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Anatomie und Arbeit des ersten Deutschen Bundestages | bpb.de

Anatomie und Arbeit des ersten Deutschen Bundestages

Marie-Luise Recker

/ 17 Minuten zu lesen

Der erste Deutsche Bundestag trug wesentlich zum Aufbau der westlich-liberalen Demokratie in der jungen Bundesrepublik bei. Hierbei knüpfte er an ältere Traditionen und Praktiken des Parlamentarismus in Deutschland an, setzte aber auch neue Akzente.

"Feierliche Eröffnung des ersten Deutschen Bundestages. Der Alterspräsident Löbe eröffnet. (…) Mein Schwanengesang, meint er." Mit diesen Worten blickte Heinrich Krone, Abgeordneter der ersten Stunde und später sechs Jahre lang Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, am Abend des 7. September 1949 auf die konstituierende Sitzung des Parlaments am Rheinufer in Bonn am Vormittag zurück. Es war eine symbolträchtige Fügung, dass Paul Löbe, der bereits 1919/20 Vizepräsident der Weimarer Nationalversammlung und dann von 1920 bis 1932 Präsident des Reichstages gewesen war, als Alterspräsident diese Eröffnungssitzung leitete. Die Rückbesinnung auf die während der ersten deutschen Demokratie eingeübten parlamentarischen Bräuche und Praktiken war ein durchgängiges Kennzeichen im Auftreten des Deutschen Bundestages. Daran wollte man sich orientieren, daran knüpfte man an. Schließlich ergab sich damit eine Traditionslinie bis zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848/49.

Konstituierende Sitzung

Alles an der Sitzung des 7. September 1949 atmete den Charakter des Provisorischen: die Stadt, das Gebäude, das Zeremoniell. Da Berlin, die alte Hauptstadt des Deutschen Reiches, unter Vier-Mächte-Kontrolle stand, hatte man für die junge Bundesrepublik einen anderen Ort suchen müssen, an dem sich die Bundesorgane konstituieren konnten. Die aussichtreichsten Bewerber waren Frankfurt am Main und Bonn gewesen. Eine Entscheidung für Frankfurt, Wahl- und Krönungsort deutscher Kaiser und Könige sowie 1848/49 Tagungsort der Nationalversammlung, stellte für manches Mitglied des Parlamentarischen Rates, der diese Frage zu entscheiden hatte, jedoch wohl zu sehr den Anspruch von Berlin infrage, nach Überwindung der Teilung erneut Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschlands zu sein. Nach einer heftigen und kontroversen Debatte hatte der Rat am 10. Mai 1949 schließlich Bonn zur Bundeshauptstadt bestimmt.

In dem Gebäude der ehemaligen Pädagogischen Akademie am Rheinufer, in dem der Bundestag erstmals zusammenkam, hatte zuvor bereits der Parlamentarische Rat getagt. Das in den frühen 1930er Jahren im Bauhausstil am südlichen Stadtrand Bonns errichtete Gebäude war für die Belange von Bundestag und Bundesrat – der ebenfalls in diesem Gebäudekomplex tagen sollte – umgebaut worden. Ein Foyer, ein Lese- und Schreibsaal, Sitzungssäle, Arbeitsräume und eine Bibliothek fanden nun darin Platz. Zudem war an das Gebäude ein neuer Plenarsaal angefügt worden. Ursprünglich hatte der Architekt dafür einen quadratischen Grundriss und eine kreisförmige, von innen nach außen leicht ansteigende Sitzordnung vorgesehen, bei der die Plätze von Bundestagspräsidium, Bundesregierung und Bundesrat nicht besonders hervorgehoben worden wären, sondern sich in die Runde der Abgeordneten eingefügt hätten. Dieser Plan stieß jedoch auf den Widerspruch der künftigen Benutzer, sodass nun eine Sitzordnung in Form eines zur Stirnseite hin geöffneten Halbrunds vereinbart wurde, die derjenigen im Berliner Reichstagsgebäude der Weimarer Zeit verwandt war. Keilförmig auf die Mitte ausgerichtet, fanden darin die Abgeordneten Platz. Diesen Sitzreihen standen die um mehrere Stufen erhöhte Präsidentenbank gegenüber und davor das Rednerpult. Links und rechts – und auch leicht erhöht – fanden die Mitglieder von Bundesregierung und Bundesrat Platz. Diese Sitzordnung entsprach der veralteten Parlamentsarchitektur des 19. Jahrhunderts mit einem strikten Gegenüber von Legislative und Exekutive. An der Stirnwand des Saals hing ein weißer Veloursvorhang, der in Goldapplikation die Wappen der elf Bundesländer sowie Berlins zeigte.

Dem eher schmucklosen Parlamentsgebäude und der gewollten Symbolarmut des Plenarsaals entsprach die Geschäftsmäßigkeit der Eröffnungssitzung. "Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat. (…) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Arbeit mit diesem Vorsatz beginnen!" So hatte Alterspräsident Löbe seine Eröffnungsrede geschlossen. Nicht die Besinnung auf die historische Stunde, in der ein neuer und – wie sich aus der Rückschau zeigt – insgesamt erfolgreicher Anlauf zu einer stabilen parlamentarischen Demokratie gestartet wurde, nicht der pathetische Appell zur Gestaltung einer visionären Zukunft standen im Mittelpunkt der konstituierenden Sitzung, sondern der eher gouvernemental-staatstragende Hinweis auf die anstehenden Aufgaben. Dieser Haltung entsprach das nüchterne parlamentarische Zeremoniell. Wie der langjährige Bundestagspräsident Norbert Lammert im Rückblick konstatierte, hatte "die Bonner Nachkriegsrepublik (…) sich eine Formaskese [verordnet], die nicht nur die monumental-ästhetische Repräsentation des Nationalsozialismus konterkarieren, sondern auch den transitorischen Charakter als nationalstaatliches Provisorium abbilden wollte".

Angesichts der räumlichen Enge des neuen Bundeshauses am Rheinufer müssen die Arbeitsbedingungen der neuen Parlamentarier im Rückblick als unzureichend bezeichnet werden. Während Bundestagspräsidium und Fraktionsvorstände immerhin über eigene, wenn auch schlichte Büroräume verfügten, mussten sich die "einfachen" Abgeordneten zu mehreren ein Zimmer teilen oder gar mit Tischen und Stühlen in den Gängen oder im Bundestagsrestaurant behelfen. Es war keine Seltenheit, dass Abgeordnete auf den Treppenstufen oder im Ruheraum saßen und die Vielzahl parlamentarischer Drucksachen sozusagen zwischen Tür und Angel durcharbeiteten. Überlegungen, die Situation durch die Errichtung weiterer Bauten, vor allem von Büroräumen, zu entschärfen, gerieten jedoch schnell in die Kritik, da ein Ausbau des Bonner Parlaments- und Regierungsviertels als ein Verrat am Wiedervereinigungsgebot und am Anspruch Berlins als künftiger Hauptstadt eines vereinten Deutschland angesehen wurde.

Prägungen und Erfahrungen

Wer waren die 410 Abgeordneten, 28 Frauen und 382 Männer, die am 7. September 1949 dort einzogen? Drei von ihnen waren schon 1919/20 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung gewesen, dem Reichstag bis 1933 hatten 29 von ihnen angehört, viele zudem Länderparlamenten und kommunalen Gremien. Sie brachten also Erfahrung in parlamentarischer Arbeit mit. Allerdings zog nach 1949 nicht die "erste Garde" der Weimarer Politiker in die Parlamente der entstehenden Bundesrepublik ein: "Die Namen Adenauer, Schumacher und Heuss waren vor 1933 sicherlich nicht unbekannt gewesen. In der ersten Reihe standen sie jedoch nicht." In der Mehrzahl führte der Weg in den Deutschen Bundestag jedoch über die Länderparlamente der westlichen Besatzungszonen. Etwa ein Drittel der neuen Bundestagsabgeordneten hatte in den Jahren von 1946 bis 1949 bereits einem Landtag angehört, weiteren verschiedenen zonalen Gremien sowie dem Parlamentarischen Rat. Hier hatten sie erste oder neue Erfahrungen mit dem parlamentarischen Regierungssystem gemacht, hier hatten sie sich in ihrer Partei und gegenüber der Wählerschaft profiliert, hier hatten sie sich für eine Kandidatur für den Bundestag qualifiziert. Politische Neulinge waren sie damit nicht.

Groß war die Zahl derer, die vor 1933 bereits einer politischen Partei angehört hatten. Dies galt zuvorderst für die KPD- und die SPD-Abgeordneten, was sie nach 1933 nicht selten mit Verfolgung und Haft oder mit Emigration bezahlt hatten. Auch unter den Abgeordneten von CDU und CSU sowie der FDP ließ sich eine frühere Parteizugehörigkeit festmachen, sei es in der Zentrums- beziehungsweise der Bayerischen Volkspartei, sei es im bürgerlich-konservativen Parteienspektrum. Auch wenn in ihren Reihen Opposition und Widerstand gegenüber der NS-Herrschaft nicht so ausgeprägt war wie unter den beiden Arbeiterparteien, so hatten doch auch einige von ihnen die Erfahrung von Unterdrückung, Verfolgung und Widerstand gemacht.

Unbekannt ist bisher, wie viele der Neuparlamentarier des Jahres 1949 zuvor Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Angesichts des wachsamen Auges der Westalliierten auf den politischen Aufbauprozess in der entstehenden Bundesrepublik und der Dominanz der "Weimarer Generation" dürfte ihre Anzahl eher gering gewesen sein. Allerdings stieg sie, bedingt durch den Generationswechsel und generell größere Nachsichtigkeit im Umgang mit NS-Belastungen, in den kommenden Wahlperioden an.

Thematisiert wurde eine solche NSDAP-Mitgliedschaft im Bundestagsplenum oder in den Fraktionen so gut wie nicht. Das schwierige Nebeneinander von Tätern und Opfern sollte nicht zu vergangenheitspolitischen Schlachten führen. Vielmehr herrschte von Anfang an ein ungeschriebener Konsens darüber, "die Vergangenheit einander nicht vorzurechnen". Oder, um es angelehnt an den Philosophen Hermann Lübbe auszudrücken: Das "kommunikative Beschweigen" der Vergangenheit wurde so zu einem durchgängigen Wesenszug der Debattenkultur im Bonner Bundeshaus. Nur dort, wo – wie in der ersten Wahlperiode – einzelne Vertreter der radikalen Rechten sich offen zum Nationalsozialismus bekannten, wurden diese ausgegrenzt und isoliert. Diese demonstrative Distanzierung von rechtsradikalen oder gar neonazistischen Abgeordneten sollte nicht zuletzt diejenigen in den eigenen Reihen einbinden, die im "Dritten Reich" Hitlers Herrschaft unterstützt hatten, und sie dazu veranlassen, sich nun in die neue demokratische Kultur einzufügen.

Wahlkampf, Wahltag, Regierungsbildung

Der Wahlkampf des Sommers 1949 war kurz und heftig, das dominierende Thema die Frage der künftigen Wirtschaftsordnung. Die CDU setzte hierbei auf das Programm der "sozialen Marktwirtschaft", bei der die marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialer Verantwortung verbunden werden sollte und der Staat den ordnungspolitischen Rahmen für die wirtschaftlichen Aktivitäten vorgeben würde. Angesichts der desolaten Wirtschaftslage traf dieses Konzept in der Wählerschaft auf große Zustimmung. Demgegenüber propagierte die SPD traditionelle Konzepte ökonomischer Planung und Lenkung, der Sozialisierung von Großunternehmen und einer zügigen Bodenreform. Das zweite Thema, das diesen Wahlkampf prägte, war der Vorwurf gegenüber der SPD, sie stehe in allzu großer Nähe zum östlichen Kommunismus. Angesichts des aggressiven Antikommunismus dieser Jahre war dies ein geradezu tödlicher Vorwurf, den die Sozialdemokraten auch durch heftige Gegenangriffe, die Unionsparteien seien Repräsentanten von Kirche und Kapital, nicht ausräumen konnten.

Bei dem Urnengang am 14. August 1949 bewarben sich insgesamt 16 Parteien und 70 parteilose Kandidaten um 400 Mandate. Ein eindeutiger Wahlsieger schälte sich nicht heraus. CDU und CSU sowie SPD konnten jeweils ein knappes Drittel der Wähler für sich gewinnen, der Rest entfiel auf andere Parteien. Der Politikwissenschaftler Jürgen Falter hat die Bundestagswahl 1949 als "ein Bindeglied zwischen der ersten und der zweiten Republik" angesehen und hierbei auf die hohe regionale Stabilität der wichtigsten Parteigruppen verwiesen. Gleichzeitig lässt sich aber auch konstatieren, dass in diesen Wahlen – mit Ausnahme der KPD, deren Abstieg unübersehbar war – die drei Parteien, die bereits von den Besatzungsmächten als "Lizenzparteien" privilegiert worden waren, das Fundament für die künftige Struktur des westdeutschen Parteiensystems legen konnten. Auch wenn verschiedene Regional- und Rechtsparteien in kommenden Landtagswahlen durchaus ansehnliche Wahlerfolge zu verzeichnen hatten, so fehlte ihnen doch die Substanz und das Profil für eine dauerhafte Basis. Strukturell war mit der ersten Bundestagswahl die Entwicklung zu einem Dreiparteiensystem mit CDU/CSU und SPD als den dominierenden Akteuren und der FDP als dritter Kraft angelegt.

Die entscheidenden Weichen für die künftige Regierungskoalition wurden während einer Zusammenkunft führender Politiker aus CDU und CSU in Konrad Adenauers Wohnhaus in Rhöndorf bei Königswinter am 21. August 1949 gestellt. Obwohl mancher in seiner Partei angesichts der gewaltigen Aufgaben der Zukunft ein Zusammengehen mit der SPD befürwortete, vermochte der künftige Regierungschef die Anwesenden davon zu überzeugen, dass die Bildung einer "bürgerlichen" Koalition mit FDP und Deutscher Partei der bessere Weg sei. Diesen Kurs setzte er anschließend auch in der Runde der frisch gewählten CDU/CSU-Parlamentarier durch. Damit war nun der Weg frei für die Kanzlerwahl.

Die Frage, welche Rolle dem Deutschen Bundestag bei dieser Entscheidung zukommen sollte, hatte zuvor der Parlamentarische Rat beantwortet. Er hatte das Regierungssystem der Bundesrepublik als parlamentarische Demokratie westlicher Prägung ausgestaltet. Der Bundestag, vom Volk in allgemeiner, geheimer und gleicher Wahl nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, war nicht nur, wie in der Vergangenheit, Gesetzgeber und Kontrolleur der Regierung, sondern erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte auch Schöpfer des Kabinetts, das von einer Mehrheit des Parlaments getragen werden musste. Mit dieser Bestimmung wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes verhindern, dass sich angesichts politisch-programmatischer Differenzen zwischen den Parteien keine arbeitsfähige Parlamentsmehrheit zusammenfand und – wie in der Weimarer Republik – der Ausweg in Minderheits- oder Präsidialkabinetten gesucht wurde. Nun wurde der Bundeskanzler vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählt und konnte – im Sinne des "konstruktiven Misstrauensvotums" nach Artikel 67, Absatz 1 Grundgesetz – während der Legislaturperiode nur dann vom Bundestag gestürzt werden, wenn dieser sich gleichzeitig auf die Wahl eines neuen Bundeskanzlers verständigte. Diese Bestimmung erzwang also eine positive Mehrheitspflege innerhalb des Parlaments.

In der Tat wurde Adenauer am 15. September 1949 mit 202 Stimmen zum ersten Regierungschef der neuen Bundesrepublik und Kopf einer "bürgerlichen" Koalition gewählt. An der Auswahl der Minister hatte der Bundestag wenig Anteil; zwar zog sich die Kabinettsbildung hin, musste der neue Kanzler hierbei doch die verschiedenen politischen Strömungen in seiner Partei und bei seinen Koalitionspartnern berücksichtigen, doch verweigerte er den Abgeordneten der beiden Unionsparteien weitgehend jegliche Mitsprache. In der Gründungssituation des Jahres 1949 konnte er derartige Ansprüche aus den Regierungsfraktionen noch abwehren, nach den kommenden Wahlen hatten er und seine Nachfolger entsprechende Forderungen allerdings stärker zu berücksichtigen.

Gesetzgebungsarbeit: Überwindung der Kriegsfolgen

Um überhaupt seine Arbeit aufnehmen zu können, setzte der erste Bundestag zunächst die Geschäftsordnung des Weimarer Reichstages wieder in Kraft, um anschließend deren Überarbeitung in Angriff zu nehmen. Aber auch in diesen Diskussionen ergaben sich keine fundamentalen Neuerungen. Geschaffen wurde ein Bundestagspräsidium mit dem Präsidenten an der Spitze, unterstützt von einem Ältestenrat und der Bundestagsverwaltung. Auch das Prozedere der Gesetzgebungsarbeit – drei Lesungen im Plenum, Detailberatung in den Ausschüssen – wurde aus der Vergangenheit übernommen. Bewusst stellte sich das Hohe Haus am Rheinufer so in die Tradition des Parlamentarismus in Deutschland.

Der erste Deutsche Bundestag war ein fleißiges Parlament. 545 Gesetze verabschiedete er bis zu seiner Auflösung, mehr als alle seine Nachfolger. Hierunter befanden sich viele Regelungen von grundlegender Bedeutung. Ein erster Schwerpunkt lag in der Überwindung der Kriegsfolgen. Neben der Versorgung von Kriegsopfern und deren Familien betraf dies vor allem die Vertriebenen und Flüchtlinge. Von den knapp 50 Millionen Bundesbürgern war 1950 etwa jeder Fünfte während des Krieges oder nach dessen Ende aus Ostmitteleuropa oder aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)/DDR zugewandert. Den Anfang dieser Gesetzgebung machten unkoordinierte Einzelmaßnahmen, mit deren Hilfe die dringendsten Notlagen besonders betroffener Personen oder bestimmter Gruppen gelindert werden konnten. Die zentrale Regelung erfolgte schließlich mit dem heftig umstrittenen und erst nach langen Debatten am 14. August 1952 verabschiedeten Lastenausgleichsgesetz. Es sah Ausgleichszahlungen für die Schäden vor, die die Betroffenen durch Krieg und Vertreibung erlitten hatten, und sollte so helfen, sie in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren. Auch wenn das anhaltende Wirtschaftswachstum der kommenden Jahre den größeren Anteil an diesem Eingliederungsprozess hatte, waren die Leistungen des Lastenausgleichs doch ein wichtiger Anschub.

Weniger im Fokus stand die Entschädigung für die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Das Bundesentschädigungsgesetz vom 18. September 1953, das wichtigste in diesem Bündel von Maßnahmen, sollte denjenigen, die aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden waren, einen finanziellen Schadensersatz für ihr Leid gewähren. Allerdings zog es den Kreis der Anspruchsberechtigten wie den Umfang der Leistungen eher eng; erst in den folgenden Wahlperioden wurde dies durch entsprechende Novellierungen ausgeweitet.

Innenpolitik im Zeichen des Antikommunismus

Nachdem die Weichen für die soziale Marktwirtschaft schon vor Zusammentritt des ersten Deutschen Bundestages gestellt worden waren, wandten sich dessen Mitglieder rasch den konzeptionellen und materiellen Grundlagen des westdeutschen Sozialstaats zu. Zunächst setzten sie die Strukturen und Organe des Sozialversicherungssystems wieder in Kraft, soweit sie im "Dritten Reich" pervertiert oder abgeschafft worden waren. Auch gaben entsprechende Gesetze dem Arbeitsrecht Gestalt. Heftig umstritten und erst nach langer Kompromisssuche verabschiedet wurden schließlich das Montanmitbestimmungsgesetz vom 21. Mai 1951 und das Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Oktober 1952, in denen die Mitbestimmungsrechte von Arbeitgebern und Gewerkschaften in den Aufsichtsräten entsprechender Unternehmen festgeschrieben wurden; sie sollten den sozialpartnerschaftlichen Gedanken in die Realität umsetzen. Dies war vor allem den beiden großen Fraktionen, CDU/CSU und SPD, wichtig.

Die innen- und justizpolitische Gesetzgebung der ersten Legislaturperiode stand ganz im Zeichen des Antikommunismus. Eine Unterwanderung des öffentlichen Dienstes durch kommunistische Agenten und Saboteure und generell der Schutz der Verfassungsordnung sollte vor allem durch das politische Strafrecht abgewehrt werden. Schon der Parlamentarische Rat hatte in Artikel 21, Absatz 2 Grundgesetz mit einem möglichen Parteienverbot die Grundlagen für eine "wehrhafte Demokratie" gelegt. Die ersten Überlegungen zur Neufassung des politischen Strafrechts richteten sich allerdings gegen rechtsradikale Umtriebe des Winters 1949/50 und gegen NS-verherrlichende Äußerungen von Mitgliedern der Sozialistischen Reichspartei (SRP), die mit vier Abgeordneten im Bonner Parlament saß. Mit Ausbruch des Koreakrieges im Sommer 1950 verlagerte sich der Schwerpunkt der entsprechenden Debatten jedoch immer stärker hin zur Abwehr der aus dem kommunistischen Machtbereich drohenden Gefahren. Die schließlich verabschiedeten Gesetze entsprachen dieser Bedrohungsperzeption und sollten – mit teils begrifflich vagen und unklar definierten Straftatbeständen – das Grundgesetz und die Verfassungsorgane schützen. Höhe- und Endpunkt dieser Bestrebungen war schließlich die Entscheidung, beim Bundesverfassungsgericht ein Verbot von SRP und KPD zu beantragen. Während die Karlsruher Richter in ersterem Fall ihr Urteil bereits im Oktober 1952 fällten, zog sich das KPD-Verbot bis zum August 1956 hin. Der antitotalitäre Grundkonsens in Parlament und Öffentlichkeit, die Beschwörung der Weimarer Erfahrungen wie die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung hatten die Debatten um ein politisches Strafrecht und um die Grenzziehung zwischen anerkannten und zu sanktionierenden Parteien geprägt.

Schwer tat sich der erste Deutsche Bundestag mit der "Vergangenheitsbewältigung". Zwar verstand man die Bundesrepublik und ihr Regierungssystem als Gegenpol zum nationalsozialistischen Unrechtsregime und würdigte auch den Widerstand gegen Hitlers Herrschaft, dem auch mancher Abgeordnete angehört hatte. Eine Reflexion über moralische Schuld und Verantwortung fand im Plenarsaal am Rheinufer allerdings kaum statt. Im Gegenteil, die Zeichen standen hier auf Amnestie und Rehabilitierung. Eines der ersten Gesetze, die der Bundestag beschloss, war das zu Silvester 1949 verkündete Straffreiheitsgesetz für Vergehen, die in den "verwirrten Zeitverhältnissen" (Adenauer) von Kriegsende und Nachkriegszeit begangen worden waren. Weitere sollten folgen.

Eng verbunden mit der Amnestiefrage war das Bestreben, die in den Entnazifizierungsverfahren ergangenen Urteile rückgängig zu machen, empfanden weite Kreise der Bevölkerung den Fokus der alliierten Säuberungsmaßnahmen doch als zu weit. Auch hier schloss sich der Bundestag dieser Stimmung an und versuchte, in solchen Fällen das entsprechende Strafmaß zu mildern oder die Strafen zu erlassen. Symptomatisch für dieses Ausblenden deutscher Schuld in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft war zudem das Engagement für die Freilassung der von alliierten Gerichten verurteilten Kriegsverbrecher. Mehrfach nahmen sich die Abgeordneten dieses Themas an und drängten die Bundesregierung, sich für eine Milderung der Urteile der Militärgerichte einzusetzen. Die Selbstverständlichkeit und Pauschalität, mit der sich Politik und Öffentlichkeit für diese Personengruppe einsetzte, verstörte die Adressaten, also die westlichen Alliierten, zutiefst.

Gleichzeitig bemühte sich der Bundestag, auch politisch belasteten Beamten und Richtern die Rückkehr in ihren bisherigen Tätigkeitsbereich zu ermöglichen. Ein entsprechendes Gesetz vom 11. Mai 1951 öffnete die Türen der Rückkehr weit für alle, die seit Kriegsende ihre Position im öffentlichen Dienst – sei es durch alliierte Anweisungen, durch Spruchkammerverfahren oder durch Flucht und Vertreibung – verloren hatten. Nur sehr kleinen Gruppen blieb die Rehabilitierung versagt. Dies verstärkte das Ausmaß personeller Kontinuität im öffentlichen Dienst, die ohnehin den politischen Neuanfang nach 1945 prägte.

Vor allem aber wurden die Millionen jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft aus dem Diskurs des Parlaments ausgeblendet. "Das vielleicht auffälligste Merkmal der frühen Debatten im Deutschen Bundestag", so hat es der Soziologe Helmut Dubiel zusammengefasst, "war die Unfähigkeit der Politiker, sich angemessen über den zivilisatorischen Bruch Rechenschaft abzulegen, der durch die industriell betriebenen Massentötungen in den Lagern und durch den Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht im Osten eingetreten war". Im Zeichen des Antikommunismus, ja, des Antitotalitarismus wandte sich der Blick von der Beteiligung an und Verantwortung für diese Verbrechen ab hin zu einer weitgehenden Erinnerungsverweigerung.

Kritische Zeitgenossen wie spätere Beobachter haben der jungen Bundesrepublik diese Haltung immer wieder zum Vorwurf gemacht. Es war ohne Zweifel ein gravierendes Versäumnis, dass der Blick zurück und ein sich Einlassen auf die deutsche Schuld so selten erfolgte. Allerdings sehen viele Forscher mittlerweile diese Verdrängung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen sowie die Reintegration der großen Zahl der NS-Belasteten als eine nicht unbedeutende Voraussetzung für die politische Stabilität der frühen Bundesrepublik an. Deren Angebot, bei der normativen Abgrenzung vom nationalsozialistischen Unrechtsregime die Belasteten zu integrieren, wenn diese sich zu den neuen Normen und Werten bekannten, habe ihnen eine Brücke in die demokratische Ordnung gebaut. Diese Linie lag den vergangenheitspolitischen Debatten des Deutschen Bundestages zugrunde.

Außenpolitik: Hinwendung zum Westen

Mit Blick auf die Zukunft war der Kurs Richtung Westen eindeutig. Alle maßgeblichen politischen Kräfte verorteten die junge Bundesrepublik dort; Vorstellungen, Deutschland könne eine Brücke zwischen West und Ost bilden, erwiesen sich im heraufziehenden Kalten Krieg schnell als obsolet. Die Hinwendung insbesondere zur westlichen Hegemonialmacht der Vereinigten Staaten und die Annäherung an Frankreich einschließlich erster Schritte zur europäischen Integration waren zwischen beiden politischen Lagern, Regierung wie Opposition, nicht strittig, wohl aber die Formen, in denen dies geschah, und das Prozedere, das die Bundesregierung ihren außenpolitischen Schritten zugrunde legte. Während der Kanzler die Einbindung in die westlichen Strukturen Schritt für Schritt und im Einklang mit den Westmächten erreichen wollte, setzte Oppositionsführer Kurt Schumacher von der SPD eher auf ein selbstbewusstes und gleichrangiges Auftreten der Bundesrepublik. Dies führte immer wieder zu heftigem Schlagabtausch über außenpolitische Themen im Bundestag.

Dennoch gelang es dem Kanzler, sich durchzusetzen. Die ersten Schritte zur wirtschaftlichen Verflechtung und politischen Einigung Europas, wie sie mit dem Beitritt zum Europarat und der Schaffung der Montanunion erfolgten, sowie das Zugehen auf Frankreich einschließlich der Rücksichtnahme auf dessen Sicherheitsinteressen waren wesentliche Marksteine in der außenpolitischen Neujustierung der Bundesrepublik. Dies gestaltete der erste Deutsche Bundestag mit. Auch wenn manche Erfolge dieser Weichenstellung erst in der kommenden Legislaturperiode eingefahren werden konnten – so 1955 der Beitritt zur NATO und die Inkraftsetzung des Deutschlandvertrags, der der Bundesrepublik die (nahezu) volle außenpolitische Souveränität und Gleichberechtigung brachte – waren die Grundlagen hierfür doch in den frühen 1950er Jahren gelegt worden.

Westorientierung bedeutete jedoch nicht nur eine bündnispolitische Weichenstellung, sondern auch eine Positionierung in politischer und kultureller Hinsicht. Die junge Bundesrepublik wollte Teil der freiheitlichen Demokratien des Westens sein; dies hatten schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes besiegelt. Diese Einbindung in den Westen sahen die Bonner Abgeordneten als Sicherung für die junge westdeutsche Demokratie ebenso an wie als Voraussetzung für Souveränitätsgewinn und außenpolitische Gleichberechtigung. Die Westintegration und eine Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion galten als Voraussetzung für die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen, wie sie alle politischen Kräfte im Bonner Bundeshaus propagierten. Auch wenn der Weg zu diesem Ziel noch weit und verschlungener als gedacht war, so war die Richtung doch gesetzt. Diese Wendung nach Westen, politisch, wirtschaftlich und kulturell, ist das wichtigste Vermächtnis des ersten Deutschen Bundestages.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Heinrich Krone, Tagebücher, Bd. 1, bearbeitet von Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 1995, S. 72.

  2. Vgl. hierzu Marie-Luise Recker, Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland, Der Deutsche Bundestag 1949–1969, Düsseldorf 20192, S. 200ff.

  3. Deutscher Bundestag, 1. WP, 1. Sitzung vom 7.9.1949, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 1/1, S. 1.

  4. Norbert Lammert, Die Würde der Demokratie. Das parlamentarische Zeremoniell des Deutschen Bundestages, in: Andreas Biefang/Michael Epkenhans/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2008, S. 469–480, hier S. 474.

  5. So die Beobachtung von Günter Goetzendorff, "Das Wort hat der Abgeordnete …". Erinnerungen eines Parlamentariers der ersten Stunde, München 1989, S. 124, S. 159.

  6. Zahlen nach Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, 3 Bde., Baden-Baden 1999, S. 381. Gemäß Wahlgesetz zum ersten Bundestag vom 15. Juni 1949 waren 400 Abgeordnete zu wählen, Berlin entsandte acht Abgeordnete ohne Stimmrecht, zudem gab es zwei Überhangmandate.

  7. Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009, S. 322.

  8. So "Der Spiegel" vom 5.7.1961, zit. nach Dominik Rigoll, Grenzen des Sagbaren. NS-Belastung und NS-Verfolgungserfahrung bei Bundestagsabgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2014, S. 128–140, hier S. 129. Vgl. auch Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 1–3/1983, S. 579–599.

  9. CDU 25,2 Prozent, CSU 5,8 Prozent, SPD 29,2 Prozent, FDP 11,9 Prozent, KPD 5,7 Prozent, Deutsche Partei 4,0 Prozent, der Rest entfiel auf kleinere Parteien. Zahlen nach Datenhandbuch (Anm. 6), S. 158ff.

  10. Jürgen W. Falter, Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift 3/1981, S. 236–263, hier S. 236.

  11. 60 Prozent der 400 Abgeordneten wurden in 242 Einerwahlkreisen nach relativer Mehrheit gewählt, die übrigen 40 Prozent mit der gleichen Stimme nach Landeslisten, wobei die Direktmandate auf die Verteilung der Mandate nach Landeslisten angerechnet wurden. Eine Sperrklausel von fünf Prozent galt für die Landesebene.

  12. Vgl. hierzu Recker (Anm. 2), S. 232ff.

  13. Zahlen nach Datenhandbuch (Anm. 6), S. 2388.

  14. Die Zahlen sind nicht leicht zu ermitteln. Manfred Görtemaker nennt für diesen Zeitraum 9,6 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus Gebieten östlich der Elbe und 1,5 Millionen Flüchtlinge aus der SBZ/DDR. Vgl. ders., Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 162.

  15. Vgl. hierzu Recker (Anm. 2), S. 537ff.

  16. Vgl. hierzu Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

  17. Vgl. Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 31.12.1949, Bundesgesetzblatt 1949, S. 37. Von ihm profitierten etwa 800000 Personen, in den meisten Fällen ging es um Schwarzmarktdelikte, aber auch Straftäter aus der NS-Zeit befanden sich unter den Amnestierten.

  18. Vgl. Bundesgesetzblatt 1951, S. 307.

  19. Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München–Wien 1999, S. 74.

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ist emeritierte Professorin für Neueste Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2012 bis 2018 war sie Vorsitzende der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien.