Die parlamentarische Demokratie lebt von der Fiktion, dass die Interessen und politischen Anschauungen der Bürgerinnen und Bürger in der Zusammensetzung des Parlaments ihren Ausdruck finden. Genauer betrachtet, bringen Parlamente jedoch nur Momentaufnahmen des Wählerwillens zum Ausdruck. Die Erwägungen, die einer Wahlentscheidung zugrunde lagen, können gerade in Zeiten wachsender Volatilität der Wählerschaft wenige Monate nach einer Wahl bereits ganz andere sein. Nicht nur deshalb war und ist die Geschichte parlamentarischer Demokratie immer wieder mit vorzeitigen Neuwahlen verbunden.
Es ist also unstrittig, dass sich der Wählerwille zwischen den Wahlen verändern kann. Trotz der damit verbundenen Kontingenz von Wahlergebnissen gehört es zu den Spielregeln des Parlamentarismus, diese anzuerkennen. Zugleich aber wird die Frage, wie die Wählenden sich während der Legislaturperiode gegenüber ihren Gewählten äußern, für die Beschäftigung mit Demokratie ebenso interessant wie die Frage, wen sie warum gewählt haben.
Kommunikation zwischen den Wählenden und den Gewählten lässt sich als eine spezifische Form der Partizipation begreifen, bei der die Grenzen zwischen parlamentarischer und direkter Demokratie verwischen. Als solche ist sie empirisch schwieriger zu fassen als organisierte oder institutionalisierte Teilhabe. Umfragen geben beispielsweise vor, abbilden zu können, was in dieser Kommunikation aufgehoben ist, und können dabei meist statistische Repräsentativität beanspruchen. Doch sie haben andere Auftraggeber und damit andere Initiatoren, und sie formulieren Fragen vor, auf die die Wählenden lediglich antworten können.
Kommunikation mit den Parlamentsmitgliedern hat noch einmal eine andere demokratiegeschichtliche Tragweite als Kommunikation mit der Regierung. Wegen ihrer Rolle als Volksvertretung und der mit ihr verbundenen Funktion, öffentlich "Volkes Stimme" in ihrem inneren Zwiegespräch zum Ausdruck zu bringen, ist die Institution des Parlaments besonderen Erwartungen ausgesetzt, die an die Bürokratie eines Ministeriums oder an Kabinettsmitglieder so nicht formuliert werden. Regierungschefs müssen führen und werden daraufhin bewertet, Abgeordnete müssen den Eindruck erwecken, für den Demos oder gar in seinem Namen zu sprechen. Doch zur langen Geschichte des Parlamentarismus gehört auch die Wahrnehmung einer deutlichen Trennlinie zwischen den Funktionsweisen der Volksvertretung und der sozialen Lebenswelt, auch den politischen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger.
Der folgende Beitrag soll schlaglichtartig einige zentrale Muster der Auseinandersetzung über die Beziehungen zwischen Wählenden und Gewählten in der Bundesrepublik kenntlich machen. Im Fokus steht die Bonner Republik bis in die 1970er Jahre, die vor der Folie der multiplen Krisen und der digitalen Transformation in der Berliner Republik oftmals als Hort demokratischer "Normalität" verklärt wird. Vor allem der seit den 1990er Jahren immer wieder vorgebrachte Topos einer "Krise der Volksparteien" oder einer "Parteienverdrossenheit" insinuiert eine Vorzeit, in der Volk und "Volksparteien" in einer Art symbiotischen Beziehung gestanden hätten. Dagegen lässt sich argumentieren, dass die parlamentarische Demokratie aus ihren Bau- und Funktionsmechanismen heraus kommunikative Muster (re)produziert, die Artikulationen von Distanz oder Kritik sehr viel wahrscheinlicher machen als Konsens-, Nähe- oder gar Identitätsbekundungen vonseiten der Bürgerinnen und Bürger. Zugleich zeigt sich, dass solche Distanzen kommunikativ überwunden werden konnten, wobei noch zu diskutieren wäre, wie sich die Transformationskraft digitaler Resonanz- und Kommunikationsräume auf die kommunikative Ausgestaltung politischer Repräsentationsbeziehungen in der parlamentarischen Demokratie auswirkt.
Politische Wissensvermittlung von der Peripherie ins Zentrum
Das gängige Modell der Politischen Kommunikationsforschung unterscheidet zwischen Politik, Medien und Bürgerinnen und Bürgern. In der Praxis aber ist die Forschung angesichts anhaltender Medialisierungstendenzen vor allem mit dem Verhältnis von politischem System und Massenmedien befasst. Bürgerinnen und Bürgern werden indes als relativ passive Akteure entworfen, wie etwa das Konzept der "Politikvermittlung" insinuiert.
Wer sich mit direkter Bürgerkommunikation gegenüber den Abgeordneten beschäftigt, wird hingegen zu der Einsicht kommen, dass die analytische Unterscheidung zwischen "Politik" und "Bürgern" nur bedingt trägt. Denn die meisten Wählenden, die in der Geschichte der Bundesrepublik mit ihren Abgeordneten oder den politischen Parteien Kontakt aufnahmen, beanspruchten durchaus, in politischen Dingen mitreden zu können. Anders als gegenüber Vertretern der Exekutive wie einem "Landesvater", wo sie häufig Demut zum Ausdruck brachten,
Männer und, seltener, Frauen aus der Wählerschaft schrieben an Abgeordnete und Parteien, weil sie meinten, ihnen aus einer eigenen, nur ihnen zugänglichen Perspektive berichten zu können. Was sie von den gewählten Politikerinnen unterschied, nämlich die Nähe zur Macht und das damit verbundene Wissen, die Ressourcen und die Entscheidungskapazitäten zur Bearbeitung politischer Probleme, münzten sie in einen Standortvorteil gegenüber den Berufspolitikern um. Sie meinten, aufgrund ihrer Nähe zum sozialen Alltag und zur Praxis, etwa in Betrieben oder im Umgang mit Ämtern und Behörden, näher an der Wirklichkeit zu sein als die Abgeordneten in Bonn.
Um diese (selbst) zugeschriebenen Sehepunkte zu berücksichtigen, ist es sinnvoll, sowohl Wähler als auch Gewählte innerhalb des politischen Systems zu verorten und sie in einem Zentrum-Peripherie-Verhältnis zu beschreiben. Während das Parlament und andere Verfassungsorgane zum politischen Zentrum zählen, wo Entscheidungen getroffen werden, sind Bürgerinnen und Bürger an der politischen Peripherie zu verorten. Diese ist als eine Sphäre zu begreifen, in der die Bürgerinnen und Bürger ihr Wissen von der Welt generieren, ihre Sicht auf das entwickeln, was sie als kollektiv zu lösende Probleme begreifen, und das politische Zentrum dabei beobachten und begutachten, wie es diese Probleme bearbeitet.
Es handelt sich aber nicht einfach um einen Resonanzraum, denn die Peripherie kann auch Informationen an das Zentrum vermitteln, die dort auf die Entscheidungsfindung, vor allem auf die Entscheidungsbegründungen einwirken. Im Anschluss an die Systemtheorie lässt sich die politische Peripherie als zur gesellschaftlichen Umwelt hin offenerer Bereich des politischen Systems verstehen, ohne den das Zentrum die politischen Probleme des Gemeinwesens weder kennen noch lösen kann.
"waren die Leute vom Generalstab nicht schon immer zum mindesten verdächtig, etwas frontsfremd zu sein! Ich möchte glauben, daß man das auch von Parteivorständen oft sagen kann, da diese ja so unendlich mehr wissen, als der Spießbürger da draußen".
Wichtig ist dabei, dass die massenmediale Öffentlichkeit aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger Informationen aus dem politischen Zentrum an sie übermittelt, deshalb aber keineswegs ihre Sicht auf die Dinge einzufangen vermag, wenngleich sie versucht, sie zu beeinflussen. Viele Schreibende griffen gerade deshalb zum Papier, weil sie der Meinung waren, ihre Stimme nicht adäquat in der Presse oder im Rundfunk abgebildet zu sehen, oder weil sie meinten, innerhalb einer laufenden medialen Debatte einen eigenen Punkt machen zu können. Insofern verweist die Bürgerkommunikation stets auf die Grenzen der Partizipation durch Repräsentation – ob im Parlament, durch Parteien, andere Interessenorganisationen oder die Öffentlichkeit.
Häufig aber wollten Schreibende nicht nur für sich allein sprechen, sondern die politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten darüber unterrichten, was an der gesellschaftlichen Basis los war und welche Meinungen "im Volk" vorherrschten. Dabei gerierten sie sich als Vertreter des Demos und sprachen nur selten rein für sich selbst. Eine Hamburgerin, die 1972 kein gutes Haar an der SPD ließ und ihr dies auch brühwarm mitteilte, validierte ihre Einschätzung mit dem durchaus typischen Hinweis:
"Im Übrigen deckt sich meine Einstellung zur parteipolitischen Lage in Deutschland mit unserem grossen Freundes- und Bekanntenkreis".
Der selbstbestimmte Kontakt der Bürgerinnen mit ihren Vertretern hatte so auch eine sozialwissenschaftliche Funktion, die zunehmend mit dem Anspruch verbunden war, die Autorität bei der Konstruktion von Wirklichkeitswissen nicht Experten oder den Massenmedien zu überlassen. Mit der Zunahme sozialwissenschaftlicher Expertise und massenmedialer Aufbereitung von Fachwissen ging eine Zunahme seismografischer Stimmen aus der Wählerschaft einher, die mit eigenen Interpretationen aufwarteten, auch bedingt durch das wachsende Misstrauen gegenüber Expertenwissen seit den 1970er Jahren.
Der Anspruch von Bürgerinnen und Bürgern, die Wirklichkeit besser zu kennen und aus der Realität vor ihrer Haustür auf die Zustände der gesamten Republik schließen zu können, verband sich dabei in aller Regel mit der Tugend der Wahrhaftigkeit: Bürgerinnen und Bürger notierten, was sie für die Realität hielten. "Bullshitting" war in der "alten" Bundesrepublik noch nicht verbreitet, allerdings kam es durchaus zu Übertreibungen, verzerrten Wahrnehmungen und besonders stark unter den älteren Alterskohorten zu Verschwörungsfantasien, die unter anderem durch die NS-Sozialisation und die Prägung durch Kalter-Krieg-Propaganda erklärt werden können.
In der Art, wie Parteien und Abgeordnete mit der Bürgerpost umgingen, spiegelte sich die Vieldeutigkeit und Vielwertigkeit dieser Schreiben. Ganze Briefkonvolute wurden in Aktenordnern abgelegt, die mit "Spinner" überschrieben wurden. Andere, deren Adressaten bei klarem Verstand schienen, wurden mit Vermerken versehen, parteiintern weitergeleitet, beantwortet oder sogar rhetorisch im Bundestag eingesetzt, um zu betonen, dass man die gesellschaftlichen Realitäten kenne. Allerdings konnte das kontingente und nicht-repräsentative Wissen von der gesellschaftlichen Basis zu keiner Zeit dem sozialwissenschaftlich produzierten Wissen seinen Rang streitig machen.
Politische Repräsentation unter Begutachtung
Das Spezifische an der Beziehung zwischen Parlament und politischer Peripherie ist, dass hier Abgeordnete als Mittler im Spiel sind, die ihre Legitimation aus der politischen Peripherie beziehen, insofern Letztere die Lebenswelt des Demos ist. Hier evaluieren und überwachen Wählerinnen und Wähler auch die Repräsentationsleistung der Abgeordneten, an die jene in modernen Flächenstaaten ihre politische Macht als Souverän delegieren müssen.
Das Bewusstsein darum, die eigentlichen Urheber parlamentarischen Wirkens zu sein, veranlasste Bürger in der Bundesrepublik immer wieder, sich zur Beurteilungsinstanz zu machen. Das betraf nicht nur und gar nicht mal primär die inhaltliche Arbeit, denn bei ihrer eigentlichen Tätigkeit im Arbeitsparlament konnten sie die Bundestagsabgeordneten gar nicht beobachten, fand und findet doch die Ausschussarbeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. So war es in erster Linie die Performance der Gewählten im Plenum, die Bürgerinnen und Bürger kommentierten.
Ein besonders prominentes Beispiel für polarisierende Performanz lieferte der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), der bereits als Abgeordneter während seiner ersten Reden im Bundestag zahlreiche Bürger zu einer Reaktion motivierte. Er wirkte schneidig, aber auch arrogant, erntete enthusiastische Glückwünsche, aber auch empörten Tadel für seine Debattenbeiträge. Um hier einen Schreibenden aus Düsseldorf exemplarisch sprechen zu lassen, der sich 1966 an Schmidt wandte:
"Sind Sie der Meinung, Sie würden Ihren Wählern mit diesem Benehmen vor dem Parlament imponieren? Hoffentlich haben Sie sich am Abend in aller Ruhe auf dem Bildschirm gesehen und hoffentlich haben Sie sich so geschämt, wie wir es für Sie getan haben. Man muss schon sagen, dass es für einen Volksvertreter unwürdig war, so ein Benehmen an den Tag zu legen. Auf Ihren Spitznamen ‚Schmidt-Schnauze‘ brauchen Sie wirklich nicht stolz zu sein. Aus dem Alter des Halbstarkentums sind Sie heraus."
Weil die Repräsentationsbeziehung zwischen "Volk" und Volksvertretung so bedeutsam war, und weil viele Westdeutsche meinten, die Abgeordneten symbolisierten im Bundestag auch sie selbst oder die abstrakte Größe der Nation, konnten die Reaktionen auch weitaus brachialer ausfallen. "Sie werden eines Tages zur Rechenschaft gezogen", drohte ein Wähler Schmidt und meinte damit potenziell mehr als die bloße Abwahl.
Es gab umgekehrt Wählerinnen und Wähler, die "ihre" Vertreter unterstützten, eine Praxis, die in der Politisierung und Polarisierung nach 1968 zu einer regelrechten Bewegung anschwoll, mit Wählerinitiativen, die sich vereinzelt auch für einzelne Bundestagskandidierende gründeten.
"Seit Ende des 1ten Weltkrieges habe ich so viele Wahlen erlebt. mit Parolen, welche dem arbeitenden Menschen alles Mögliche versprachen. Beschlossen wurde dann im Parlament immer das, was schon lange vorher festgelegt war und von der Masse der Wähler gar nicht mehr beeinflusst werden konnte. Den Führenden sind ja auch Grenzen gesetzt und niemand kann über seinen Schatten springen. Ich verstehe daher absolut nicht die gegenseitige Hetze der Parteigrössen (sagt man ja wohl), anstatt den Wählern vernünftig und in Ruhe auseinanderzusetzen, dass die Meinung des einen falsch sein muss und die Meinung des andern vielleicht richtig. Letzten endes wollen doch alle dasselbe, das beste für’s Volk."
Das war bei aller Kritik auch ein Zeichen der spürbaren Aussöhnung vieler westdeutscher Wählerinnen und Wähler mit der Parteiendemokratie.
Politische Peripherie im Bundestag
Viel auszurichten war mit Bürgerbriefen nicht. Die Freiheit des Mandats, wie sie in der liberalen Repräsentativdemokratie gängig ist, gibt den Gewählten gegenüber den Wählenden eine große Unabhängigkeit. Abgeordnete sind so faktisch, auch wenn sie es in der heutigen Kommunikationsarbeit anders darstellen, nicht ihren Wählerinnen und Wählern, sondern nur – je nach Verfassung und politischer Kultur – ihrem Gewissen, der Nation oder auch Gott gegenüber verpflichtet. Als Begründung für die Unabhängigkeit der Abgeordneten wie auch der von ihnen gestützten Regierung vom Willen der Wählenden wird vor allem das Prinzip der Verantwortlichkeit ins Feld geführt: Wenn Abgeordnete und die durch sie legitimierten Regierungen weisungsgebunden sind, können sie nicht für ihre politischen Handlungen verantwortlich gemacht werden.
Dieses Selbstverständnis, frei von allen Weisungen zu sein, informierte und imprägnierte auch die Art, wie in den ersten knapp zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik die Wählerschaft in der parlamentarischen Kommunikation präsent gemacht wurde. Grundsätzlich erfolgt die Delegation demokratischer Souveränität von den Wählern zu den Gewählten im Rahmen eines personalisierten Verhältniswahlsystems, wonach seit 1953 die Hälfte der Abgeordneten mit der sogenannten Erststimme der Wahlberechtigten direkt als Wahlkreisvertreterinnen oder -vertreter in den Bundestag gewählt wurde.
Doch jenseits des Anspruchs, die Interessen des eigenen Wahlkreises zu vertreten, wobei es der Definitionsmacht der Abgeordneten, der Verbände und Vereine überlassen blieb, was als Interesse eines Wahlkreises zu gelten hatte, war die politische Peripherie – als Ort, wo der Demos wohnte und auch politisch mitredete – anfangs selten im Bundestag präsent. Zwar war sie als "Öffentlichkeit", "Volk", "Bevölkerung", "Wählerinnen und Wähler", die "Leute draußen" oder schlicht als Kollektivsingular "Deutschland" immerfort diskursiv im Plenum mobilisierbar. Doch welche Resonanz ihre Debatten und auch ihre laufenden Gesetzesvorhaben bei den Wählenden oder in den Wahlkreisen hervorriefen, wurde auch bei hochkontroversen Themen nur selten etwa in den Fraktionssitzungen besprochen. Wichtiger waren die Reaktionen der massenmedialen Öffentlichkeit sowie die Positionierungen der Verbände als Vertreter abstrakter Standes- und Berufsgruppen.
Auch als Reservoir politischer Legitimität war die politische Peripherie in den Fraktionssitzungen kaum von Belang. Nur hin und wieder erinnerten Abgeordnete einander daran, dass sie "draußen" mit Bürgerinnen und Bürgern konfrontiert waren, die ihnen Fragen stellten – insbesondere zu sozial- und außenpolitischen Themen. Gerade Neuankömmlinge im Parlament begaben sich in die Rolle der Aufklärer älterer Parlamentsroutiniers über das, was "draußen" für politisch wichtig befunden wurde, was "[d]as Volk" an Antworten von der CDU-Fraktion "erwarte" oder was die "Öffentlichkeit im Augenblick am meisten bewege". Indem sie im politischen Zentrum die Stimme der politischen Peripherie vertraten, erinnerten sie das Fraktionskollegium daran, den "Puls am Leben des Volkes" spüren zu müssen. Allerdings waren dies seltene Episoden, die eher noch in der Unionsfraktion als in der SPD anzutreffen waren.
Immer wieder standen die Arbeitsökonomie und die Funktionsweise des Parlaments als Teil des politischen Zentrums einer stärkeren Berücksichtigung der politischen Peripherie entgegen. Selbst Hinweise darauf, dass die Wahlen in den Wahlkreisen gewonnen würden und nicht im Bundestag, konnten in Zeiten einer starken Exekutive damit abgetan werden, dass es hieß, bei der vergangenen Wahl sei die Zugkraft der Union gegenüber den Wählern von der Parteispitze ausgegangen, nicht vom Ansehen der Kandidaten in den Wahlkreisen. Auf diese Weise warb Innenminister Gerhard Schröder (CDU) 1957 für das Vorhaben, die Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahlkreise stärker von den obersten Parteiorganen kontrollieren zu lassen.
Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ganz ungerechtfertigt, wenn seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, parallel zur Ausweitung außerparlamentarischer Oppositionsbewegungen, jüngere Parlamentarier sowie Politikwissenschaftler ein Repräsentations- und demokratisches Funktionsdefizit des westdeutschen Parlamentarismus diagnostizierten. Man beklagte eine mangelnde Öffentlichkeitsarbeit und ein mangelhaftes Image des Bundestages. Die Wahlreform hin zum Mehrheitswahlrecht, die sich die Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger annahm, zielte auch auf eine größere Verbindung zwischen Wahlkreisen und Mandatsträgern. In den 1970er Jahren, nach dem Fraktionswechsel von sechs Abgeordneten zur CDU/CSU 1972, der das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) erst ermöglichte, begann eine Debatte über das imperative Mandat, also die strikte Bindung eines Abgeordneten an den Auftrag seiner Wähler. Diese wurde begleitet von Diskussionen um die Kandidatenauswahl für den Bundestag. Immer wieder wurde ein Funktionsverlust des Parlaments beklagt; Politikwissenschaftler sahen den "repräsentativen Parlamentarismus" durch eine "parteienstaatliche Demokratie" ersetzt.
Der problematisierte und angegriffene Parlamentarismus ging jedoch, kontraintuitiv, mit einer Intensivierung des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses einher. Man könnte auch sagen: Der Parlamentarismus bewies seine Resilienz. Denn die partizipativen und basisdemokratischen Ideen der langen 1970er Jahre ließen sich dank wachsender Parteiorganisationen und auch begünstigt durch einen Generationenwechsel bei den Abgeordneten in einer intensiven Vor-Ort-Wahlkampfkultur auffangen, die auf Bürgernähe und die Offenheit für Inputs aus der Wählerschaft setzte.
Dieses intensive und extensive Zusammenschalten von politischem Zentrum und politischer Peripherie hatte eine gewisse Halbwertszeit, weil sie Ressourcen kostete und Erwartungen schürte, die sich nicht immer einlösen ließen.