Für RWE war 1969 ein schwieriges Jahr. Im Januar war der Essener Stromkonzern mit 500 Millionen DM beim Mineralölkonzern Gelsenberg AG eingestiegen, der als einzige deutsche Firma Zugriff auf große Ölfelder in Libyen hatte. Dort putschte wenig später Muammar al-Gaddafi und drohte mit Verstaatlichung, und der Aktienkurs der Gelsenberg AG rauschte in den Keller. Große Aluminiumfirmen wollten im Ruhrgebiet Werke errichten, deren Strombedarf mit teurer Steinkohle nicht rentabel zu decken war. Der Chemiegigant BASF machte RWE in seinem Versorgungsgebiet Konkurrenz, weil er ein eigenes Atomkraftwerk im Ludwigshafener Stammwerk plante. Traditionell war RWE skeptisch gegenüber Reaktorplänen, weil es lieber auf die rheinische Braunkohle setzte, aber da schienen die Grenzen des Wachstums in Sicht. So vollzog RWE einen spektakulären Kurswechsel und erteilte 1969 den Auftrag für das Kernkraftwerk Biblis A, der als Durchbruch der nuklearen Stromerzeugung in der Bundesrepublik gilt. Seither war klar, dass Atomenergie keine Nischentechnologie bleiben, sondern zu einem Eckpfeiler der bundesdeutschen Stromversorgung ausgebaut werden würde.
Wer diese Wendung im Wissen um die späteren Kontroversen betrachtet, kommt kaum umhin, ein demokratisches Defizit zu konstatieren. Hier agierte schließlich ein Großkonzern und nicht etwa eine gewählte Regierung, und nach der breiten öffentlichen Debatte, die einem derart folgenreichen Schritt eigentlich vorausgehen sollte, sucht man ebenfalls vergebens. Die Protagonisten plagte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, als ein Jahrzehnt später die nukleare Debatte das Land spaltete. Heinrich Mandel, seit den 1950er Jahren der wichtigste Vorkämpfer der Atomenergie im RWE, erklärte kurz vor seinem Tod im Januar 1979 in einem Interview mit dem "Spiegel", er "überlasse nicht gern Politikern allein die Urteilsfindung auf Gebieten, von denen sie nicht genug verstehen".
Infrastrukturen sind seit jeher eine Herausforderung für moderne Demokratien. Die langfristigen Folgen jedes Bauprojekts stehen in Spannung zur Kurzatmigkeit öffentlicher Debatten und dem schnellen Takt der Legislaturperioden, und Atomkraftwerke sind aufgrund der Langlebigkeit ihrer strahlenden Hinterlassenschaften ein besonders augenfälliges Beispiel. Die nukleare Kontroverse war insofern auch ein Realexperiment über demokratisches Regieren, und dieses verdient nicht nur vor dem Hintergrund der heutigen Auseinandersetzungen um die Energiewende Beachtung. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 gelang es, das atomare Experiment im breiten gesellschaftlichen Konsens zu beenden, und das ist ein bemerkenswertes Ergebnis in einer Zeit, in der allenthalben über eine Krise der Demokratie geredet wird. Im 21. Jahrhundert reicht es nicht mehr, Demokratie nur politisch-moralisch zu legitimieren. Demokratie muss auch liefern.
Atomkraft war in der bundesdeutschen Geschichte ein ausgesprochen wandlungsfähiges Projekt. Die Hoffnungen der 1950er Jahre waren etwas anderes als die Planungen der 1960er Jahre, und diese unterschieden sich wiederum von der gebauten Realität, die in den 1970er und 1980er Jahren entstand. Ähnlich dynamisch entwickelte sich die bundesdeutsche Demokratie: Mandels breitbeiniges Urteil über die politische Klasse wirkte 1978 wie eine Zumutung, aber vor dem Wertehorizont der Wirtschaftswunderjahre konnte es auch als gelebte Verantwortung durchgehen. Was auf den ersten Blick wie ein Umbruch gesellschaftlicher Leitideen wirkte, war in Wirklichkeit jedoch ein Akkumulationsprozess. Nach und nach überlagerten sich ganz unterschiedliche Vorstellungen demokratischer Praxis wie Sedimente in einem Fluss, aber das merkt man erst, wenn man in die Tiefe geht. Die nukleare Kontroverse lässt sich auch als ein Modellversuch betrachten, was eigentlich passiert, wenn eine Demokratie im stetig wachsenden Schatten ihrer eigenen Geschichte operiert.
Menschen, die die Zukunft bauen
Seit Hermann Hesse weiß die Menschheit, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt. Unklar ist, warum das bei der Atomenergie regelmäßig die Phantasie der Chronisten auf Touren bringt. Kaum eine Darstellung verzichtet auf das analytische Hilfskonstrukt der Atomeuphorie, und immer wieder enden die entsprechenden Bemerkungen in einem Festival des täterlosen Passivs. Der Topos der Atomeuphorie steht in der bundesdeutschen Geschichte seltsam zusammenhanglos neben einer atomaren Realgeschichte, in der weder emotionaler Überschwang noch brodelnde Dynamik regierten. In den 1950er Jahren wurden ein Bundesministerium für Atomfragen und Forschungszentren in Karlsruhe, Jülich und Geesthacht gegründet, aber danach wurde erst einmal viel geredet und wenig bewegt.
Der mühsame Weg der Bundesrepublik ins Atomzeitalter ist historiografisch bestens dokumentiert.
Investitionen in Atomforschung waren eine transnationale Selbstverständlichkeit, seit US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 vor der UN-Generalversammlung seine berühmte Rede über "Atome für den Frieden" gehalten hatte. Seit dem 19. Jahrhundert war Deutschland ein Land von Wissenschaft und Technik, und da schienen Investitionen in die Energie der Zukunft zwingend geboten. Für die Bundesrepublik kam noch hinzu, dass sie mit Investitionen in die nukleare Technologie hoffen konnte, nach dem fatalen akademischen Aderlass des Nationalsozialismus wieder Anschluss an die Weltspitze zu bekommen. Für einige Zeit zog es kluge Menschen mit Ambitionen in die Atomforschung, hinzu kamen jene, die schon in der NS-Zeit in der Kernphysik gearbeitet und sich, wie beispielsweise Carl Friedrich von Weizsäcker, mit militärischen Forschungsprojekten gehörig die Finger verbrannt hatten.
Als die Bundesrepublik 1955 mit den Pariser Verträgen das Recht bekam, ein ziviles Atomprogramm auf die Beine zu stellen, genügte ein Blick auf die Nachbarländer, um den gewaltigen Umfang der nötigen Investitionen zu erahnen. Es half, dass es auf dem Energiesektor kaum konkurrierende Projekte gab. Wasser- und Kohlekraftwerke hatten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ausgereiften Methoden der Stromerzeugung entwickelt, sodass es in Forschung und Entwicklung nur noch um die Optimierung des Wirkungsgrads ging. Es gab in den 1950er und 1960er Jahren auch keine Energiekrisen, die kurzfristig Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen gebunden hätten, und deshalb konnte sich der Blick in eine fernere Zukunft richten, in der die stetig steigende Nachfrage nach Energie nur noch mit der Kraft des Atoms zu befriedigen sein würde. Ohne die energetische Sorglosigkeit der Wirtschaftswunderjahre hätten sich die Investitionen vielleicht auf ein paar Versuchsanlagen beschränkt.
Die demokratische Legitimation des nuklearen Projekts entsprang deshalb nicht aus dem Streit der politischen Meinungen, der die Debatten seit den 1970er Jahren prägen sollte. Es waren vielmehr die Selbstverständlichkeiten der Boomjahre: Deutschland brauchte Energie, Spitzentechnologie und zupackende Männer, um das Land nach der Katastrophe von 1945 wiederaufzubauen. Die Zukunft war weit und offen, Wissenschaft und Technik standen dem Kundigen als wunderkräftige Werkzeuge zur Verfügung, und so hatte jeder, der sich der Atomwirtschaft verschrieb, das Recht des Tüchtigen auf seiner Seite. Die Leistungsideologie der Wirtschaftswunderjahre legitimierte die Atomenergie nachdrücklicher als alle parlamentarischen Beschlüsse.
Grundsatzdebatten und Fundamentalliberalisierung
In jener Zeit konnte man auch deshalb ziemlich unbefangen für die nukleare Zukunft sein, weil sie vorerst nur als Vision existierte. Die technologische Wirklichkeit der Atomenergie bestand zunächst nur aus Bomben, zu denen sich in den 1950er Jahren die ersten zivilen Kraftwerke gesellten, die im Vergleich mit den späteren Reaktoren noch recht beschauliche Dimensionen hatten. Auch in den 1970er Jahren, als in der Bundesrepublik im großen Stil geplant und gebaut wurde, präsentierte sich das atomare Projekt noch als work-in-progress. Die historische Forschung diskutiert die 1970er Jahre zumeist als das Jahrzehnt, in dem die Gewissheiten der Boomjahre ins Rutschen kamen, aber bei der Kernenergie war noch alles im Fluss: Was es in der Realität bedeutete, ein Atomkraftwerk mit einer Nettoleistung von mehr als 1000 Megawatt zu bauen, lernten Naturwissenschaftler und Ingenieure erst in Biblis. Es war der erste Reaktor dieser Größe weltweit, und für die Zeitgenossen war es nur ein Meilenstein. Die großen Hoffnungen ruhten auf den Brutreaktoren, die zusätzlich zum Strom auch spaltbares Material produzieren sollten. Tatsächlich wurde der Schnelle Brüter in Kalkar dann zu einem Milliardengrab, und das war eine der zahlreichen Lehrerfahrungen, die die Atomwirtschaft im Scheinwerferlicht der kritischen Öffentlichkeit erlebte.
Es greift deshalb zu kurz, den Blick nur auf den zivilgesellschaftlichen Protest zu richten, der nach gängiger Lesart im südbadischen Wyhl begann. Die Macht der nuklearen Kontroverse wurzelte darin, dass sie rasch zu einem gesamtgesellschaftlichen Diskursprojekt wurde. Da ging es um die Energie, die seit dem Ölpreisschock von 1973 in aller Munde war, um Visionen der industriegesellschaftlichen Umgestaltung ganzer Regionen, um die Risiken großtechnischer Systeme, um Wachstumswahn und Umweltfragen, um den politischen Ort von wissenschaftlichen Experten und Planern und nicht zuletzt die Macht der Großkonzerne. Die nukleare Kontroverse war eine Plattform für die Auseinandersetzung mit politischen und sozioökonomischen Grundsatzfragen, und manchmal wirkten Debatten auch wie ein Ventil für ein Jahrzehnt voller Enttäuschungen. Für den Historiker Tony Judt waren die 1970er Jahre "das deprimierendste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts", und irgendwo musste der Frust halt hin.
Journalisten entwickelten ein Interesse an den zahlreichen Problemen der nuklearen Technologie, und Atomkraft fand einen festen Platz auf dem Medienmarkt. In der evangelischen Kirche wurde die nukleare Kontroverse zu einem Vehikel der Verständigung über den Ort der Kirche in der Gesellschaft, über das Verhältnis von Basis und Amtskirche und einiges mehr.
Die Vielfalt der Zugänge lief auf einen erheblichen Gesprächsbedarf hinaus, und so investierte die Bewegung viel Zeit und Energie in die interne Verständigung. Letztlich war die Vielfalt jedoch eindeutig ein Trumpf der Antiatomkraftbewegung, denn eine bunte Bewegung war für die mächtigen Gegner in Wirtschaft und Gesellschaft viel schwerer zu knacken. In ihr dokumentierte sich eine lebendige Zivilgesellschaft und eine abgeklärte Reife des gesellschaftlichen Engagements, und damit war die Antiatomkraftbewegung die finale Ratifikation der Fundamentalliberalisierung, die die politische Kultur der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren prägte.
So gewann der Atomprotest in den 1970er Jahren eine Wucht, die er von der Zahl der Demonstranten her nie besaß. Hinzu kam eine lebhafte intellektuelle Selbstverortung, die fließend in eine Selbsthistorisierung der Antiatomkraftbewegung überging: Der Vorsitzende des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz, Hans-Helmut Wüstenhagen, schilderte den Widerstand von Wyhl in einem Rowohlt-Taschenbuch von 1975 als prototypische Inkarnation der Hoffnungen, die politische Menschen seinerzeit mit Bürgerinitiativen verbanden,
Tatsächlich verfing das Anliegen, weil sich die Kritik von außen mit den internen Problemen der Kernenergie verband. Atomkraftwerke waren komplizierter, teurer und störanfälliger als gedacht, und die Energieprognosen, die Anfang der 1970er Jahre noch einen rasant steigenden Bedarf signalisierten, schrumpften immer mehr in sich zusammen. Da kamen auch nüchterne Energiemanager ins Grübeln, ob die ambitionierten Bauprogramme tatsächlich ihre Berechtigung hatten. In der Stromwirtschaft wurde es zur geflüsterten Weisheit, dass die Antiatomkraftbewegung der Energiebranche eine gigantische Fehlinvestition erspart hatte.
Im Bücherregal wirkte die Kritik an der Kernenergie um 1980 ziemlich beeindruckend. Dort standen Holger Strohms "Friedlich in die Katastrophe", Robert Jungks "Atomstaat", Klaus Traubes "Müssen wir Umschalten?" sowie als Mittel gegen Mutlosigkeit der Untergrundcomic "Asterix und das Atomkraftwerk".
Haltungsfragen
Die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre waren nach eigenem Anspruch spontan, dynamisch und hierarchiefrei. Das waren nicht die besten Voraussetzungen für den jahrzehntelangen Kampf, der den Gegnern der Atomkraft bevorstand. Die Entstehung des Atomprotests in den 1970er Jahren ist bislang weitaus besser erforscht als die Konsolidierung in den 1980er Jahren, und deshalb ist die Persistenz der Bewegung immer noch ein wenig rätselhaft. Vermutlich überlebten viele Gruppen nur deshalb, weil es einen harten Kern von Aktiven gab, die auch in schlechten Zeiten durchhielten. Über mehrere Jahre gab es kaum noch große Demonstrationen gegen Atomprojekte, aber immer noch gut besuchte Delegiertentreffen, und regelmäßig erschienen Szenezeitschriften wie "atom" und "radi aktiv", die ganz vom ehrenamtlichen Engagement lebten.
Der Widerstand gegen die Atomenergie hing jedoch immer weniger am zivilgesellschaftlichen Protest. Er gehörte auch zu den Kernanliegen der Grünen, die in den 1980er Jahren das bundesdeutsche Parteiensystem aufmischten. Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 fand auch die lange kontroverse Debatte in der SPD ihren Abschluss, als die Sozialdemokraten auf ihrem Nürnberger Parteitag für einen Atomausstieg innerhalb von zehn Jahren stimmten. Das Thema blieb in den Medien präsent, nicht selten mit klarer kritischer Schlagseite, und so wurde das, was in den 1970er Jahren noch mühsam diskursiv und handelnd erkämpft werden musste, zunehmend zum selbstverständlichen mentalen Inventar jedes kritisch denkenden Menschen. Energiefragen wurden zu Identitätsfragen.
Eine spiegelbildliche Entwicklung vollzog sich im Lager der Befürworter. Die atomfreundliche Publizistik drehte sich zunehmend um die ewiggleichen Stichworte: Sie beschwor den Beitrag zur Energieversorgung – seit den späten 1980er Jahren lieferten Atomkraftwerke etwa ein Drittel des bundesdeutschen Stroms – und lobte das hohe Sicherheitsniveau sowie die niedrigen Treibhausgasemissionen. Kritik daran wurde als Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen abgetan; für ernsthafte Gespräche gab es da keine Grundlage mehr: Worüber wollte man auch reden, wenn es da draußen "eine aus irrationalen Motiven entspringende Technikfeindlichkeit großer Bevölkerungskreise" gab?
Über Energieprognosen und Kraftwerksprojekte ließ sich verhandeln. Bei Identitäten war das schwieriger. Das zeigte sich 1993 in den Energiekonsensgesprächen zwischen Bundesregierung und Opposition. Von der Sache her gab es keine großen Streitpunkte mehr. Die kontroversen Projekte der vorigen Jahrzehnte – Wiederaufarbeitungsanlage, Schneller Brüter, Hochtemperaturreaktor – waren allesamt gescheitert, seit 1982 hatten die bundesdeutschen Stromkonzerne keine neuen Reaktoren mehr in Auftrag gegeben, und vielen Energiemanagern war Planungssicherheit längst wichtiger als neue nukleare Abenteuer. Zur Debatte stand unter anderem ein Neubauverbot im Grundgesetz, sodass neue Kernkraftwerke nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat hätten gebaut werden können.
Nach zwei Jahrzehnten intensiver Debatten hatten sich die Positionen angenähert, aber der letzte Schritt blieb aus: Die Energiekonsensgespräche scheiterten, und der große Konsens entstand erst 18 Jahre später nach Fukushima. Bundesumweltminister Klaus Töpfer hatte in den Verhandlungen gefordert, "den Neubau von Prototyp-Kernkraftwerken zuzulassen, die einer neuen Qualität der Reaktorsicherheit genügten", und darüber wollten SPD und Grüne noch nicht einmal reden.
Klempner der Verhandlungsdemokratie
Ein Energiekonsens war 1993 nur denkbar, weil es auf allen Seiten Lernprozesse gegeben hatte. Aber es scheint, dass man mit Gesprächen auch in einer auf Verhandlungen ausgerichteten Demokratie nur bis zu einem gewissen Punkt kommt. Es braucht politische Führung, damit aus potenziellen Entscheidungen reale werden. Das zeigte sich in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung, die im Juni 2000 nach schwierigen Verhandlungen einen Atomkonsens mit den Stromkonzernen unterschrieb, und dann erneut 2011, als der Bundestag nach Fukushima mit breiter Mehrheit den endgültigen Ausstieg zum Jahresende 2022 beschloss. In beiden Fällen brauchte es die couragierte Initiative der politischen Spitze. Gerhard Schröder hatte die Energiekonsensgespräche der 1990er Jahre mit initiiert, als Bundeskanzler die Verhandlungen seiner Regierung auf dem Weg gebracht und am Ende auch persönlich die Regie übernommen. Seine Amtsnachfolgerin Angela Merkel gab in aller Öffentlichkeit zu verstehen, dass sie sich in der Bewertung des atomaren Risikos geirrt hatte.
Für Schröder und Merkel hat sich das Wagnis gelohnt: Beide profitierten erkennbar von den unter ihrer Ägide getroffenen Entscheidungen. Ambivalenter ist die Bilanz bei jenen, die das Mühlwerk der Verhandlungsdemokratie im politischen Alltag in Bewegung hielten. Man lese nur das Strategiepapier, in dem der Grünen-Politiker Rainer Baake im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 ein Ausstiegsgesetz für die rot-grüne Bundesregierung skizzierte. Der Preis des Scheiterns stand Baake lebhaft vor Augen: Es drohten "die Aufhebung eines Ausstiegsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht oder ein verlorener Schadensersatzprozeß in Milliardenhöhe oder zigtausende arbeitslose ArbeitnehmerInnen aus der Kernenergiebranche".
Die Bilder des Atomprotests haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Die "Schlacht von Brokdorf" etwa fand schon vor zwei Jahrzehnten Eingang in Geschichtsbücher.
Nachzerfallswärme
Der Atomkonflikt war ein Härtetest für die bundesdeutsche Verhandlungsdemokratie. Es gab große Investitionen und nicht minder große Leidenschaften, und das sind nicht die besten Voraussetzungen für das gesellschaftliche Gespräch. Trotzdem gelang eine Verständigung über Lagergrenzen hinweg, die greifbare Folgen hatte. Die bundesdeutsche Diskursgemeinschaft rüttelte sich in vielen kleinen Schritten ein nukleares Projekt zurecht, das in dieser Form niemand geplant hatte. Es gab zwar jede Menge Störsignale und Zeiten der Funkstille, aber letztlich fanden alle Seiten immer wieder die Kraft zum Gespräch – und 2011 sogar zum finalen Bündnis für den Ausstieg. Im Wissen um das Ende könnte man deshalb von einer grandiosen Erfolgsgeschichte sprechen, wenn sich nicht zwei Vorbehalte aufdrängten. Erstens hat das Mahlwerk der Verhandlungsdemokratie ziemlich viel Zeit und Energie verbraucht, und zweitens nahm das Tempo der wechselseitigen Annährung in den vergangenen drei Jahrzehnten spürbar ab. Nachdem es in den 1970er Jahren noch auf allen Seiten eine steile Lernkurve gegeben hatte, verhakten sich die Kontrahenten plötzlich in symbolische Konflikte.
Es wäre kurzsichtig, diesen Stillstand lediglich als Produkt einer identitätspolitischen Verirrung zu sehen. Tatsächlich wurden frühere Vorstellungen von Demokratie und legitimem gesellschaftlichem Handeln nicht einfach abgestreift, sondern vielmehr von neuen Ansprüchen und Denkmustern überlagert. Hinzu kamen die individuellen und kollektiven Erfahrungen, die Ereignisse, die Bilder, auch die persönlichen Verwundungen, und all das lief darauf hinaus, dass die nukleare Debatte unter dem ständig wachsenden Alpdruck ihrer eigenen Geschichte erlahmte. Die abflachende Lernkurve dokumentierte so gesehen nicht die Vergesslichkeit der Menschen, sondern ganz im Gegenteil die Gegenwart der Geschichte. Je länger die bundesdeutsche Verhandlungsdemokratie an der Atomkraft laborierte, desto komplizierter und spannungsreicher wurde sie.
Der Wunsch nach billiger Energie wurde schließlich nicht obsolet, als die Boomjahre vorüber waren. Der Erfolg der Antiatomkraftbewegung lag wohl auch darin begründet, dass der bundesdeutsche Konsumbürger sich nie mit den Folgen eines überhasteten Atomausstiegs konfrontiert sah. Unter dem Eindruck von Stromsperren oder explodierenden Preisen hätte die Geschichte vielleicht eine andere Wendung genommen. Es war auch keineswegs so, dass die forschen Macher der Wirtschaftswunderjahre die lebendige Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie teilnahmslos verfolgt hätten. Sie engagierten sich mit Leidenschaft in den Grundsatzdebatten der 1970er Jahre, und der Wunsch nach Respekt, der in identitätspolitischen Debatten floriert, war ihnen ebenfalls nicht fremd.
Heinrich Mandel war bereits anderthalb Jahre tot, als sein "Spiegel"-Gespräch noch einmal Wellen schlug. Im September 1980 beschwerte sich der Generalbevollmächtigte des RWE, August Wilhelm Eitz, in einem Brief an Rudolf Augstein, den Herausgeber des Nachrichtenmagazins, über die Bebilderung. Die Redaktion hatte ein Foto gedruckt, das Mandel vor einem raumfüllenden Plakat mit Schriftzug zeigte, und zwar so, dass rechts und links seines Kopfs der Buchstabe "t" zu sehen war – "Kreuze zu beiden Seiten, in einer alle Regeln menschlichen Anstands verletzenden Weise", schrieb Eitz. Mandel war an Krebs gestorben und hatte das Interview auf seinem späteren Totenbett gegeben, und da hörte auch für hartgesottene Konzernlenker der Spaß auf: "Herr Prof. Mandel war über Ihre Darstellung zutiefst erschüttert."
Im Atomkonflikt gab es nicht nur den Streit um Prinzipien, sondern auch eine ständig wachsende Zahl von Sekundär- und Tertiärkonflikten, die jederzeit wieder aufbrechen konnten. Die Nachzerfallswärme, die Brennelemente nach dem Ende der Kettenreaktion noch entfalten, gab es auch in der gesellschaftlichen Debatte, und ähnlich wie im Reaktor drohte auch im Gespräch eine Kernschmelze, wenn sich niemand um Abkühlung bemühte. Ein Diskursprojekt lebt von Muße, Besonnenheit und der Bereitschaft, die Dinge auch einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Aber all das kommt leicht unter die Räder, wenn sich die Spirale der Erregung ständig weiterdreht, und dies befeuerten nicht nur radikale Kernkraftgegner, sondern auch mal der Generalbevollmächtigte des RWE.
"Der Spiegel" blieb unbeeindruckt und antwortete mit einem Formschreiben. Vielleicht wäre es besser gelaufen, wenn Eitz nicht auf Empörung, sondern auf die Kraft der rhetorischen Retourkutsche gesetzt hätte? Im September 1980 hatte sich "Der Spiegel" wiederum an christlichen Symbolen vergriffen und einen Bericht über Biblis C mit dem Bild eines Kreuzes vor der Kulisse des Atommeilers illustriert.
Der "Spiegel" war seinerzeit gewiss keine Bastion des guten Geschmacks, und über seine Bildpolitik konnte man sich mit guten Gründen empören. Aber auch eine solche Entgleisung wurde in eine Diskursmaschinerie eingespeist, in der letztlich die Mikroprozesse der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie zum Tragen kamen. Man durfte seinen Gefühlen freien Lauf lassen, denn das war nach dem Grundgesetz verbrieftes Recht eines jeden Bürgers, aber allzu leicht landete man damit in der Sackgasse. Auf Dauer kam man weiter, wenn man im Gespräch blieb, und irgendwann kam man damit an den Punkt, an dem ein Konsens denkbar war. Dann brauchte es nur noch fähige Klempner.