Ende Februar 2022 – bereits im Aufmerksamkeitsschatten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – erschien der zweite Teil des Sechsten Weltklimaberichts des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Die Kernbotschaft: Wir haben nur mehr ein kurzes Zeitfenster, um eine nachhaltige und lebbare Zukunft für alle zu sichern. Schon der im August 2021 erschienene erste Teil hatte UN-Generalsekretär António Guterres von "Alarmstufe Rot" sprechen lassen.
Obwohl die Klimakatastrophe in den politischen Diskussionen und Entscheidungsprozessen seit einigen Jahren deutlich ernster genommen wird, muss man feststellen, dass der Ernst der Lage noch immer weitgehend verkannt wird. Wirtschaftliche Interessen, politische Machtkonstellationen, Kurzsichtigkeit und das Festhalten an nicht nachhaltigen Lebensweisen stehen einer adäquaten Antwort auf diese epochale Herausforderung im Wege. Vor diesem Hintergrund richtete die Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg 2021 in der "New York Times" einen eindringlichen Appell an die politischen Entscheidungsträger*innen: "We are in a crisis of crises. The current generation of adults, and those that came before, are failing at a global scale. We will not allow the world to look away."
Thunberg war es bekanntlich auch, die vor nun beinahe vier Jahren, im August 2018, als damals 15-Jährige den Schulstreik für das Klima mit ihren Aktionen in Schweden lancierte und damit den Weg für die Protestbewegung "Fridays For Future" (FFF) bahnte. Seither hat FFF viel Zuspruch erhalten, aber auch zahlreiche Gegenreaktionen provoziert. Schüler*innen wurde aufgrund des mit den freitäglichen Demonstrationen einhergehenden Verstoßes gegen die Schulpflicht mit disziplinarischen Konsequenzen gedroht. Auch mangelnder Realismus und ideologische Borniertheit wurde FFF vorgeworfen,
Die Gruppe "Extinction Rebellion" (XR) geht bekanntlich einen Schritt weiter: Sie verfolgt nicht nur weitergehende Ziele, sondern setzt als Mittel auch klassische Aktionsformen des zivilen Ungehorsams ein – also des politisch motivierten, absichtlichen Gesetzesbruchs – wie Straßenblockaden und die Besetzung von Gebäuden, mit denen die Aktivist*innen riskieren, verhaftet und strafrechtlich verfolgt zu werden.
Als dritte Gruppierung ist "Ende Gelände" zu nennen, die mit Großaktionen wie etwa im Rheinischen Braunkohlerevier gegen das Unternehmen RWE protestiert und sich dabei unter anderem des Hausfriedensbruchs schuldig macht. Im Gegenzug ist sie vom Berliner Verfassungsschutz als linksextrem und gewaltbereit eingestuft und beobachtet worden.
Schließlich haben in den ersten Monaten 2022 die Aktivist*innen der Gruppe "Aufstand der letzten Generation" mit ihren sporadischen Blockaden von Autobahnen, Flughäfen und Häfen für Schlagzeilen gesorgt.
Aus diesen Beobachtungen zum politischen Diskurs über die Aktionen des zivilen Ungehorsams im Zuge der Klimabewegung ergibt sich die theoretische und politische Dringlichkeit, grundsätzlicher zu klären, wie weit Protest in einer Demokratie gehen darf und was mit dem Label "ziviler Ungehorsam" eigentlich gemeint ist. Die Praxis des zivilen Ungehorsams und die Abwehrreaktionen dagegen kritisch zu beleuchten, und nicht nur die grundsätzliche Legitimität des Klimaprotests, sondern auch seine Rechtfertigbarkeit im Einzelfall unter die Lupe zu nehmen, sind dabei wesentliche Aufgaben der öffentlichen Diskussion, zu denen auch politische Theorie und Philosophie beitragen können. Dafür ist es nötig, die Bedeutung des Begriffs, die möglichen Rechtfertigungen der damit bezeichneten Aktionen und deren Rolle in einem mehr oder weniger gut funktionierenden demokratischen Rechtsstaat genauer zu betrachten.
Definitionsversuche
Der Begriff des zivilen Ungehorsams hat eine lange und illustre Geschichte, die mit Namen wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King verbunden ist, die auch heute immer wieder – wenn auch meist in historisch und politisch sehr verkürzender Weise – als moralische Vorbilder aufgerufen werden.
Fruchtbarer scheint es vor diesem Hintergrund zu sein, die Bedeutung von zivilem Ungehorsam weniger verengt wie folgt zu verstehen: Ziviler Ungehorsam bezeichnet Protesthandeln, das absichtlich rechtswidrig (im Unterschied zu legalen Formen des Protests), prinzipienbasiert (im Unterschied zu "gewöhnlichen" Straftaten oder "unmotivierter" Randale), wesentlich, aber nicht ausschließlich symbolisch, sondern auch disruptiv und darauf ausgerichtet ist, politische, soziale und rechtliche Veränderungen herbeizuführen (im Unterschied zur Weigerung aus Gewissensgründen), ohne dabei organisierte physische Gewalt anzuwenden (im Unterschied zum militanten Aufstand).
Bevor wir uns der Frage der Rechtfertigung zuwenden, ist es allerdings sinnvoll, im nächsten Schritt zu fragen, welche Rolle ziviler Ungehorsam in einem demokratischen Rechtsstaat spielen kann: Haben die Bürger*innen in einer repräsentativen Demokratie nicht andere, legale Möglichkeiten, um ihre Meinung kundzutun, Einfluss zu nehmen und zu protestieren – etwa, indem sie Leserbriefe schreiben, auf angemeldete Demonstrationen gehen, NGOs beitreten, Parteien gründen? Auch wenn es diese weitgehenden Möglichkeiten des gesetzeskonformen politischen Engagements gibt und sie für eine Demokratie von zentraler Bedeutung sind, ist es doch genauso richtig festzustellen, dass zur Realisierung wesentlicher Forderungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch radikaler, das Spannungsverhältnis von Legitimität und Legalität dramatisierender Protest historisch notwendig war – und auch heute noch notwendig sein kann: Dies kann von der Einforderung und Durchsetzung individueller Rechte über die Ermöglichung demokratischer Beteiligung für ausgeschlossene und marginalisierte Gruppen bis zur Herstellung von Öffentlichkeit für vernachlässigte Themen und Perspektiven reichen – alles zentrale Achsen demokratischer Teilhabe und Inklusion. Aus dieser Perspektive sind soziale Bewegungen und radikaler Protest wesentliche Triebkräfte der Demokratisierung, da die etablierten Institutionen selbst nicht besonders gut darin sind, aus sich heraus Demokratiedefizite zu identifizieren und adäquat anzugehen. Von der Frauen- und Arbeiterbewegung bis zu antirassistischen Bewegungen und Protesten von Geflüchteten gibt es zahleiche Beispiele für diese demokratiebelebende und -begründende Rolle von Protest.
Pfade der Rechtfertigung
Damit komme ich zur Frage nach der Rechtfertigbarkeit von zivilem Ungehorsam in der Klimakatastrophe. Wie schon angedeutet, gehen die Einschätzungen über radikalen Klimaaktivismus weit auseinander: Die einen sprechen von Erpressung (so der heutige Landwirtschaftsminister Cem Özdemir), andere halten ihn für "zutiefst antidemokratisch und infantil" (so der Sozialpsychologe Harald Welzer), und wieder andere malen das Schreckgespenst einer "grünen RAF" (so der Politikwissenschaftler Tadzio Müller) an die Wand, das auch gerne von der extremen Rechten aufgegriffen wird.
Aus der allgemeinen Bedeutung dieser Art des Protests für die Demokratie und seiner daraus ableitbaren prinzipiellen Legitimität folgt allerdings noch keine Antwort auf die Rechtfertigbarkeit von Aktionen im Einzelfall. Diese ist von vielen Faktoren bedingt, die ihrerseits kontextabhängig sind, und obliegt in letzter Instanz dem Urteil der demokratischen Öffentlichkeit. Dennoch können aus theoretischer Perspektive verschiedene Pfade der Rechtfertigung unterschieden werden, die gerade für den Klimaprotest einschlägig sind. Auch wenn die Frage der Rechtfertigung noch komplexer als die der Definition ist, lassen sich mindestens vier Begründungspfade identifizieren, die man auf die folgenden Stichworte bringen kann: 1) Notwehr, 2) intergenerationelle und internationale Ungerechtigkeit, 3) Demokratiedefizit und 4) Unwissen.
Fangen wir mit der Notwehr-Argumentation an, die manchmal auch mit den Begriffen "Nothilfe", "Notstand" und "Selbsthilfe" operiert. So haben sich etwa 2020 vor dem Bezirksgericht Lausanne Aktivist*innen auf einen rechtfertigenden Notstand berufen und argumentiert, die von ihnen gewählte Protestform – die Besetzung einer Bankfiliale zur Veranstaltung eines Tennisspiels, um den Tennisprofi Roger Federer zur Distanzierung von seinem ökologisch bedenklichen Werbepartner zu motivieren – sei angesichts der Klimakatastrophe notwendig und angemessen. Dieser Argumentation ist das Gericht zunächst gefolgt, aber schon die nächsthöhere Instanz hat festgestellt, dass kein rechtfertigender Notstand vorliegt, da – aus Sicht des Gerichts – keine unmittelbar drohende Gefahr nachgewiesen werden kann. Auch deutsche Gerichte erachten etwa Eingriffe in die Eigentumsrechte von Konzernen in Reaktion auf die Klimakatastrophe weder durch Nothilfe noch durch Notstand für gerechtfertigt, weil weder ein unmittelbarer rechtswidriger Angriff erkennbar sei noch eine unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit bestehe.
Ein zweiter Rechtfertigungspfad verweist auf substanzielle und massive Ungerechtigkeiten auf gleich zwei Ebenen: intergenerationell, da wir heute auf Kosten zukünftiger, noch ungeborener und schon jetzt lebender jüngerer Generationen leben; international, da der Globale Norden für die Klimakrise ursächlich verantwortlich ist, während die ärmsten Länder im Globalen Süden schon heute am meisten an den irreversiblen Folgen leiden und einen Großteil der Kosten tragen werden (und aus Sicht vieler Regierungen des Globalen Nordens scheinbar auch tragen sollen).
Drittens können Protestbewegungen auf ein massives und mehrdimensionales Demokratiedefizit aufmerksam machen. Dabei ist zum einen an strukturelle Lücken der demokratischen Inklusivität und Repräsentation zu denken, die dafür sorgen, dass die am stärksten Betroffenen gar keine Stimme haben. Das gilt wiederum doppelt, nämlich generationell mit Bezug auf Kinder und Jugendliche, die (noch) kein Wahlrecht haben und deren Interessen im politischen System wenig Fürsprache finden, und geografisch mit Bezug auf jene Betroffenen im Globalen Süden, die den häufig von Eigeninteresse und Kurzsichtigkeit geleiteten Entscheidungen des Globalen Nordens ausgeliefert sind, ohne an ihnen beteiligt zu sein. Darüber hinaus bestehen selbst bei formaler Beteiligung massive und gut dokumentierte Verzerrungen des demokratischen Prozesses, etwa durch Intransparenz, Hinterzimmerabsprachen und Lobbyismus sowie Formen institutionalisierter Korruption.
Schließlich dient Protest viertens dem Aufweis epistemischer und deliberativer Mängel, also der aus der Innenperspektive schwer erkennbaren Tatsache, dass die Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in repräsentativen Demokratien relevante Wissensbeständige häufig ganz ausgeblendet lassen oder nur selektiv und in verzerrter Form berücksichtigen. Dies kann etwa mit dem weitverbreiteten Willen zum Nichtwissen und mit strategischer Ignoranz zu tun haben, da mit der Abwendung der schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe ja durchaus gut organisierte ökonomische Interessen, gesellschaftliche Machtverhältnisse und die eigene Lebensführung potenziell auf dem Spiel stehen. Auch kognitive Überforderung und Abwehrreaktionen spielen hier eine Rolle, was angesichts der Komplexität und des gewaltigen Ausmaßes der Herausforderung auch nicht überraschend ist, jedoch durch gezielte Desinformation und Pseudowissenschaft ausgenutzt und verschärft wird, wie etwa die Versuche konservativer Thinktanks und großer Unternehmen belegen, den wissenschaftlichen Konsens durch gut finanzierte Kampagnen zu unterminieren.
Wie auch immer man im Einzelnen zu diesen Rechtfertigungsstrategien stehen mag, zusammengenommen stützen sie doch die These, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen auch radikale Formen des Protests und des zivilen Ungehorsams nicht nur als legitim und notwendig gelten können, sondern in zahlreichen Einzelfällen auch durchaus Aussicht auf Rechtfertigbarkeit haben. Dabei sollte die Radikalität des Protests nicht überbetont werden, da es schließlich häufig um den Appell geht, verfassungsrechtlich anerkannte Normen und Prinzipien endlich in ihrer Tragweite zu erkennen und umzusetzen. So verpflichtet Artikel 20a GG den Staat bekanntlich dazu, "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen" zu schützen. Dieser Passus ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 endgültig vom symbolischen Staatsziel zum Grundrecht geworden.
Offene Herausforderungen
Trotz dieser Legitimitätsvermutung, der sich die Klimabewegung sicher sein darf, und der insgesamt gut begründeten Aussicht auf Rechtfertigbarkeit konkreter Aktionen des zivilen Ungehorsams stehen die Proteste auch intern vor einigen Herausforderungen, die ich abschließend kurz skizzieren möchte.
Die erste Herausforderung besteht im "scaling up" und betrifft die Ebenen, auf der Klimapolitik stattfindet: Während die Proteste meist lokal und national verankert sind und organisiert werden, ist die Klimakrise eine transnationale Herausforderung, die auch eine transnationale Antwort verlangt, die von transnationalen Akteurskonstellationen unter prominenter Einbeziehung von Akteuren aus dem Globalen Süden vorangetrieben werden muss. Ansätze hierzu sind durchaus vorhanden, da sich Bewegungen zunehmend vernetzen, aber hier besteht noch deutlicher Handlungs- und Organisationsbedarf.
Die zweite Herausforderung besteht darin, dass die Klimabewegung recht gut darin ist, kurzfristig zu mobilisieren, es ihr bisher aber nicht so gut gelungen ist, mittel- und langfristig organisatorische Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihr erlauben würden, sich zu verstetigen und nachhaltig zu vernetzen, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren, und etwa auch ihre Mittel und Medien des Protests anzupassen, wenn sie in eine Sackgasse geraten, wie das aufgrund der Skandalisierung der Autobahnblockaden beim "Aufstand der letzten Generation" der Fall zu sein scheint.
Drittens gibt es in der Bewegung noch immer zu viele, die den letztlich entpolitisierenden Traum einer expertokratischen Sozialtechnologie träumen, die uns vor der Klimakatastrophe und dem Klein-Klein demokratischer Politik retten soll. Die allermeisten Klimawissenschaftler*innen bestehen darauf, dass aus der wissenschaftlichen Analyse nicht abgeleitet werden kann, was genau zu tun ist und wie wir unsere Gesellschaften reorganisieren sollen, um das Schlimmste zu verhindern. Natürlich gibt es bestimmte Entscheidungen, die durchaus durch die Tatsachen nahegelegt werden, aber wie wir auf nachhaltige und gerechte Weise zusammenleben wollen und sollen, ist eine genuin politische und nur in der demokratischen Deliberation, Entscheidungsfindung und Selbsttransformation zu klärende Frage.
Viertens und abschließend sind die Warnungen vor einer "grünen RAF" zwar überzogene Diskreditierungsversuche, aber die Bewegung sollte sich der Risiken advokatorischen Ungehorsams unter Bedingungen des wahrgenommenen Notstands bewusst bleiben und Tendenzen zu Avantgardismus und Selbstisolierung durch demokratische Praktiken der Offenheit, der Selbstreflexion und der solidarischen Bildung von Allianzen begegnen. Nur so kann der Protest selbst der Idee und Praxis des Ungehorsams als Teil der Demokratie verpflichtet bleiben und zur Demokratisierung der Demokratie auch im Zeichen der Klimakatastrophe beitragen.