Das neue Wahlgesetz, das am 17. März 2023 von der Mehrheit der Ampelkoalition im Bundestag verabschiedet wurde, wird die jahrzehntelange Debatte um eine geeignete Reform wohl nicht beenden. Denn mit der Streichung der Grundmandatsklausel, wonach eine Partei in den Bundestag einziehen kann, die nicht die mindestens erforderlichen fünf Prozent der Wählerstimmen bekommen hat, wenn sie in mindestens drei Wahlkreisen das Direktmandat erhalten hat, berührt das neue Gesetz die existenziellen Interessen der Linken und der CSU. Kein Wunder also, dass diese – neben anderen – im Juni 2023 beim Bundesverfassungsgericht gegen das neue Wahlgesetz geklagt haben. Mit dem Gesetz – so der Vorwurf – habe die Ampelmehrheit im Bundestag "nicht nur in eigener Sache, sondern für die eigene Sache" gehandelt, wie es CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt bei seiner Stellungnahme anlässlich der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts ausgedrückt hat. Der langjährige Linken-Parteivorsitzende Gregor Gysi bezeichnete das Vorgehen der Ampel als "unmoralisch".
Das Ausmaß der Empörung korreliert nicht immer harmonisch mit der Qualität der Argumente. Das ist weder ungewöhnlich noch verwerflich, denn das politische Alltagsgeschäft besteht nicht zwingend im Formulieren der stichhaltigsten Argumente, sondern – besonders für Parteien im Wahlkampfmodus – oft im Finden von Narrativen, die in der Öffentlichkeit auf die meisten Sympathien treffen. Oder polemisch zugespitzt in den Worten der viktorianischen Autorin George Eliot: "Oppositionen verfügen über ein unbegrenztes Spektrum an Einwänden, die nie vor den Grenzen des Wissens haltzumachen brauchen, sondern ewig auf die weiten Bereiche der Ignoranz zurückgreifen können."
Dieses Unbehagen kann damit erklärt werden, dass Wahlgesetzreformen insofern immer eine äußerst heikle Angelegenheit sind, als sie die Regeln der Machtverteilung in der Demokratie betreffen. Interessen hinsichtlich einer bestimmten Ausgestaltung des Wahlsystems sind daher zwangsläufig immer auch Machtinteressen. Aber "Machtinteressen sollten in einer Demokratie genau dann nicht ins Spiel gelangen, wenn es um die Spielregeln der Machtverteilung selbst geht".
Vorgeschichte der Reform
Durch die Fokussierung der öffentlichen Diskussion der Reform auf die Streichung der Grundmandatsklausel gerät leider oft der eigentliche Kern des Unterfangens aus den Augen. Dieser besteht in der Lösung für ein Problem, das seit mehr als dreißig Jahren offenkundig ist: der massive Anstieg der Anzahl der Überhangmandate. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr dort gemäß ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Grund für die Zunahme der Überhangmandate seit den 1990er Jahren ist die neue Struktur des Parteiensystems. Zum einen sind immer mehr Parteien hinzugekommen, zum anderen hat sich das Parteiensystem nivelliert – die großen Parteien sind nicht mehr so groß wie früher und die kleinen nicht mehr so klein. Dies hat zur Folge, dass eine Partei beziehungsweise ihr Kandidat oder ihre Kandidatin einen Wahlkreis auch schon mit weniger und teilweise deutlich weniger als 30 Prozent der Erststimmen gewinnen kann. 1957 etwa musste eine Partei, um ein Direktmandat zu erhalten, in der Regel noch mehr als 40 Prozent der Erststimmen haben (Abbildung). Der durchschnittliche Anteil an Erststimmen eines Wahlkreissiegers betrug 52,5 Prozent. In 53 Prozent der 247 Wahlkreise wurde das Direktmandat mit mehr als der Hälfte der Erststimmen gewonnen und in 89 Prozent der Wahlkreise mit mehr als 40 Prozent.
Bei der Bundestagswahl 2021 hingegen wurden die 299 Wahlkreismandate durchschnittlich nur noch mit einer relativen Mehrheit von 33,4 Prozent der Erststimmen gewonnen. Ein einziger Wahlkreis wurde mit mehr als 50 Prozent der Erststimmen gewonnen, und nur noch 13 Prozent mit mehr als 40 Prozent der Erststimmen, also nur noch ein Siebtel des Anteils von 1957. Über ein Viertel der Direktmandate wurde mit weniger als 30 Prozent der Erststimmen gewonnen.
Da die Direktmandate die Hälfte der regulären Sitzzahl im Bundestag ausmachen, ist eine Partei, die mit rund 30 Prozent der Stimmen alle oder annähernd alle Direktmandate in ihrem Bundesland gewinnen kann, dort um etwa zwei Drittel überrepräsentiert. Bleiben die Überhangmandate unausgeglichen, ergibt sich für die Überhangspartei ein entsprechender Vorteil und damit eine Verletzung des Gebots gleicher Erfolgschancen für alle Parteien. 2012 wurden die Überhangmandate durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig erklärt,
Das gemeinsam von allen Parteien außer der Linken verabschiedete Gesetz von 2013 sah daher konsequenterweise den Ausgleich aller Überhangmandate vor, um die korrekten Verhältnisse zwischen den Parteien entsprechend dem Zweitstimmenergebnis wieder herzustellen. Damit war allerdings die logische Folge einer entsprechenden Vergrößerung des Bundestages verbunden. Vergrößerte sich der Bundestag bei der Bundestagswahl 2013 noch relativ maßvoll auf 631 Sitze, so wuchs er 2017 schon um 111 auf insgesamt 709 Sitze an. Der Alterspräsident Hermann Otto Solms sprach in seiner Eröffnungsrede des neuen Bundestages in diesem Zusammenhang von einem "aufgeblähten Parlament", unter dessen Größe "Ansehen und Arbeitsfähigkeit" leiden,
Neuer Wind kam durch einen Vorschlag der drei Oppositionsfraktionen Grüne, FDP und Linke in die Debatte, der als Kernelement eine Reduktion der Wahlkreise auf 250 beinhaltete.
Ein Aspekt des Wahlgesetzes von 2020 bestand darin, dass dort auch eine Reformkommission vorgesehen war. Diese wurde im März 2022 mit dem folgenden Auftrag eingesetzt: "Die Kommission soll sich auf der Grundlage der Prinzipien der personalisierten Verhältniswahl mit Vorschlägen befassen, die eine effektive Verkleinerung des Bundestages in Richtung der gesetzlichen Regelgröße bewirken und nachhaltig das Anwachsen des Bundestages verhindern."
Zum Umgang mit Überhangmandaten
Die Wurzel des Problems liegt in den Überhangmandaten und deren dramatischer Zunahme seit der Wiedervereinigung. Eine Möglichkeit der Behandlung dieses Problems besteht darin, die Überhangmandate so weit wie möglich, also im Extremfall bis zur Höchstgrenze von 15, unausgeglichen zu lassen. Beim Wahlgesetz von 2020 hatte die Union, die aus naheliegenden Gründen diese "Lösung" präferiert, immerhin durchgesetzt, dass bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen bleiben konnten. Bei der Bundestagswahl 2021 kam dies der CSU zugute, da sie mit 45 errungenen Direktmandaten, obwohl ihr aufgrund der Zweitstimmen nur 34 Mandate zugestanden hätten, die am stärksten überrepräsentierte Partei war, sodass sich der Ausgleich an ihr orientierte. Während die anderen Parteien mehr als 57700 Wähler pro Mandat benötigten, bezahlte die CSU wegen der drei unausgeglichenen Überhangmandate ihre Mandate nur mit durchschnittlich ungefähr 53400 Wählerstimmen. Für jeweils eine Million Wählerstimmen entfielen auf die CSU 18,7 Sitze, auf die anderen Parteien nur 17,3 Sitze.
Gerade um solche gravierende oder bei mehr unausgeglichenen Überhangmandaten noch gravierendere Ungerechtigkeiten hinsichtlich der Erfolgschancengleichheit der Parteien zu vermeiden, war im Wahlgesetz von 2013 der Ausgleich der Überhangmandate beschlossen worden. Der vollständige und daher gerechte Ausgleich aller elf Überhangmandate der CSU hätte 2021 zu einer Vergrößerung auf 787 Sitze (beziehungsweise 784 auf Basis der Berliner Nachwahlergebnisse) geführt.
Eine weitere Möglichkeit der Behandlung des Problems der Überhangmandate besteht in der Neutralisierung ihres proporzverzerrenden Effekts, indem sie mit Landeslistenmandaten verrechnet werden. Überhangmandate etwa der CDU in Baden-Württemberg könnten dann durch einen Abzug von Listenmandaten der CDU in anderen Bundesländern neutralisiert werden. Das Gesetz von 2020 sah als eine sogenannte "Dämpfungsmaßnahme" einen solchen Mechanismus vor, allerdings sollte das "Opfer" der Listenmandate maximal auf ihre Hälfte begrenzt werden. Solche Kompensationsmodelle werfen allerdings neue Gerechtigkeitsprobleme auf.
Der Lösungsweg, den das Gesetz von 2023 eingeschlagen hat, greift das Problem der Überhangmandate auf folgende Weise auf: Hat eine Partei in einem Bundesland aufgrund ihrer Zweitstimmen Anspruch auf X Mandate, aber in X+U Wahlkreisen eine relative Mehrheit an Erststimmen mit ihren Kandidaten, dann erhalten nur die Kandidaten mit den X besten Erststimmenergebnissen, nach Höhe des Erststimmenanteils, ein Wahlkreismandat. Das heißt, die Partei erhält nur so viele Direktmandate, wie durch ihr Zweitstimmenergebnis in dem entsprechenden Bundesland gedeckt sind. Für diese oft als "Kappungsmodell" bezeichnete Variante sprach sich unter anderem der Wahlrechtler Hans Meyer aus.
Es gäbe allerdings auch andere Möglichkeiten, Überhangmandate gar nicht erst entstehen zu lassen. Die meistdiskutierte Variante besteht dabei in einer Reduktion der Anzahl der Wahlkreise. So sah auch das Wahlgesetz von 2020 eine Verringerung auf 280 Wahlkreise vor, die allerdings erst zur übernächsten Wahl vorgenommen werden sollte. Um Überhangmandate jedoch effektiv zu beseitigen, wäre eine Reduktion auf rund 200 bis 220 Wahlkreise erforderlich.
Die Anzahl anfallender Überhangmandate ließe sich ferner durch die Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen drastisch reduzieren, zum Beispiel durch die Schaffung von 150 Zweipersonenwahlkreisen, in denen jeweils die beiden Kandidaten mit den zwei besten Ergebnissen gewählt wären.
Vorzüge und Angriffsflächen des Gesetzes von 2023
Das Kappungsmodell erscheint als attraktive oder zumindest im Vergleich zu den Alternativen am wenigsten unattraktive Lösung. Es hat explizit gewichtige Vorzüge. Es garantiert die strikte Einhaltung der Sollgröße und des Proporzes zwischen den Parteien. Damit löst es effektiv das Problem, das Anlass für die Reform und der gewichtigste Grund für die Einsetzung der Wahlrechtskommission war, und garantiert außerdem die Einhaltung des föderalen parteiinternen Proporzes, da es sicherstellt, dass für jede Partei in einem Bundesland exakt so viele Mandate anfallen, wie ihr dort aufgrund der Zweitstimmen zustehen.
Die hervorstechende Eigenschaft des Kappungsmechanismus ist Fairness. Man mag es bedauern, dass nach dem neuen Gesetz der Gewinner einer relativen Mehrheit im Wahlkreis nicht mehr automatisch auch ein Wahlkreismandat erhält. Es ist aber falsch zu behaupten, dass damit dem "Sieger" sein verdienter Preis vorenthalten würde. Denn wer der Sieger ist und welche Art von Preis er erhält, wird immer erst durch die Regeln bestimmt. Nach der neuen Regel muss zum Gewinn eines Direktmandats eben nicht mehr nur eine Bedingung – eine relative Mehrheit an Erststimmen – erfüllt sein, sondern auch eine zweite Bedingung: die Zweitstimmendeckung.
Fair ist das neue Gesetz vor allem in der Hinsicht, dass allen Parteien ein Opfer in genau demselben Umfang auferlegt wird. Denn jede Partei verliert denselben Anteil an Mandaten, die ihr im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen zustehen würden.
In diesem Zusammenhang ist noch ein anderer Vorwurf interessant, der ebenfalls auf einem Missverständnis beruht. So wird mitunter behauptet, das neue Gesetz vermindere die Bedeutung der Direktmandate, weil deren Anteil durch die teilweise Nichtvergabe sinke, womit der Einfluss der Wählerschaft auf die Zusammensetzung des Parlaments abnehme. Am Ende aber läuft es sowohl beim Ausgleich als auch beim Kappungsmodell darauf hinaus, dass der Anteil der Direktmandate der Überhangspartei an allen Sitzen mehr oder weniger dem Anteil an Sitzen entsprechen wird, der ihr auch aufgrund der Zweitstimmen zusteht. Insofern bedeutet das Prinzip der Zweitstimmendeckung des neuen Wahlgesetzes gar keine Neuerung in der Logik der Sitzzuteilung. Der Unterschied besteht lediglich darin, ob man von einer fixen Anzahl von Direktmandaten ausgeht – dann muss der Bundestag entsprechend vergrößert werden – oder von einer fixen Endgröße des Bundestages – dann muss der Anteil der Direktmandate entsprechend verringert werden. Bei einem vollständigen Ausgleich der CSU-Überhangmandate hätte 2021 der Anteil der Direktmandate an allen Mandaten am Ende 299/784 beziehungsweise rund 38 Prozent betragen. Beim tatsächlich erfolgten unvollständigen Ausgleich betrug er 299/735 beziehungsweise 41 Prozent. Hätte man hingegen das neue Wahlgesetz schon 2021 angewandt, also mit Kappung und einer Regelgröße von 630, so hätte es 28 Überhangmandate gegeben, es wären also 271 zu besetzende Direktmandate verblieben, was rund 43 Prozent aller 630 Sitze ausgemacht hätte. Das neue Gesetz hätte also 2021 für einen größeren Anteil der Direktmandate gesorgt. Dies ist kein bloßer Zufall. Der Grund dafür liegt in der großen Treffsicherheit des Kappungsmodells, das Problem direkt dort zu beseitigen, wo es auftritt.
Ein weiterer Vorwurf lautet, dass durch das neue Wahlgesetz die Bedeutung der Erststimme gegenüber der Zweitstimme abgewertet würde, weil nun eine relative Mehrheit der Erststimmen nicht mehr automatisch bedeuten würde, dass man dafür auch ein Mandat erhält. Aber auch dieser Vorwurf ist nicht stichhaltig. Musste sich bisher ein Bewerber lediglich gegen die Bewerber der anderen Parteien in demselben Wahlkreis durchsetzen, muss er in Zukunft zugleich im Wettbewerb mit den anderen Kandidaten seiner Partei in den anderen Wahlkreisen hinreichend gut abschneiden, um ein Mandat zu gewinnen. Damit nimmt die Erststimme an Bedeutung sogar noch zu und der Anreiz der Kandidaten steigt, um die Wählerstimmen zu kämpfen, was demokratietheoretisch in höchstem Maße wünschenswert ist.
Eine Folge des Kappungsmodells, die kritisch gesehen wird, besteht darin, dass es zu sogenannten "verwaisten Wahlkreisen" kommen wird, aus denen kein als Wahlkreiskandidat gewählter Abgeordneter im Bundestag sitzt. Dies heißt aber keineswegs, dass es dann keine aus dem Wahlkreis stammenden Abgeordneten gibt. Denn die Wahlkreiskandidaten anderer Parteien können über die Liste ihrer Parteien in den Bundestag eingezogen sein. Außerdem können vonseiten der Bürger auch Abgeordnete aus benachbarten Wahlkreisen angesprochen werden. Die Bedeutung lokaler Abgeordneter für die Repräsentation der Interessen der Bürger dürfte sich daher in Grenzen halten.
Für den größten Unmut über das neue Gesetz hat ohne Zweifel die Abschaffung der Grundmandatsklausel gesorgt, die gegen Ende des Gesetzgebungsprozesses eher en passant ins Gesetz geraten ist und daher auch nicht zum eigentlichen Kern der Reform gehört. Die Grundmandatsklausel ist eine alternative Bedingung zur Fünf-Prozent-Hürde und regelte in ihrer bisherigen Form, dass eine Partei, auch wenn sie an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist, an der Mandatsverteilung nach Zweitstimmen teilnehmen kann, wenn sie in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen hat. Der Wegfall der Grundmandatsklausel wurde vor allem von der Linken und der CSU heftig kritisiert, bei denen das Risiko am höchsten ist, dass sie davon betroffen sein könnten. Die CSU übersprang 2021 mit 5,2 Prozent der Zweitstimmen nur noch äußerst knapp die Fünf-Prozent-Hürde. Die Linke nahm 2021 mit 4,9 Prozent der Zweitstimmen nur dank der Grundmandatsklausel an der proportionalen Sitzverteilung teil, weil sie in zwei Wahlkreisen in Berlin und einem in Leipzig ein Direktmandat gewonnen hatte, was ihr zu 39 Mandaten verhalf. Dabei profitierten alle drei Kandidaten offensichtlich in großem Ausmaß von Stimmensplitting, denn in allen drei Wahlkreisen lag das Zweitstimmenergebnis der Linken weit hinter ihrem Erststimmenergebnis, vor allem aber unter dem Zweitstimmenergebnis mindestens einer anderen Partei.
Fehlender Konsens als fundamentales Problem?
Idealerweise sollten Wahlgesetze im Konsens verabschiedet werden. Das heißt aber nicht, dass die Umstände der Entscheidung nur dann ideal sind beziehungsweise gewesen sein können, wenn sie zum Konsens führen. Vielmehr sollte es unter idealen Umständen der Fall sein, dass eine Entscheidung grundsätzlich im Konsens verabschiedet werden könnte – nämlich dann, wenn alle beteiligten Akteure sich vernünftig verhalten und von der Verfolgung eigennütziger Interessen absehen würden. Das Scheitern des Konsenses ist daher kein K.O.-Kriterium für die Legitimation eines Wahlgesetzes, denn die Verweigerung der Zustimmung kann auch auf Eigeninteressen beruht haben.
Konsensuell getroffene Entscheidungen sind also grundsätzlich unproblematisch, nicht im Konsens getroffene Entscheidungen müssen aber nicht zwangsläufig problematisch sein. Der Verfassungsrechtler Uwe Volkmann nennt Bedingungen, unter denen entsprechend einer "konstitutionellen Moral" auch nicht im Konsens getroffene Entscheidungen gerechtfertigt sein könnten.
Es gibt durchaus plausible Gründe, warum die Grundmandatsklausel für die Parteien, die bisher von ihr profitiert haben, einen solchen ungerechtfertigten Vorteil dargestellt haben könnte. Denn Parteien, die von der Grundmandatsklausel profitieren, sind insofern gegenüber Parteien im Vorteil, die ebenfalls an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, aber nicht mindestens drei Direktmandate haben. So gelang es 2013 etwa der FDP mit einem Zweitstimmenergebnis von 4,8 Prozent nicht, in den Bundestag einzuziehen, während die Linke 2021 mit 4,9 Prozent und die PDS 1994 sogar mit 4,4 Prozent der Zweitstimmen mit so vielen Sitzen einzogen, wie es ihrem Zweitstimmenanteil entsprach, da sie jeweils genug Direktmandate gewonnen hatten.
Der Zweck der Fünf-Prozent-Hürde besteht offensichtlich darin, dass sie die Vertretung von "einseitigen Interessen"
Fazit
Die Reform von 2023 ist in ihrem Kern erfolgreich und löst das Problem, um das es geht, auf effektive und konsequente Weise. Was die Abschaffung der Grundmandatsklausel angeht, so ist die Bewertung nicht eindeutig. Man kann der Ansicht sein, dass es ein Gebot der politischen Klugheit gewesen wäre, auf diese Maßnahme zu verzichten, um die voraussehbaren Konflikte zwischen den Parteien zu vermeiden. Aber genauso gut kann man es als Ausdruck politischer Verantwortung sehen, einen Konflikt um der Sache willen in Kauf zu nehmen. Dass die Sache dabei womöglich als Nebeneffekt auch den eigenen Interessen dient, ist so irrelevant wie die Absicht der Akteure, solange die Sache mit guten Gründen verteidigt werden kann. "Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird (…)."