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Keine reine Regierungssache | bpb.de

Keine reine Regierungssache Zunehmende Parlamentarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik

Jelena von Achenbach

/ 16 Minuten zu lesen

Traditionell fallen außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen in den Kompetenzbereich der Bundesregierung. Nicht zuletzt aus demokratischen Erwägungen hat das Bundesverfassungsgericht aber die Rechte des Bundestages gestärkt, insbesondere in der Europapolitik.

Die Außenpolitik ist im Wesentlichen Sache der Bundesregierung. Diese vertritt die Bundesrepublik in zwischen- und überstaatlichen Beratungen und Verhandlungen, wie in den UN, der NATO oder im Rahmen von Treffen der G7- oder G20-Staaten. Sie entscheidet und handelt in den Fragen der äußeren Sicherheit und Verteidigung, der Zusammenarbeit oder Konfrontation mit anderen Staaten. Dabei berät sie über ihre Ziele, Einschätzungen und Vorgehensweisen grundsätzlich nicht öffentlich; die Beratungen unterfallen dem exekutiven Arkanbereich. Der Bundestag kann sich daher im Regelfall nur nachvollziehend mit außenpolitischen Vorhaben und Vorgängen befassen, mittels seiner allgemeinen Frage-, Debatten- und Entschließungsrechte.

Der Bundestag hat zwar in einzelnen Aspekten der auswärtigen Gewalt Mitentscheidungs- und Beteiligungsrechte: insbesondere, wenn die Bundeswehr bewaffnet im Ausland eingesetzt wird, beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge und bei der Mitwirkung an der europäischen Integration. Aber diese Rechte sind – so die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Ausnahmen von dem Grundsatz, dass die Außenpolitik in der Gewaltenteilung des Grundgesetzes der Regierung zugeordnet ist. Sie sind eng zu deuten und nicht verallgemeinerbar.

So lehnt das Bundesverfassungsgericht es ab, für politisch und gesellschaftlich bedeutsame, umstrittene Vorgänge außenpolitische Mitentscheidungsrechte des Bundestages erweiternd auszulegen. Dafür stehen die Urteile, die das Gericht zur Stationierung von sogenannten Pershing-Raketen in Deutschland im Kontext des Kalten Krieges und, nach dessen Ende, zur Weiterentwicklung der NATO und ihrer strategischen Ausrichtung gefällt hat. Indessen hat das Gericht ein im Grundgesetz nicht benanntes Mitwirkungsrecht des Bundestages überhaupt erst eingeführt: den sogenannten Parlamentsvorbehalt für Einsätze der Bundeswehr. Entwickelt hat ihn das Gericht anhand des Einsatzes der Bundeswehr bei der Luftraumüberwachung gegen Serbien/Montenegro 1992 im Kontext der Jugoslawienkriege.

Traditionelle Staatsauffassung

Auch zur Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestehen zwischen den politischen Parteien und in der Gesellschaft vielfach unterschiedliche Positionen. Das betrifft Bundeswehreinsätze, Rüstungslieferungen und deren Gewichtung im Verhältnis zur Diplomatie, die Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern, einschließlich der Entwicklungszusammenarbeit und der Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten, oder die Entwicklung internationaler Organisationen wie der NATO und der Vereinten Nationen. Dabei ist die internationale Zusammenarbeit im Zuge der Globalisierung in vielen Politikfeldern immer dichter und politisch bedeutsamer geworden, gerade im Umgang mit Klimawandel, Sicherheitsfragen und Migration.

Die Maxime des Bundesverfassungsgerichts, dass die Außenpolitik der Bundesregierung zur eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung zuzuordnen sei, ist davon indes unberührt geblieben. Das Gericht argumentiert seit 1984 gleichlautend, dass "institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen".

Dieses Dogma, nach dem die außenpolitische Rolle des Bundestages schon aus funktionalen Gründen beschränkt sei, spiegelt – wie das Gericht selbst bekennt – eine traditionelle Staatsauffassung wider. Diese hat ihre Wurzeln im vordemokratischen, monarchischen Staatsdenken über die auswärtige Gewalt. Dabei hat sich die Erwägung, dass institutionell allein die Exekutive für das äußere Handeln aufgestellt sei, im Wesentlichen am Fall der Kriegsführung herausgebildet. Die Annahme ist, dass kriegerische Auseinandersetzungen von einer kurzfristigen und wechselhaften Handlungslogik der militärischen Schlagkraft und Wirkmacht geprägt seien, denen nur eine an militärischer Effektivität ausgerichtete und darin souveräne monokratische Führung gerecht werden könne. Dahinter steht eine staatstheoretische Auffassung, die die Streitkräfte letztlich als eine nicht nur gegenüber dem Parlament abgeschirmte, sondern selbst gegenüber der Exekutive eigenständige und notwendig extrakonstitutionelle "Vierte Gewalt" im Staat sieht – und damit einer rechtlichen Bindung gemäß demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien grundsätzlich entgegensteht.

Die traditionelle Staatsauffassung einer für die Außenpolitik alleinzuständigen Exekutive hält das Bundesverfassungsgericht auch angesichts der globalisierten, internationalisierten und europäisierten Gegenwart unverändert aufrecht. Trotzdem ist das Bild komplexer: Denn tatsächlich verfolgt das Gericht in einem bestimmten Bereich nachdrücklich das Ziel, dass die Bundesregierung den Bundestag wirksam und umfassend an der überstaatlichen Politikgestaltung beteiligt: nämlich auf dem weiten Feld der europäischen Integration. Auch in diesem Kontext vertritt die Bundesregierung Deutschland – nämlich im Rat der Europäischen Union und im Europäischen Rat. Diesen spezifischen Aspekt der Außenvertretung durch die Bundesregierung hat das Gericht auf der Grundlage des Artikels 23 Absatz 2 und 3 Grundgesetz extensiv begleitenden Informations-, Befassungs- und Stellungnahmerechten des Bundestages unterworfen. Dabei bezieht es nicht allein die supranationale Rechtsetzung, sondern auch nicht-supranationalisiertes Unionshandeln und sogar zwischenstaatliches Handeln mit einer funktionalen Nähe zur Union ein.

Zwar bleiben die unterschiedlichen Bereiche der Außenpolitik in der Rechtsprechung dogmatisch mehr oder weniger unverbunden. Insbesondere hat sich die Rechtsprechung zur Mitwirkung des Bundestages an den Angelegenheiten der Europäischen Union unabhängig von der Rechtsprechung zur Beteiligung an internationalem Handeln herausgebildet; mit Artikel 23 Absatz 2 und 3 GG gilt auch ein spezifisches verfassungsrechtliches Regime. Aber wie der Bundestag ausgreifend in die EU-Politikgestaltung einbezogen wird, unterläuft die traditionelle Staatsauffassung insgesamt. Das zeigt sich besonders deutlich an zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.

Unterrichtungspflichten zum völkerrechtlichen Vertrag im EU-Kontext

2012 hat das Bundesverfassungsgericht im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Währungsunion entschieden, dass die parlamentarischen Unterrichtungsrechte über Angelegenheiten der Union aus Artikel 23 Absatz 2 GG, insbesondere die Zuleitungspflicht für Dokumente zu Unionsvorhaben, sich auch auf völkerrechtliche Verträge in einem besonderen Näheverhältnis zum Unionsrecht beziehen. Konkret ging es um den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM), der als eigenständiges, zwischenstaatliches Finanzierungsinstrument außerhalb des Unionshaushalts eine wichtige Funktion in der Wirtschafts- und Währungsunion hat. Um die Stabilität des Euro zu gewährleisten, stellt der ESM Finanzmittel bereit, die Mitgliedern mit schwerwiegenden Finanzierungsproblemen als Stabilitätshilfen gewährt werden können. Dabei werden die Finanzhilfen mit Rückzahlungsverpflichtungen vergeben, die die sozial- und wirtschaftspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der unterstützten Mitgliedstaaten deutlich beschränken. Für die darlehensfinanzierten Hilfen aus dem ESM haften die Mitgliedstaaten anteilig in der Höhe ihres Stammkapitals; der ESM begründet damit finanzielle Verpflichtungen der nationalen Haushalte. Die Errichtung des ESM betraf politische Grundsatzfragen in der Währungsunion, insbesondere die Absicherung des Euro und die ökonomische Solidarität innerhalb der Union.

Der ESM wurde nicht durch einen Rechtsakt der Union, sondern als zwischenstaatliches Instrument durch einen völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedstaaten eingerichtet. Die Bundesregierung unterrichtete den Bundestag über Aspekte des Verhandlungsprozesses mündlich, leitete jedoch vorliegende Dokumente über die Errichtung des ESM nicht zu, insbesondere ein Konzeptpapier der Kommission und einen Entwurf des Vertrags über den ESM. Hiergegen hatte eine Oppositionsfraktion geklagt – und das Gericht gab ihr Recht: Aus Artikel 23 Absatz 2 GG ergibt sich ein Anspruch des Bundestages darauf, die Dokumente zu erhalten.

In der Auslegung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte im Grundgesetz, die das Gericht in dem Urteil entwickelt, wirkt die traditionelle Staatsauffassung zunächst fort: Das Gericht versteht die parlamentarische Mitwirkung an der europäischen Integration nach Artikel 23 Absatz 2 GG als Ausnahme von der ausschließlichen Zuständigkeit der Regierung für die Außenpolitik. Es deutet die Beteiligungsrechte des Bundestages in den europäischen Angelegenheiten als "Kompensation" für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union. Es gehe um die mit der europäischen Integration verbundenen Verschiebungen im nationalen Gewaltengefüge, die zulasten der Gesetzgebungsorgane und zugunsten der Exekutiven gingen. Das fordere die parlamentarische Demokratie auf nationaler Ebene heraus: Das Parlament werde aus der Rolle der zentralen Entscheidungsinstanz teilweise verdrängt. Die nationalen Parlamente stärker in den Integrationsprozess einzubinden, könne deren Kompetenzverluste gegenüber der jeweiligen nationalen Regierung ausgleichen ("Kompensationsgedanke"). Damit verankert das Gericht die europapolitischen Mitwirkungsrechte des Bundestages in der innerstaatlichen Funktionenordnung, wie sie vor der Integration bestand.

Nun handelt es sich beim ESM-Vertrag aber nicht um Rechtsetzung der Union in Anwendung der ihr übertragenen Hoheitsrechte, die der Bundestag gemeinsam mit den anderen nationalen Gesetzgebern verloren hat. Es handelt sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, wenn auch um einen, der, wie das Gericht ausführlich begründet, funktional auf das Recht der Union bezogen ist. Völkerrechtliche Verträge zu verhandeln, liegt jedoch nach der allgemeinen Gewaltenordnung des Grundgesetzes in der Zuständigkeit der Bundesregierung; der Bundestag ist nach Artikel 59 Absatz 2 GG auf die nachträgliche Zustimmung beschränkt. Ob die Bundesregierung im Rahmen völkerrechtlicher Vertragsverhandlungen Unterrichtungspflichten treffen, ist bislang ungeklärt. Daher unterrichtet die Bundesregierung über internationale Vertragsverhandlungen bislang nach eigenem Gutdünken und jedenfalls ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.

Für den völkerrechtlichen ESM-Vertrag begründet das Gericht nun aber aus Artikel 23 Absatz 2 GG eine Unterrichtungspflicht, deren Auslegung es daran orientiert, dem Bundestag eine "frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung" zu eröffnen. Das Gericht verfolgt ausdrücklich eine weite Auslegung des Mitwirkungsrechts und seines tatbestandlichen Anwendungsbereichs. Es betont, dass der Bundestag gerade nicht in eine "bloß nachvollziehende Rolle" geraten dürfe: Er müsse durch eine ausreichende Informationsgrundlage in die Lage versetzt werden, das Handeln der Regierung zu beeinflussen. Das geht nur mit der begleitenden, frühestmöglichen Dokumentenzuleitung, erforderlichenfalls ergänzt durch mündliche Information.

Die Unterrichtungspflicht soll, wie das Gericht formuliert, dazu beitragen, "Informationsasymmetrien" zwischen Bundesregierung und Bundestag auszugleichen. Das gebietet die frühestmögliche, unverzügliche und umfängliche Zuleitung von Dokumenten, die die Bundesregierung selbst erhält oder in einen europäischen Verhandlungsprozess einbringt. Die Teilhabe des Bundestages an Konzepten, Entwürfen, Vorlagen, Non-Papers und sonstigen Dokumenten, die Teil und Gegenstand der Willensbildung auf europäischer Ebene und der mitgliedstaatlichen Regierungen sind, ist in der Praxis unverzichtbare Grundlage einer tatsächlich eigenständigen, unabhängigen parlamentarischen Meinungs- und Willensbildung. Solche Dokumente sind prägender Teil der europäischen Politikgestaltung. Zugleich ist dieser Prozess in diesem Stadium noch nicht abgeschlossen. Nur in der zeitlichen Phase, in der Konzepte und Beschlussentwürfe entwickelt und beraten werden, ist der politische Prozess noch offen. Nur dann ist es noch möglich, dass eine Einwirkung des Bundestages auf die Bundesregierung und deren Positionierung auf europäischer Ebene politisch zum Tragen kommen kann.

Interessanterweise zieht das Gericht ausführlich auch demokratische Erwägungen heran, um zu begründen, dass der Bundestag ein Recht auf die Entwurfsdokumente des völkerrechtlichen ESM-Vertrages hatte: Die Öffentlichkeit der parlamentarischen Auseinandersetzung eröffne im Vergleich zu intransparenten Beratungen weitere Möglichkeiten des Interessenausgleichs, stärke die Responsivität für die Interessen und Überzeugungen der Bürger und schaffe die Voraussetzung für deren demokratische Kontrollausübung. Das Gericht betont, dass "Entscheidungen von erheblicher rechtlicher oder faktischer Bedeutung für die Spielräume künftiger Gesetzgebung" ein Verfahren vorausgehen müsse, das eine öffentliche Meinungs- und Willensbildung ermögliche und in dem das Parlament die Rechtfertigung und Reichweite der zu beschließenden Maßnahmen kläre. Es ist offensichtlich, dass die regierungsinterne Beratung, die die Öffentlichkeit ausschließt, dies nicht leistet.

Das Urteil zum ESM-Vertrag ist bemerkenswert, weil es einen spezifischen Aspekt der auswärtigen Gewalt – den völkerrechtlichen Vertrag im Unionskontext – mit ganz offensichtlich verallgemeinerbaren, ja, allgemeingültigen Argumenten parlamentarisiert: Es unterwirft die Verhandlung solcher völkerrechtlichen Verträge einem weitreichenden Unterrichtungsregime. Dies zielt darauf, die aus der Außenvertretung durch die Regierung folgende Informationsasymmetrie auszugleichen, die das Parlament strukturell benachteiligt. Der Bundestag soll damit in die Lage versetzt werden, Öffentlichkeit herzustellen und frühzeitig und effektiv auf die Positionierung der Bundesregierung Einfluss zu nehmen. Das soll sicherstellen, dass die überstaatlichen Entscheidungen, an denen die Bundesregierung beteiligt ist und die in die innerstaatliche Politikgestaltung rechtlich oder auch bloß faktisch hineinwirken, demokratisch angebunden und legitimiert werden.

Informationsasymmetrien zulasten von Parlament und Öffentlichkeit entstehen immer dann, wenn die Regierung im überstaatlichen Kontext handelt, und die überstaatliche Politik, die sie mitgestaltet, wirkt vielfach in den innerstaatlichen Bereich hinein, zum Teil durch förmliche Rechtsverpflichtungen, zum Teil in der Form politisch-faktischer Bindungseffekte – auch solche nimmt das Gericht ausdrücklich in den Blick. Das heißt, dass die argumentativen Gründe, die das Gericht für die Parlamentarisierung des völkerrechtlichen Vertrags im Unionskontext anführt, ebenso für Verträge außerhalb dieses Kontexts Geltung beanspruchen.

Unterrichtungspflichten zur EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik

2022 hat das Bundesverfassungsgericht am Fall der Vorbereitung des EU-Militäreinsatzes im Mittelmeer EUNAVFOR MED (European Union Naval Force – Mediterranean) 2015 geklärt, dass die Bundesregierung den Bundestag auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der dazu zählenden Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union gemäß Artikel 23 Absatz 2 GG durch Dokumentenzuleitung unterrichten muss. Dabei ging es um das sogenannte Krisenmanagementkonzept für einen militärischen Einsatz im Kontext der verstärkten Migrationsbewegungen im südlichen und zentralen Mittelmeer und der großen Zahl an Schiffsunglücken mit hohen Opferzahlen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten standen bei der Planung des Militäreinsatzes vor ganz grundsätzlichen und kontroversen Fragen, wie mit der verstärkten Migrationsbewegung aus armen und krisen- und konfliktgeprägten Regionen nach Europa umzugehen sei.

Das unter der Führung der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini entwickelte Krisenmanagementkonzept, mit dem letztlich über diese Fragen entschieden wurde, war ein hochpolitisches Dokument, an dem ein klares parlamentarisches und öffentliches Interesse bestand. Die Bundesregierung erkannte jedoch bis zum Urteil in der Sache EUNAVFOR MED für das gesamte Politikfeld der GASP/GSVP grundsätzlich nicht an, dass die parlamentarischen Informations- und Mitwirkungsrechte im Sinne des Grundgesetzes gelten. Sie reichte das Krisenmanagementkonzept für den vom Rat zu beschließenden Militäreinsatz nicht an den Bundestag weiter. Darin scheint das bereits umrissene tradierte Verständnis auf, dass die Regierung in der Außenpolitik von parlamentarischer Mitwirkung grundsätzlich freigestellt sei.

Auch das Gericht nimmt die traditionelle Staatsauffassung wiederum in Bezug und bestätigt die Lesart, dass die Beteiligungsrechte des Bundestages in den europäischen Angelegenheiten als "Kompensation" für die Übertragung von Hoheitsrechten an die Union dienten. Wo Gesetzgebungsbefugnisse an die Union übertragen wurden, werde der Bereich der parlamentarischen Gestaltung kleiner; zugleich vergrößere sich die Handlungssphäre der Bundesregierung, die im Rat direkt an der europäischen Gesetzgebung mitwirkt.

Die europapolitischen Mitwirkungsrechte des Bundestages sind danach aus der innerstaatlichen Funktionenordnung abgeleitet, wie sie vor der Übertragung von Hoheitsrechten an die Union bestand. In der GASP/GSVP wurden jedoch, wie das Gericht ausdrücklich festhält, keine Gesetzgebungszuständigkeiten an die Union übertragen. Damit fehlt von vornherein ein Kompetenzverlust des Bundestages, sodass eine Kompensation durch Mitwirkung nach Artikel 23 Absatz 2 GG nicht angezeigt wäre. Entsprechend hatte die Bundesregierung argumentiert. Danach sollte sich auch in Bezug auf die EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die grundsätzliche Alleinzuständigkeit der Bundesregierung für die auswärtigen Angelegenheiten durchsetzen.

Das Gericht folgt dieser Auffassung jedoch nicht. In der GASP/GSVP seien zwar keine Hoheitsrechte übertragen worden, aber der Politikbereich sei Teil des Integrationsprogramms der Europäischen Union. Damit löst das Gericht allerdings Artikel 23 Absatz 2 GG vom Kompensationsgedanken ab. Es unterscheidet in Bezug auf die parlamentarische Mitwirkung an der Unionspolitik eben nicht qualitativ zwischen auswärtigen und inneren Angelegenheiten. Das Gericht begründet die Mitwirkung des Bundestages an der GASP/GSVP wiederum mit demokratischen Erwägungen; die Argumentation folgt der zum ESM-Vertrag. Das Gericht betont, dass das Parlament frühestmöglich auf einen der Regierung im Wesentlichen ebenbürtigen Informationsstand gebracht werden muss, damit es eine eigene europapolitische Agenda verfolgen kann. Insgesamt hat die Entscheidung die Mitwirkungsrechte des Bundestages in Außen- und Verteidigungsangelegenheiten konzeptionell auf eine neue Stufe gehoben.

Verfassungsentwicklung der außenpolitischen Gewaltenteilung

Die Gewaltenteilung in der Außenpolitik wird in drei Punkten erheblich fortentwickelt. Erstens durchbricht die umfängliche inhaltliche Teilhabe des Bundestages an der Europapolitik, die Artikel 23 Absatz 2 GG eröffnet, schon an und für sich das Dogma, dass die Exekutive funktionsbedingt für die äußeren Angelegenheiten allein zuständig sein müsse. Handelt die Bundesregierung in der Union, ist sie uneingeschränkt in einen Verantwortungsverbund mit dem Bundestag eingebunden: Zwischen der handlungsverantwortlichen Bundesregierung und dem "demokratieverantwortlichen" Bundestag besteht ein Konsultationsverhältnis, in dem das Parlament politisch-diskursiv auf die Regierung und ihr Handeln einwirkt.

Zudem aber verweist diese Parlamentarisierung der Europapolitik über sich selbst und den durch Artikel 23 GG gezogenen Anwendungsbereich hinaus. Das zeigt sich zweitens in einem weiteren Moment der Parlamentarisierung: Auch völkerrechtliche Verträge unterfallen nicht mehr ausschließlich dem Vorbehalt der nachträglichen Zustimmung durch den Bundestag. Im Unionskontext hat das Bundesverfassungsgericht das Modell entwickelt, dass der Bundestag zu völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen begleitend durch Dokumentenzuleitung unterrichtet wird. Dieses Modell beruht im Wesentlichen auf demokratischen Erwägungen. Diese beanspruchen allgemeine Geltung für rechtliche und politische Bindungen, die die Bundesregierung für die Bundesrepublik zwischen- oder überstaatlich einzugehen gedenkt: Öffentlichkeit und eine pluralistische Meinungs- und Willensbildung über das konkrete Vorhaben sind notwendig, damit die demokratische Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern mit Leben gefüllt wird und nicht nur abstraktes Prinzip bleibt.

Es kommt ein dritter Punkt hinzu: Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union unterfällt uneingeschränkt der Teilhabe des Bundestages nach Artikel 23 Absatz 2 GG. Damit gibt das Gericht klar den Fokus auf, dass die Teilhabe des Bundestages der Kompensation für die Abgabe gesetzgeberischer Zuständigkeiten dient. Vielmehr wird das Wissensgefälle zwischen Bundesregierung und Bundestag zu einem wesentlichen, tragenden Argument, weil es ein Hindernis für die demokratische Willensbildung ist. Das aber gilt nicht allein in der Union, sondern in zwischen- und überstaatlichen Kontexten generell. In den demokratieprinzipiellen Erwägungen des Urteils ist angelegt, dass der Bundestag auch zu internationalen Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen auf einen der Regierung ebenbürtigen Informationsstand gebracht werden müsste.

Diese Vorgänge der Parlamentarisierung prägen zunehmend auch die Erwartungen, die Abgeordnete hinsichtlich der außenpolitischen Rolle des Bundestages insgesamt haben: Die parlamentarische Teilhabe an der auswärtigen Gewalt im Bereich der Europapolitik wird als Normal- und Regelfall wahrgenommen. Dafür steht etwa der Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Gewaltenteilung bei internationalen Entscheidungsprozessen, den die damaligen Oppositionsfraktionen FDP und Bündnis 90/Die Grünen 2019 eingebracht haben. Er sollte die Teilnahme der Bundesregierung an der internationalen Gipfeldiplomatie und an UN-Generalversammlungen stärker parlamentarisch anbinden, indem dazu Vor- und Nachbereitungsdebatten mit der Bundesregierung stattfinden sollten.

Politisierung durch Parlamentarisierung

Dass das Handeln der Regierung an die Willensbildung im Bundestag und damit an eine Politisierung in der Öffentlichkeit angebunden ist, ist demokratisch unverzichtbar. Die allgemeine, institutionsbezogene Legitimation der Bundesregierung, die von der Wahl des Bundeskanzlers abgeleitet ist, kann den Legitimationsbedarf allein nicht decken. Das gilt auch in der Außenpolitik. Wie die Regierung handelt, bedarf konkret einer sachlich-inhaltlichen Legitimation, die sich vom Parlament herleitet. Die Außenpolitik ist jedoch kaum durch Gesetzgebung geprägt, sodass die Gesetzesbindung in diesem Bereich nicht als Faktor zur Geltung kommt.

Umso wesentlicher ist, dass das Parlament nicht durch das exekutive Unterrichtungs- und Zuleitungsgebahren in der Außenpolitik darauf beschränkt wird, abgeschlossene Entscheidungen und Akte der Bundesregierung nachzuvollziehen. Das Gericht erkennt einerseits in ständiger Rechtsprechung einen sogenannten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung an. Dieser schirmt den Prozess der internen Entscheidungsfindung der Regierung ab, was sich insbesondere auf Erörterungen im Kabinett und die Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen erstreckt. Andererseits ist die Einflussnahme auf die Willensbildung der Regierung gerade der Zweck der Unterrichtung nach Artikel 23 Absatz 2 GG – und auch der allgemeinen parlamentarischen Kontrolle, die der Bundestag über seine Frage-, Debatten- und Entschließungsrechte ausübt. Dies begrenzt die Berufung auf den Kernbereich. Die Bundesregierung muss durch das Zuleiten von Dokumenten ermöglichen, dass der Bundestag sich autonom mit zwischen- und überstaatlichen Vorhaben befassen, sich positionieren und artikulieren kann, bevor die Bundesregierung ihr Vorgehen festlegt.

Das demokratische Leitbild ist folgendes: Vor den Augen der Allgemeinheit und im Austausch mit dieser findet eine inhaltlich offene, öffentliche Meinungs- und Willensbildung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier von regierungstragender Mehrheit und Opposition und eine mehrheitliche Positionierung statt. Das bedeutet nicht, dass der Bundestag gewaltenteilungswidrig "mitregiert". Es geht vielmehr darum, dass die Regierung nicht ohne Rückbindung an Parlament und demokratische Öffentlichkeit "durchregiert".

Die öffentliche parlamentarische Befassung eröffnet eine politisch-kommunikative, diskursive Einwirkung auf die Regierung. Es geht darum, dass die Regierung sich selbsttätig für vorgebrachte Erwägungen öffnet oder sich politisch abgrenzt, sich aber jedenfalls politisch auseinandersetzt und öffentlich erklärt, warum sie wie zu handeln gedenkt. Es geht um eine gemeinsame politische Verantwortung von Parlament und Regierung, sodass die außenpolitische Positionsfindung der Regierung in eine parlamentarische und allgemeine Auseinandersetzung eingebettet ist, in der die Regierung auch öffentlich mit Kritik und Alternativvorschlägen zu ihrem geplanten Vorgehen konfrontiert ist. Die außenpolitische Teilhabe des Bundestages auf Grundsatzfragen zu begrenzen, ist dabei nicht angezeigt. Oft werfen außenpolitische Einzelfallentscheidungen grundsätzliche Fragen auf, während abstrakt-allgemeine Grundsatzfragen der Außenpolitik im Alltagsgeschäft schwerer politisierbar sind als konkrete Entscheidungskonstellationen. Weder die Funktion noch die Leistungsfähigkeit des Bundestages gebieten, dass er nur mit Grundsatzfragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik befasst wird. Der Bundestag hat sich europäisiert und befasst sich ohnehin intensiv mit vielen Themen und innerstaatlichen Effekten internationaler Verhandlungen etwa zur Klima-, Sicherheits- und Migrationspolitik.

Infolge der Parlamentarisierungsbewegungen in der auswärtigen Gewalt, die hier beleuchtet wurden, wird es zunehmend kontrafaktisch und unglaubwürdig, an der traditionellen Staatsauffassung festzuhalten, dass eine exekutive Alleinzuständigkeit für die auswärtigen Angelegenheiten funktional geboten und verfassungsrechtlich angemessen ist. Zwar hat das Gericht aus seinen demokratischen Erwägungen noch nicht die allgemeine Konsequenz gezogen. Aber das Argument, dass die informierte parlamentarische Befassung Voraussetzung dafür ist, dass außenpolitische Vorhaben demokratisch legitimiert werden, führt zu einer grundsätzlichen Einsicht: Den Bundestag darauf zu beschränken, die außenpolitischen Entscheidungen der Bundesregierung bloß nachzuvollziehen, wird der offenen und zugleich demokratisch verfassten Staatlichkeit des Grundgesetzes in einer globalisierten, internationalisierten Welt nicht mehr gerecht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. BVerfGE (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes) 68, 1 (Pershing), 18.12.1984; BVerfGE 104, 151 (NATO-Konzept), 22.11.2001.

  2. Vgl. BVerfGE 90, 286 (Auslandseinsatz der Bundeswehr), 12.7.1994. Zur Entwicklung des Parlamentsvorbehalts vgl. Ulrich Hufeld, 25 Jahre wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt, Archiv des Völkerrechts 4/2019, S. 383–427.

  3. BVerfGE 68, 1, Rn. 145; BVerfGE 131, 152 (Euro-Plus-Paket), 19.6.2012, Rn. 91. Vgl. BVerfGE 143, 101 (NSA-Selektorenlisten), 13.10.2016, Rn. 131; BVerfGE 157, 1 (CETA), 2.3.2021, Rn. 75, BVerfGE 163, 298 (EUNAVFOR MED), 26.10.2022, Rn. 66; vgl. auch BVerfGE 104, 151, Rn. 149.

  4. BVerfGE 163, 298, Rn. 66.

  5. Zu den Wurzeln in der monarchischen Staatlichkeit vgl. Isabelle Ley, Zwischen parlamentarischer Routine und exekutiven Kernbereichen. Die Kompetenzverteilung der auswärtigen Gewalt von Parlament und Regierung unter dem Grundgesetz, in: Archiv des öffentlichen Rechts 2/2021, S. 299–352, hier S. 324ff. Zu ideengeschichtlichen Anschlüssen an die frühneuzeitliche Staatstheorie, die den Zusammenhang von Souveränität (als Fürstensouveränität) und militärischer Handlungsfähigkeit betont, vgl. Jelena von Achenbach, Integration in der Verteidigungspolitik der Europäischen Union, i.E., S. 62ff.

  6. Vgl. dazu von Achenbach (Anm. 5), S. 34ff.

  7. Vgl. ebd.

  8. Zu den weitgehend unvernetzten Bereichen der auswärtigen Gewalt in der Rechtsprechung vgl. Ley (Anm. 5), S. 299.

  9. Vgl. BVerfGE 131, 152, Rn. 91, Rn. 98.

  10. Vgl. ebd., Rn. 103.

  11. Vgl. ebd., Rn. 96.

  12. Vgl. ebd., Rn. 96, Rn. 103.

  13. Vgl. ebd., Rn. 99ff.

  14. Ausdrücklich mit Verweis darauf vgl. ebd., Rn. 93.

  15. Ebd., Rn. 107.

  16. Vgl. ebd., Rn. 99ff.

  17. Vgl. ebd., Rn. 109.

  18. Vgl. ebd., Rn. 116ff.

  19. Vgl. ebd., Rn. 113.

  20. Vgl. ebd., Rn. 114.

  21. Die folgende Argumentation basiert auf der Urteilsanalyse in Jelena von Achenbach, Der Bundestag in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Verfassungsentwicklung der auswärtigen Gewalt, in: Juristenzeitung 6/2023, S. 237–245, hier S. 237.

  22. Vgl. BVerfGE 163, 298, Rn. 46f.

  23. Vgl. ebd., Rn. 70, Rn. 77.

  24. Vgl. in diesem Sinne ebd., Rn. 70f.

  25. Vgl. ebd., Rn. 45.

  26. Vgl. ebd., Rn. 105.

  27. Vgl. ebd., Rn. 87, wie in BVerfGE 131, 152, Rn. 112.

  28. Vgl. ebd., Rn. 78.

  29. Vgl. Jelena von Achenbach, Parlamentarische Informationsrechte und Gewaltenteilung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3/2017, S. 491–515, hier S. 497.

  30. Vgl. Bundestags-Drucksache 19/11151, 25.6.2019.

  31. Vgl. Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Heidelberg 20043, §24, Rn. 21.

  32. Vgl. BVerfGE 163, 298, Rn. 67, Rn. 82.

  33. Vgl. von Achenbach (Anm. 29), S. 506ff.

  34. Zur gemeinsamen Verantwortung BVerfGE 163, 298, Rn. 65. Siehe zudem bereits BVerfGE 131, 152, S. 204ff., wo ausführlich der Gedanke entfaltet wird, dass Artikel 23 Absatz 2 GG die diskursive Kapazität der öffentlichen parlamentarischen Willensbildung aktivieren solle, siehe auch BVerfGE 163, 298, Rn. 87.

  35. Im Sinne einer besseren Verwirklichung des demokratischen Potenzials des Parlaments durch eine Konzentration auf Grundsatzfragen der Außenpolitik hingegen Ley (Anm. 5), S. 340ff.

  36. Zu der äußerst restriktiven Auslegung der Informationsrechte des Bundestages im Bereich der Rüstungsexporte vgl. Jelena von Achenbach, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, in: Juristenzeitung 2/2015, S. 96–99; Heike Krieger, Verteidigung in Zeiten des geopolitischen Wandels, in: Juristenzeitung 21/2022, S. 1013–1021, hier S. 1013.

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