"Feierliche Eröffnung des ersten Deutschen Bundestages. Der Alterspräsident Löbe eröffnet. (…) Mein Schwanengesang, meint er."
Konstituierende Sitzung
Alles an der Sitzung des 7. September 1949 atmete den Charakter des Provisorischen: die Stadt, das Gebäude, das Zeremoniell. Da Berlin, die alte Hauptstadt des Deutschen Reiches, unter Vier-Mächte-Kontrolle stand, hatte man für die junge Bundesrepublik einen anderen Ort suchen müssen, an dem sich die Bundesorgane konstituieren konnten. Die aussichtreichsten Bewerber waren Frankfurt am Main und Bonn gewesen. Eine Entscheidung für Frankfurt, Wahl- und Krönungsort deutscher Kaiser und Könige sowie 1848/49 Tagungsort der Nationalversammlung, stellte für manches Mitglied des Parlamentarischen Rates, der diese Frage zu entscheiden hatte, jedoch wohl zu sehr den Anspruch von Berlin infrage, nach Überwindung der Teilung erneut Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschlands zu sein. Nach einer heftigen und kontroversen Debatte hatte der Rat am 10. Mai 1949 schließlich Bonn zur Bundeshauptstadt bestimmt.
In dem Gebäude der ehemaligen Pädagogischen Akademie am Rheinufer, in dem der Bundestag erstmals zusammenkam,
Dem eher schmucklosen Parlamentsgebäude und der gewollten Symbolarmut des Plenarsaals entsprach die Geschäftsmäßigkeit der Eröffnungssitzung. "Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat. (…) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Arbeit mit diesem Vorsatz beginnen!"
Angesichts der räumlichen Enge des neuen Bundeshauses am Rheinufer müssen die Arbeitsbedingungen der neuen Parlamentarier im Rückblick als unzureichend bezeichnet werden. Während Bundestagspräsidium und Fraktionsvorstände immerhin über eigene, wenn auch schlichte Büroräume verfügten, mussten sich die "einfachen" Abgeordneten zu mehreren ein Zimmer teilen oder gar mit Tischen und Stühlen in den Gängen oder im Bundestagsrestaurant behelfen. Es war keine Seltenheit, dass Abgeordnete auf den Treppenstufen oder im Ruheraum saßen und die Vielzahl parlamentarischer Drucksachen sozusagen zwischen Tür und Angel durcharbeiteten.
Prägungen und Erfahrungen
Wer waren die 410 Abgeordneten, 28 Frauen und 382 Männer, die am 7. September 1949 dort einzogen?
Groß war die Zahl derer, die vor 1933 bereits einer politischen Partei angehört hatten. Dies galt zuvorderst für die KPD- und die SPD-Abgeordneten, was sie nach 1933 nicht selten mit Verfolgung und Haft oder mit Emigration bezahlt hatten. Auch unter den Abgeordneten von CDU und CSU sowie der FDP ließ sich eine frühere Parteizugehörigkeit festmachen, sei es in der Zentrums- beziehungsweise der Bayerischen Volkspartei, sei es im bürgerlich-konservativen Parteienspektrum. Auch wenn in ihren Reihen Opposition und Widerstand gegenüber der NS-Herrschaft nicht so ausgeprägt war wie unter den beiden Arbeiterparteien, so hatten doch auch einige von ihnen die Erfahrung von Unterdrückung, Verfolgung und Widerstand gemacht.
Unbekannt ist bisher, wie viele der Neuparlamentarier des Jahres 1949 zuvor Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Angesichts des wachsamen Auges der Westalliierten auf den politischen Aufbauprozess in der entstehenden Bundesrepublik und der Dominanz der "Weimarer Generation" dürfte ihre Anzahl eher gering gewesen sein. Allerdings stieg sie, bedingt durch den Generationswechsel und generell größere Nachsichtigkeit im Umgang mit NS-Belastungen, in den kommenden Wahlperioden an.
Thematisiert wurde eine solche NSDAP-Mitgliedschaft im Bundestagsplenum oder in den Fraktionen so gut wie nicht. Das schwierige Nebeneinander von Tätern und Opfern sollte nicht zu vergangenheitspolitischen Schlachten führen. Vielmehr herrschte von Anfang an ein ungeschriebener Konsens darüber, "die Vergangenheit einander nicht vorzurechnen".
Wahlkampf, Wahltag, Regierungsbildung
Der Wahlkampf des Sommers 1949 war kurz und heftig, das dominierende Thema die Frage der künftigen Wirtschaftsordnung. Die CDU setzte hierbei auf das Programm der "sozialen Marktwirtschaft", bei der die marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialer Verantwortung verbunden werden sollte und der Staat den ordnungspolitischen Rahmen für die wirtschaftlichen Aktivitäten vorgeben würde. Angesichts der desolaten Wirtschaftslage traf dieses Konzept in der Wählerschaft auf große Zustimmung. Demgegenüber propagierte die SPD traditionelle Konzepte ökonomischer Planung und Lenkung, der Sozialisierung von Großunternehmen und einer zügigen Bodenreform. Das zweite Thema, das diesen Wahlkampf prägte, war der Vorwurf gegenüber der SPD, sie stehe in allzu großer Nähe zum östlichen Kommunismus. Angesichts des aggressiven Antikommunismus dieser Jahre war dies ein geradezu tödlicher Vorwurf, den die Sozialdemokraten auch durch heftige Gegenangriffe, die Unionsparteien seien Repräsentanten von Kirche und Kapital, nicht ausräumen konnten.
Bei dem Urnengang am 14. August 1949 bewarben sich insgesamt 16 Parteien und 70 parteilose Kandidaten um 400 Mandate. Ein eindeutiger Wahlsieger schälte sich nicht heraus. CDU und CSU sowie SPD konnten jeweils ein knappes Drittel der Wähler für sich gewinnen, der Rest entfiel auf andere Parteien.
Die entscheidenden Weichen für die künftige Regierungskoalition wurden während einer Zusammenkunft führender Politiker aus CDU und CSU in Konrad Adenauers Wohnhaus in Rhöndorf bei Königswinter am 21. August 1949 gestellt. Obwohl mancher in seiner Partei angesichts der gewaltigen Aufgaben der Zukunft ein Zusammengehen mit der SPD befürwortete, vermochte der künftige Regierungschef die Anwesenden davon zu überzeugen, dass die Bildung einer "bürgerlichen" Koalition mit FDP und Deutscher Partei der bessere Weg sei. Diesen Kurs setzte er anschließend auch in der Runde der frisch gewählten CDU/CSU-Parlamentarier durch. Damit war nun der Weg frei für die Kanzlerwahl.
Die Frage, welche Rolle dem Deutschen Bundestag bei dieser Entscheidung zukommen sollte, hatte zuvor der Parlamentarische Rat beantwortet. Er hatte das Regierungssystem der Bundesrepublik als parlamentarische Demokratie westlicher Prägung ausgestaltet. Der Bundestag, vom Volk in allgemeiner, geheimer und gleicher Wahl nach dem Verhältniswahlrecht
In der Tat wurde Adenauer am 15. September 1949 mit 202 Stimmen zum ersten Regierungschef der neuen Bundesrepublik und Kopf einer "bürgerlichen" Koalition gewählt. An der Auswahl der Minister hatte der Bundestag wenig Anteil; zwar zog sich die Kabinettsbildung hin, musste der neue Kanzler hierbei doch die verschiedenen politischen Strömungen in seiner Partei und bei seinen Koalitionspartnern berücksichtigen, doch verweigerte er den Abgeordneten der beiden Unionsparteien weitgehend jegliche Mitsprache. In der Gründungssituation des Jahres 1949 konnte er derartige Ansprüche aus den Regierungsfraktionen noch abwehren, nach den kommenden Wahlen hatten er und seine Nachfolger entsprechende Forderungen allerdings stärker zu berücksichtigen.
Gesetzgebungsarbeit: Überwindung der Kriegsfolgen
Um überhaupt seine Arbeit aufnehmen zu können, setzte der erste Bundestag zunächst die Geschäftsordnung des Weimarer Reichstages wieder in Kraft, um anschließend deren Überarbeitung
Der erste Deutsche Bundestag war ein fleißiges Parlament. 545 Gesetze verabschiedete er bis zu seiner Auflösung,
Weniger im Fokus stand die Entschädigung für die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Das Bundesentschädigungsgesetz vom 18. September 1953, das wichtigste in diesem Bündel von Maßnahmen, sollte denjenigen, die aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden waren, einen finanziellen Schadensersatz für ihr Leid gewähren. Allerdings zog es den Kreis der Anspruchsberechtigten wie den Umfang der Leistungen eher eng; erst in den folgenden Wahlperioden wurde dies durch entsprechende Novellierungen ausgeweitet.
Innenpolitik im Zeichen des Antikommunismus
Nachdem die Weichen für die soziale Marktwirtschaft schon vor Zusammentritt des ersten Deutschen Bundestages gestellt worden waren, wandten sich dessen Mitglieder rasch den konzeptionellen und materiellen Grundlagen des westdeutschen Sozialstaats zu. Zunächst setzten sie die Strukturen und Organe des Sozialversicherungssystems wieder in Kraft, soweit sie im "Dritten Reich" pervertiert oder abgeschafft worden waren. Auch gaben entsprechende Gesetze dem Arbeitsrecht Gestalt. Heftig umstritten und erst nach langer Kompromisssuche verabschiedet wurden schließlich das Montanmitbestimmungsgesetz vom 21. Mai 1951 und das Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Oktober 1952, in denen die Mitbestimmungsrechte von Arbeitgebern und Gewerkschaften in den Aufsichtsräten entsprechender Unternehmen festgeschrieben wurden; sie sollten den sozialpartnerschaftlichen Gedanken in die Realität umsetzen. Dies war vor allem den beiden großen Fraktionen, CDU/CSU und SPD, wichtig.
Die innen- und justizpolitische Gesetzgebung der ersten Legislaturperiode stand ganz im Zeichen des Antikommunismus. Eine Unterwanderung des öffentlichen Dienstes durch kommunistische Agenten und Saboteure und generell der Schutz der Verfassungsordnung sollte vor allem durch das politische Strafrecht abgewehrt werden. Schon der Parlamentarische Rat hatte in Artikel 21, Absatz 2 Grundgesetz mit einem möglichen Parteienverbot die Grundlagen für eine "wehrhafte Demokratie" gelegt.
Schwer tat sich der erste Deutsche Bundestag mit der "Vergangenheitsbewältigung".
Eng verbunden mit der Amnestiefrage war das Bestreben, die in den Entnazifizierungsverfahren ergangenen Urteile rückgängig zu machen, empfanden weite Kreise der Bevölkerung den Fokus der alliierten Säuberungsmaßnahmen doch als zu weit. Auch hier schloss sich der Bundestag dieser Stimmung an und versuchte, in solchen Fällen das entsprechende Strafmaß zu mildern oder die Strafen zu erlassen. Symptomatisch für dieses Ausblenden deutscher Schuld in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft war zudem das Engagement für die Freilassung der von alliierten Gerichten verurteilten Kriegsverbrecher. Mehrfach nahmen sich die Abgeordneten dieses Themas an und drängten die Bundesregierung, sich für eine Milderung der Urteile der Militärgerichte einzusetzen. Die Selbstverständlichkeit und Pauschalität, mit der sich Politik und Öffentlichkeit für diese Personengruppe einsetzte, verstörte die Adressaten, also die westlichen Alliierten, zutiefst.
Gleichzeitig bemühte sich der Bundestag, auch politisch belasteten Beamten und Richtern die Rückkehr in ihren bisherigen Tätigkeitsbereich zu ermöglichen. Ein entsprechendes Gesetz vom 11. Mai 1951 öffnete die Türen der Rückkehr weit für alle, die seit Kriegsende ihre Position im öffentlichen Dienst – sei es durch alliierte Anweisungen, durch Spruchkammerverfahren oder durch Flucht und Vertreibung – verloren hatten.
Vor allem aber wurden die Millionen jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft aus dem Diskurs des Parlaments ausgeblendet. "Das vielleicht auffälligste Merkmal der frühen Debatten im Deutschen Bundestag", so hat es der Soziologe Helmut Dubiel zusammengefasst, "war die Unfähigkeit der Politiker, sich angemessen über den zivilisatorischen Bruch Rechenschaft abzulegen, der durch die industriell betriebenen Massentötungen in den Lagern und durch den Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht im Osten eingetreten war".
Kritische Zeitgenossen wie spätere Beobachter haben der jungen Bundesrepublik diese Haltung immer wieder zum Vorwurf gemacht. Es war ohne Zweifel ein gravierendes Versäumnis, dass der Blick zurück und ein sich Einlassen auf die deutsche Schuld so selten erfolgte. Allerdings sehen viele Forscher mittlerweile diese Verdrängung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen sowie die Reintegration der großen Zahl der NS-Belasteten als eine nicht unbedeutende Voraussetzung für die politische Stabilität der frühen Bundesrepublik an. Deren Angebot, bei der normativen Abgrenzung vom nationalsozialistischen Unrechtsregime die Belasteten zu integrieren, wenn diese sich zu den neuen Normen und Werten bekannten, habe ihnen eine Brücke in die demokratische Ordnung gebaut. Diese Linie lag den vergangenheitspolitischen Debatten des Deutschen Bundestages zugrunde.
Außenpolitik: Hinwendung zum Westen
Mit Blick auf die Zukunft war der Kurs Richtung Westen eindeutig. Alle maßgeblichen politischen Kräfte verorteten die junge Bundesrepublik dort; Vorstellungen, Deutschland könne eine Brücke zwischen West und Ost bilden, erwiesen sich im heraufziehenden Kalten Krieg schnell als obsolet. Die Hinwendung insbesondere zur westlichen Hegemonialmacht der Vereinigten Staaten und die Annäherung an Frankreich einschließlich erster Schritte zur europäischen Integration waren zwischen beiden politischen Lagern, Regierung wie Opposition, nicht strittig, wohl aber die Formen, in denen dies geschah, und das Prozedere, das die Bundesregierung ihren außenpolitischen Schritten zugrunde legte. Während der Kanzler die Einbindung in die westlichen Strukturen Schritt für Schritt und im Einklang mit den Westmächten erreichen wollte, setzte Oppositionsführer Kurt Schumacher von der SPD eher auf ein selbstbewusstes und gleichrangiges Auftreten der Bundesrepublik. Dies führte immer wieder zu heftigem Schlagabtausch über außenpolitische Themen im Bundestag.
Dennoch gelang es dem Kanzler, sich durchzusetzen. Die ersten Schritte zur wirtschaftlichen Verflechtung und politischen Einigung Europas, wie sie mit dem Beitritt zum Europarat und der Schaffung der Montanunion erfolgten, sowie das Zugehen auf Frankreich einschließlich der Rücksichtnahme auf dessen Sicherheitsinteressen waren wesentliche Marksteine in der außenpolitischen Neujustierung der Bundesrepublik. Dies gestaltete der erste Deutsche Bundestag mit. Auch wenn manche Erfolge dieser Weichenstellung erst in der kommenden Legislaturperiode eingefahren werden konnten – so 1955 der Beitritt zur NATO und die Inkraftsetzung des Deutschlandvertrags, der der Bundesrepublik die (nahezu) volle außenpolitische Souveränität und Gleichberechtigung brachte – waren die Grundlagen hierfür doch in den frühen 1950er Jahren gelegt worden.
Westorientierung bedeutete jedoch nicht nur eine bündnispolitische Weichenstellung, sondern auch eine Positionierung in politischer und kultureller Hinsicht. Die junge Bundesrepublik wollte Teil der freiheitlichen Demokratien des Westens sein; dies hatten schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes besiegelt. Diese Einbindung in den Westen sahen die Bonner Abgeordneten als Sicherung für die junge westdeutsche Demokratie ebenso an wie als Voraussetzung für Souveränitätsgewinn und außenpolitische Gleichberechtigung. Die Westintegration und eine Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion galten als Voraussetzung für die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen, wie sie alle politischen Kräfte im Bonner Bundeshaus propagierten. Auch wenn der Weg zu diesem Ziel noch weit und verschlungener als gedacht war, so war die Richtung doch gesetzt. Diese Wendung nach Westen, politisch, wirtschaftlich und kulturell, ist das wichtigste Vermächtnis des ersten Deutschen Bundestages.