Mit der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vor mehr als 30 Jahren ging ein Institutionentransfer von West nach Ost einher. Entsprechend war auch die Neustrukturierung der ostdeutschen Rundfunklandschaft ein Angleichungsprozess nach bundesdeutschem Muster. Das DDR-Rundfunksystem wurde zerschlagen und in einem radikalen Transformationsprozess in das demokratische System der Bundesrepublik integriert. Dieser Prozess war eine außergewöhnlich unreglementierte und dadurch hochpolitische Angelegenheit, deren Folgen bis heute spürbar sind.
Auch sonst ist die Medienlandschaft Ostdeutschlands noch stark von den Entwicklungen Anfang der 1990er Jahre geprägt: Der ostdeutsche Pressemarkt etwa ist fest in der Hand westdeutscher Verleger*innen, die diesen schon im Mai 1990 untereinander aufgeteilt hatten. Weder konnte sich eine vielfältige ostdeutsche Lokalpresse entwickeln, noch ein starkes ostdeutsches, überregional relevantes Medium. In den überregionalen Medien wiederum sind ostdeutsche (Chef-)Redakteur*innen unterrepräsentiert, und auch der journalistische Nachwuchs kommt seltener aus den ostdeutschen Bundesländern. Auch deshalb sind ostdeutsche Perspektiven in der deutschen Medienlandschaft wenig verbreitet: Es wird eher "über den Osten" berichtet als "aus dem Osten".
Solche Skandale stützen die verbreitete Annahme, Ostdeutschland sei eine "massenmedial multiple Problemzone".
Auch wenn es nicht völlig unplausibel scheint, die "Lügenpresse"-Vorwürfe bei manchen als Spätfolge ihrer DDR-Sozialisation zu erklären, ist es doch naheliegender, sie als Langzeitfolgen von Entkopplungsprozessen im Rahmen des Institutionentransfers Anfang der 1990er Jahre zu verstehen. Sie gründen eher im historischen Versäumnis, aus DDR-Erfahrungen zu lernen, ostdeutsche Reformimpulse anzuerkennen und die Medienlandschaft in ganz Deutschland neu zu ordnen. Hierunter leidet bis heute auch der ÖRR.
In diesem Beitrag soll "der Osten" nicht als Problemzone, sondern als Chance betrachtet werden. Aktuelle Reformdebatten rund um den ÖRR können aus ostdeutschen Erfahrungen lernen. Um das zu plausibilisieren, soll zunächst die Gründung der öffentlich-rechtlichen Anstalten Anfang der 1990er Jahre rekapituliert und nach den strukturellen Problemen gefragt werden, die hier ihre Wurzeln finden. Anschließend sollen die Entwicklungen in der Nutzung und die Erwartungen an den ÖRR in den vergangenen 30 Jahren nachgezeichnet werden. Spätestens hier wird klar: "Den Osten" gibt es nicht. Denn genau wie der Bayerische Rundfunk (BR) nicht so wie Radio Bremen ist, ist der MDR nicht so wie der RBB. Es gibt regionale Unterschiede im Nutzungsverhalten zwischen und innerhalb der Sendegebiete. Der MDR ist – gemessen an der Einwohner*innenzahl seines Sendegebietes Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt – die größte ostdeutsche ARD-Anstalt. Er wird anders genutzt als der RBB in Berlin und Brandenburg, und auch anders als der NDR in Mecklenburg-Vorpommern. Gleichzeitig gibt es viele Überschneidungen in Nutzung und Erwartung zwischen Ost- und Westdeutschen: Strukturell vergleichbare Regionen in West und Ost ähneln sich häufig deutlicher als Regionen innerhalb Ost- oder Westdeutschlands. Beide Punkte – regionale ostdeutsche Unterschiede sowie ost- und westdeutsche Gemeinsamkeiten – gehen in der aktuellen Debatte oft unter.
Der ÖRR im Osten
Anders als die westdeutschen wurden die ostdeutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten erst im Zuge der deutschen Einheit gegründet. Hörfunk und Fernsehen der DDR wurden nach Artikel 36 des Einigungsvertrages in eine gemeinsame Einrichtung überführt beziehungsweise aufgelöst und zum 1. Januar 1992 in das öffentlich-rechtliche System der Bundesrepublik integriert. Mecklenburg-Vorpommern trat dem Staatsvertrag des NDR bei, und der Deutschlandfunk, RIAS Berlin und der Ostsender DS-Kultur fusionierten zum Deutschlandradio. Neben dem MDR entstand zunächst der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB), der 2003 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum RBB fusioniert wurde.
Diese scheinbar erfolgreiche Transformation ist häufig auf Kritik gestoßen. Die Politikwissenschaftlerin Sylvia Dietl etwa weist darauf hin, dass die westdeutschen Akteur*innen zwar ihr Ziel erreichten, das bundesdeutsche öffentlich-rechtliche Rundfunksystem auf den Osten zu übertragen. Nicht gelungen sei jedoch die Art und Weise der Umsetzung: "Es war", so Dietl, "ein unreflektierter, kritikloser Systemtransfer. (…) Nicht nur wurden sämtliche demokratieschwächenden Dysfunktionalitäten des westdeutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die neu gegründeten Anstalten übertragen. Sie wurden teils sogar noch verstärkt."
Der Einfluss der Parteipolitik während der Gründungsphase der öffentlich-rechtlichen Anstalten lässt sich gut am Beispiel des MDR zeigen. Die Mehrheitsparteien der jeweiligen Landtage nutzten den MDR-Staatsvertrag, um früh ihre Einflussmöglichkeiten zu sichern, was unter anderem dazu führte, dass die Aufsichtsgremien weniger staatsfern und gleichzeitig abhängiger von gesellschaftlichen Machtgruppen ausgestaltet wurden. Auch deshalb hielt der Medienrechtler Wolfgang Hoffmann-Riem, damals Direktor des Hans-Bredow-Instituts in Hamburg, den MDR-Staatsvertrag 1991 sogar für verfassungswidrig. Durch den politischen Einfluss seien "pluralismusfeindliche Strukturen" entstanden, "wie sie in dieser Einseitigkeit in keiner westdeutschen Rundfunkanstalt bestehen".
Ein effektives Steuerungsinstrument war hierbei der Elitentransfer von West nach Ost, also die Auswahl der Führungskräfte bei MDR und ORB. Die Gründungsintendant*innen, die gewählten Intendant*innen sowie zahlreiche Direktor*innen kamen aus den westdeutschen ARD-Anstalten. Nicht zuletzt dank des starken Einflusses der sächsischen CDU gab es vor allem beim MDR ein enormes Ungleichgewicht zwischen west- und ostdeutschen Führungskräften.
Aber nicht nur Politiker*innen und Parteien, sondern auch die westdeutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten selbst betrieben intensiv Rundfunkstrukturpolitik, vor allem der NDR und der SFB. Der BR wiederum forcierte den Aufbau des MDR und nahm sowohl über den Elitentransfer als auch strukturell während der gesamten Planungsphase Einfluss.
Hinter diesen Entwicklungen standen sowohl Expansionsbestrebungen der etablierten Rundfunkanstalten als auch wirtschaftliches Kalkül. Den relevanten Akteur*innen ging es nicht zuletzt um die Sicherung ihres parteipolitischen Einflusses und landesspezifischer Interessen in den Anstalten. Weniger ging es ihnen um gemeinwohlorientiertes Handeln oder die Schaffung bestmöglicher Rahmenbedingungen für die Anstalten selbst. Beides, so Sylvia Dietl, "braucht es aber, um Akzeptanz für neue Strukturen zu schaffen. Das wurde im Osten Deutschlands verpasst."
Wahrnehmung und Nutzung des ÖRR im Osten seit 1992
Wie entwickelte sich nun nach 1992 die Beziehung der Bürger*innen im Osten Deutschlands zum ÖRR? Die gerade beschriebenen Vorgänge könnten vermuten lassen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Ostdeutschland auf höhere Ablehnung oder ein geringeres Nutzungsverhalten stößt. Jedoch zeigen vergleichende Langzeitstudien zum Mediennutzungsverhalten in Ost- und Westdeutschland viele Gemeinsamkeiten und "keine drastischen, aber erkennbare Abweichungen".
Auch in der Fernsehnutzung zeigen sich über die Jahrzehnte sowohl Gemeinsamkeiten als auch bleibende Unterschiede, die teils soziostrukturell und teils mentalitätsbedingt sind. In den ersten Jahren nach der deutschen Einheit sahen die Menschen in Ostdeutschland anders fern als im Westen: Zwar spielten Nachrichtensendungen für Ost- und Westdeutsche gleichermaßen die größte Rolle, aber Ostdeutsche sahen länger fern und nutzten häufiger die kommerziellen Privatsender. Zugleich konsumierten sie aber auch stärker die öffentlich-rechtlichen Dritten Programme der ARD, und sie widmeten sich stärker Infotainment- und Unterhaltungsangeboten. Auch stellten sie höhere Ansprüche an öffentlich-rechtliche Sender und erwarteten, dort Themen und Akteur*innen aus den Regionen Ostdeutschlands vorzufinden, die den eigenen Identitätsbedürfnissen entsprachen.
Zehn Jahre nach der deutschen Einheit waren Ost- wie Westdeutsche mehrheitlich der Meinung, dass das Erste und das ZDF die besten Informationssendungen bieten. Dennoch beurteilten ostdeutsche Zuschauer*innen diese Informationssendungen insgesamt etwas skeptischer.
Aber bestehen die frühen Nutzungsmuster und -erwartungen noch heute? Nach 25 Jahren deutscher Einheit zeigten sich nach wie vor Unterschiede im Nutzungsverhalten, aber auch weitere Angleichungen. Ostdeutsche sahen weiterhin länger und früher am Tag fern, sie nutzten stärker Privatsender und die Dritten Programme, nicht zuletzt für (regionale) Informationen.
Aktuellen Akzeptanzstudien zufolge liegen die Fernseh-, Radio- und Internetangebote des ÖRR in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit in Ost- wie in Westdeutschland im Vergleich zu anderen Medien an der Spitze. Das hat sich auch durch die Corona-Berichterstattung nicht geändert. Ende 2020 griffen in den östlichen Bundesländern wöchentlich 95 Prozent der Bürger*innen auf mindestens ein ARD-Angebot zu, in den westlichen Bundesländern waren es 92 Prozent. Menschen in Ost wie West betonen den grundsätzlichen Wert der ARD für das Gemeinwohl: 83 Prozent stufen ihre Bedeutung für die Gesellschaft als sehr hoch beziehungsweise hoch ein. Dieser Konsens zwischen Ost und West ist generationenübergreifend, nicht zuletzt dank digitaler Angebote.
Mehr Skepsis im Osten?
Woher kommt dann aber die Wahrnehmung, dass Ostdeutsche "den Medien deutlich weniger [vertrauen] als Westdeutsche" oder dem ÖRR gegenüber generell skeptischer sind?
Das hat nicht zuletzt etwas mit den Methoden der Studien zu tun. Wissenschaftler*innen messen seit Jahrzehnten Medienvertrauen. Eine Grundannahme ist, dass Medienvertrauen grundsätzlich positiv und Misstrauen in Medien eher negativ zu bewerten ist. Dabei ist es gar nicht einfach zu sagen, was "Medienvertrauen" eigentlich ist: Vertrauen wir bestimmten Journalist*innen oder Moderator*innen, weil wir sie sympathisch finden? Vertrauen wir einer Zeitung oder einem Sender, weil wir sie schon immer konsumieren? Glauben wir alles, was sie berichten? Oder gehört es nicht zu unserer Pflicht als Bürger*innen in einer demokratischen Gesellschaft, kritisch zu hinterfragen, was uns medial geboten wird? Zur Beantwortung dieser Fragen sind quantitative wissenschaftliche Erhebungen nur bedingt hilfreich.
Warum das so ist, lässt sich gut anhand der Studie zeigen, die das vermeintliche ostdeutsche Medienmisstrauen zu belegen scheint. Hier lautete die Frage: "Wenn Sie jetzt einmal an die deutschen Medien denken: Inwieweit vertrauen Sie den deutschen Medien?"
Regionale, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Differenzierungen sind auch deshalb wichtig, weil Studien zur gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland zeigen, dass die Hauptkonfliktlinien "nicht primär zwischen Ost und West, sondern zwischen gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen Einstellungsmustern" verlaufen – und die finden sich in allen Landesteilen.
Der Osten als Chance
Der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems in Ostdeutschland hätte "nicht ohne öffentliche Diskussion und schon gar nicht ohne Berücksichtigung ostdeutscher Reformideen geschehen dürfen".
Schon ab Dezember 1989 gab es in den DDR-Funkhäusern personelle und strukturelle Veränderungen. In die Führungsspitzen kamen gewählte Redakteur*innen, die die Programme änderten, neue Formate einführten und mit Mitarbeiter*innen und Rezipient*innen im Austausch standen. Durch die Liberalisierungsprozesse entwickelte sich eine Eigendynamik, die einige Monate lang zu einer nie dagewesenen journalistischen Freiheit und Unabhängigkeit führte.
Darüber hinaus gab es in der Wendezeit konkrete Gesetzesinitiativen wie den Beschluss der Volkskammer über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit vom 5. Februar 1990, die eine gesamtdeutsche Diskussion verdient gehabt hätten. Der Medienbeschluss etwa sollte ein erster Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Mediengesetz sein, das auf alle Medien angewendet werden und konkrete Freiheiten ausgestalten sollte. Er war Ausdruck basisdemokratischer Diskussionsprozesse, die von allen wichtigen reformorientierten DDR-Akteur*innen verhandelt und beschlossen worden waren. Noch im Juni 1990 erklärte Jürgen Schwarz, Vorsitzender des Volkskammer-Medienausschusses, mit diesem Gesetz einen Beitrag zu einer "neuen Medienordnung für ganz Deutschland" leisten zu wollen.
Doch diese und andere innovativen Impulse, die über die bestehenden Normen hinausgingen, blieben unter der Dominanz westdeutscher politischer Akteur*innen letztlich unberücksichtigt. Warnungen, dass strukturelle Schwächen des öffentlich-rechtlichen Systems nicht in den Osten übertragen werden sollten (etwa Parteienproporz und -dominanz in den Gremien), wurden ignoriert. Nicht zuletzt deshalb gab es im Osten Deutschlands nach 1990 kaum eine eigenständige rundfunkpolitische Entwicklung.
Angesichts aktueller Krisen könnte es sich lohnen, damals verfolgte Visionen eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems neu zu betrachten. Denn wirkliche Reformimpulse sind derzeit rar. Die Intendant*innen, von denen grundsätzliche Reformen erwartet werden, sind selbst Gewächse des öffentlich-rechtlichen Systems. Dass ausgerechnet von ihnen frische Ideen kommen sollen, erscheint daher zweifelhaft. So aber läuft der öffentlich-rechtliche Rundfunk Gefahr, ein selbsterhaltendes System zu bleiben. Dagegen zeigt ein Blick in die Rundfunkgeschichte des Ostens: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist auch anders vorstellbar. Man muss die Reformimpulse nur aufnehmen: aus den Redaktionen, von den Mitarbeiter*innen und, ja, auch aus der Bevölkerung. In Ost wie West.