Wiesbaden 2014.

  7. Die Daten zur Berechnung beruhen insbesondere auf Erhebungen im Projekt REPCHANCE, das an der Hochschule München durchgeführt und von der Robert Bosch Stiftung, der Stiftung Mercator Schweiz und der Stiftung Porticus gefördert wird.

  8. Vgl. Andreas M. Wüst/Henning Bergmann, Repräsentation von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in deutschen Parlamenten, Berlin 2024, S. 3.

  9. Vgl. ebd., S. 5f.

  10. Vgl. Ulrike Wieland, Willkommenskultur in Krisenzeiten. Wahrnehmungen und Einstellungen der Bevölkerung zu Migration und Integration in Deutschland, Gütersloh 2024, S. 21.

  11. Vgl. Karen Schönwälder/Cihan Sinanoğlu/Daniel Volkert, Vielfalt sucht Rat, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2011.

  12. Vgl. Andreas Blätte/Laura Dinnebier/Merve Schmitz-Vardar, Vielfalt sucht Repräsentation, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2023.

  13. Vgl. ebd., S. 43.

  14. Vgl. Pippa Norris (Hrsg.), Passages to Power, Cambridge 1997; Karen Bird/Thomas Saalfeld/Andreas M. Wüst (Hrsg.), The Political Representation of Immigrants and Minorities, London 2011, S. 12–15.

  15. Vgl. Wüst/Bergmann (Anm. 8), S. 7.

  16. Vgl. Julia Schulte-Cloos, Mehr Kandidat*innen mit Migrationshintergrund, 23.9.2021, Externer Link: https://mediendienst-integration.de/artikel/mehr-kandidatinnen-mit-migrationshintergrund.html.

  17. Vgl. Rafaela Dancygier et al., Candidate Supply is Not a Barrier to Immigrant Representation: A Case-Control Study, in: American Journal of Political Studies 3/2021, S. 683–698.

  18. Vgl. Elisa Deiss-Helbig, "Within the Secret Garden of Politics": Candidate Selection and the Representation Of Immigrant-Origin Citizens in Germany, Stuttgart 2019.

  19. Vgl. Benjamin Höhne/Aimie Boujou/Dario Landwehr, Supporting Diversity on Party Lists: German Party Gatekeepers Towards Enhancing Immigrant Representation, in: Representation: Journal of Representative Democracy 3/2024, S. 395–414.

  20. Vgl. Benjamin Auer/Lea Portman/Thomas Tichelbaecker, Electoral Discrimination, Party Rationale, and the Underrepresentation of Immigrant-Origin Politicians, in: American Journal of Political Science, August 2023, S. 1–17.

  21. Vgl. Schulte-Cloos (Anm. 16).

  22. Vgl. Wüst/Bergmann (Anm. 8), S. 7.

  23. Vgl. Recherchen im Rahmen des Projekts REPCHANCE an der Hochschule München (Anm. 7).

  24. Vgl. Wüst (Anm. 2), S. 7.

  25. Vgl. Schulte-Cloos (Anm. 16).

  26. Vgl. Henning Bergmann/Andreas M. Wüst, Karrieren mit Konfliktpotenzial? Abgeordnete mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag, 2013–2021, in: Norbert Kersting/Julian David Müller/Uwe Hunger (Hrsg.): Migration und Konflikt, Wiesbaden 2024 (i.E.), S. 22–52.

  27. Vgl. ebd.; Andreas M. Wüst, Migrants as Parliamentary Actors in Germany, in: Bird/Saalfeld/Wüst (Anm. 14), S. 250–265, hier S. 257f.

  28. Vgl. Hanna Schwander, Soziale Ungleichheit, politische Teilhabe und Repräsentation in der deutschen Demokratie, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Anm. 5), S. 85–92.

  29. Vgl. Anne Phillips, The Politics of Presence, Oxford 1995.

  30. Vgl. Andreas Blätte/Andreas M. Wüst, Der migrationsspezifische Einfluss auf parlamentarisches Handeln: Ein Hypothesentest auf der Grundlage von Redebeiträgen der Abgeordneten des Deutschen Bundestags 1996–2013, in: Politische Vierteljahresschrift 2/2017, S. 205–233; Andreas M. Wüst, A Lasting Impact? On the Legislative Activities of Immigrant-Origin Parliamentarians in Germany, in: The Journal of Legislative Studies 4/2014, S. 495–515.

  31. Vgl. Stefanie Bailer et al., The Diminishing Value of Representing the Disadvantaged: Between Group Representation and Individual Career Paths, in: British Journal of Political Science 2/2022, S. 535–552.

  32. Vgl. Wüst/Bergmann (Anm. 8), S. 12.

  33. Vgl. Freya Markowis, Mandatsträgerinnen und Mandatsträger mit Migrationshintergrund, Berlin 2015, S. 300–304; Constanze Schmitz/Andreas M. Wüst, Was bewegt Politiker mit Migrationshintergrund? Befunde aus deutschen Großstädten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4/2011, S. 822–834, hier S. 832.

  34. Vgl. Wieland (Anm. 10).

  35. Vgl. Beate Küpper/Jens Hellmann, Willkommen in Deutschland? Einstellungen zur Nachrangigkeit Neuhinzukommender, in: Andreas Zick/Beate Küpper/Nico Mokros (Hrsg.), Die distanzierte Mitte, Berlin 2023, S. 199–218.

  36. Vgl. Andreas Blätte/Laura Dinnebier/Merve Schmitz-Vardar, Vielfältige Repräsentation unter Druck: Anfeindungen und Aggressionen in der Kommunalpolitik, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2023.

  37. Vgl. Jana Stegemann, Syrer zieht Kandidatur für Bundestag zurück, 30.3.2021, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/-1.5251729.

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ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die empirische Wahl- und Repräsentationsforschung, vor allem in Bezug auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte.