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Der Osten als Chance | Öffentlich-rechtlicher Rundfunk | bpb.de

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Der Osten als Chance Ostdeutsche Perspektiven auf die Reformdebatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Mandy Tröger

/ 14 Minuten zu lesen

Nach 1990 wurden die Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems ohne größere Diskussion auf den Osten übertragen. Dabei gäbe es gerade aus der Wendezeit Ideen und Impulse, die auch für die heutige Reformdebatte hilfreich sein könnten.

Mit der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vor mehr als 30 Jahren ging ein Institutionentransfer von West nach Ost einher. Entsprechend war auch die Neustrukturierung der ostdeutschen Rundfunklandschaft ein Angleichungsprozess nach bundesdeutschem Muster. Das DDR-Rundfunksystem wurde zerschlagen und in einem radikalen Transformationsprozess in das demokratische System der Bundesrepublik integriert. Dieser Prozess war eine außergewöhnlich unreglementierte und dadurch hochpolitische Angelegenheit, deren Folgen bis heute spürbar sind.

Auch sonst ist die Medienlandschaft Ostdeutschlands noch stark von den Entwicklungen Anfang der 1990er Jahre geprägt: Der ostdeutsche Pressemarkt etwa ist fest in der Hand westdeutscher Verleger*innen, die diesen schon im Mai 1990 untereinander aufgeteilt hatten. Weder konnte sich eine vielfältige ostdeutsche Lokalpresse entwickeln, noch ein starkes ostdeutsches, überregional relevantes Medium. In den überregionalen Medien wiederum sind ostdeutsche (Chef-)Redakteur*innen unterrepräsentiert, und auch der journalistische Nachwuchs kommt seltener aus den ostdeutschen Bundesländern. Auch deshalb sind ostdeutsche Perspektiven in der deutschen Medienlandschaft wenig verbreitet: Es wird eher "über den Osten" berichtet als "aus dem Osten". Ostdeutschland erscheint medial allzu oft als das "rückständige Anhängsel", aber nicht als eine in sich vielfältige, kulturell reiche und historisch spannende Region. Nicht zuletzt wegen solcher medialer Blindstellen kommt den öffentlich-rechtlichen Anstalten Ostdeutschlands, dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) sowie dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) in Mecklenburg-Vorpommern, in der Regionalberichterstattung eine besonders wichtige Rolle zu. Sie haben die Aufgabe, die Ressourcen und die Möglichkeiten, aus den Regionen über die Regionen zu berichten. Allerdings zeugen nicht zuletzt die "Schlesinger-Affäre" beim RBB oder der Betrugsskandal rund um den Kinderkanal (Kika) beim MDR in den 2000er Jahren von strukturellen Schwächen und erhöhen insgesamt den Reformdruck auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR).

Solche Skandale stützen die verbreitete Annahme, Ostdeutschland sei eine "massenmedial multiple Problemzone". Während die überregionale Qualitätspresse aus den großen Medienhäusern in Hamburg, München oder Frankfurt am Main im Osten kaum gelesen wird, werden Begriffe wie "Lügenpresse" meist mit der Pegida-Bewegung und den vermeintlichen DDR-Erfahrungen ihrer ostdeutschen Anhänger*innen assoziiert. Kurz, Medienmisstrauen und -skepsis scheinen besonders im Osten Deutschlands weit verbreitet.

Auch wenn es nicht völlig unplausibel scheint, die "Lügenpresse"-Vorwürfe bei manchen als Spätfolge ihrer DDR-Sozialisation zu erklären, ist es doch naheliegender, sie als Langzeitfolgen von Entkopplungsprozessen im Rahmen des Institutionentransfers Anfang der 1990er Jahre zu verstehen. Sie gründen eher im historischen Versäumnis, aus DDR-Erfahrungen zu lernen, ostdeutsche Reformimpulse anzuerkennen und die Medienlandschaft in ganz Deutschland neu zu ordnen. Hierunter leidet bis heute auch der ÖRR.

In diesem Beitrag soll "der Osten" nicht als Problemzone, sondern als Chance betrachtet werden. Aktuelle Reformdebatten rund um den ÖRR können aus ostdeutschen Erfahrungen lernen. Um das zu plausibilisieren, soll zunächst die Gründung der öffentlich-rechtlichen Anstalten Anfang der 1990er Jahre rekapituliert und nach den strukturellen Problemen gefragt werden, die hier ihre Wurzeln finden. Anschließend sollen die Entwicklungen in der Nutzung und die Erwartungen an den ÖRR in den vergangenen 30 Jahren nachgezeichnet werden. Spätestens hier wird klar: "Den Osten" gibt es nicht. Denn genau wie der Bayerische Rundfunk (BR) nicht so wie Radio Bremen ist, ist der MDR nicht so wie der RBB. Es gibt regionale Unterschiede im Nutzungsverhalten zwischen und innerhalb der Sendegebiete. Der MDR ist – gemessen an der Einwohner*innenzahl seines Sendegebietes Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt – die größte ostdeutsche ARD-Anstalt. Er wird anders genutzt als der RBB in Berlin und Brandenburg, und auch anders als der NDR in Mecklenburg-Vorpommern. Gleichzeitig gibt es viele Überschneidungen in Nutzung und Erwartung zwischen Ost- und Westdeutschen: Strukturell vergleichbare Regionen in West und Ost ähneln sich häufig deutlicher als Regionen innerhalb Ost- oder Westdeutschlands. Beide Punkte – regionale ostdeutsche Unterschiede sowie ost- und westdeutsche Gemeinsamkeiten – gehen in der aktuellen Debatte oft unter.

Der ÖRR im Osten

Anders als die westdeutschen wurden die ostdeutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten erst im Zuge der deutschen Einheit gegründet. Hörfunk und Fernsehen der DDR wurden nach Artikel 36 des Einigungsvertrages in eine gemeinsame Einrichtung überführt beziehungsweise aufgelöst und zum 1. Januar 1992 in das öffentlich-rechtliche System der Bundesrepublik integriert. Mecklenburg-Vorpommern trat dem Staatsvertrag des NDR bei, und der Deutschlandfunk, RIAS Berlin und der Ostsender DS-Kultur fusionierten zum Deutschlandradio. Neben dem MDR entstand zunächst der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB), der 2003 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum RBB fusioniert wurde.

Diese scheinbar erfolgreiche Transformation ist häufig auf Kritik gestoßen. Die Politikwissenschaftlerin Sylvia Dietl etwa weist darauf hin, dass die westdeutschen Akteur*innen zwar ihr Ziel erreichten, das bundesdeutsche öffentlich-rechtliche Rundfunksystem auf den Osten zu übertragen. Nicht gelungen sei jedoch die Art und Weise der Umsetzung: "Es war", so Dietl, "ein unreflektierter, kritikloser Systemtransfer. (…) Nicht nur wurden sämtliche demokratieschwächenden Dysfunktionalitäten des westdeutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die neu gegründeten Anstalten übertragen. Sie wurden teils sogar noch verstärkt." Diese verstärkten Probleme manifestieren sich zum Beispiel im politischen Einfluss auf die Anstalten: Die Schaffung der Anstalten war Sache der Länderparlamente – und deren Entscheidungen wurden von den Konflikten konkurrierender politischer Akteur*innen begleitet.

Der Einfluss der Parteipolitik während der Gründungsphase der öffentlich-rechtlichen Anstalten lässt sich gut am Beispiel des MDR zeigen. Die Mehrheitsparteien der jeweiligen Landtage nutzten den MDR-Staatsvertrag, um früh ihre Einflussmöglichkeiten zu sichern, was unter anderem dazu führte, dass die Aufsichtsgremien weniger staatsfern und gleichzeitig abhängiger von gesellschaftlichen Machtgruppen ausgestaltet wurden. Auch deshalb hielt der Medienrechtler Wolfgang Hoffmann-Riem, damals Direktor des Hans-Bredow-Instituts in Hamburg, den MDR-Staatsvertrag 1991 sogar für verfassungswidrig. Durch den politischen Einfluss seien "pluralismusfeindliche Strukturen" entstanden, "wie sie in dieser Einseitigkeit in keiner westdeutschen Rundfunkanstalt bestehen". Zwar stand im Rahmen des Institutionentransfers von West nach Ost fest, dass sich die Organisationsstrukturen der neuen Rundfunkanstalten am Vorbild der ARD-Anstalten auszurichten hatten. Allerdings nahmen die westdeutschen Akteur*innen diese Neuordnung "nicht zum Anlass, eine kritische Bestandsaufnahme über die Defizite des eigenen Rundfunksystems und seiner Institutionen vorzunehmen". Im Gegenteil, das bestehende System wurde weitgehend unverändert übertragen.

Ein effektives Steuerungsinstrument war hierbei der Elitentransfer von West nach Ost, also die Auswahl der Führungskräfte bei MDR und ORB. Die Gründungsintendant*innen, die gewählten Intendant*innen sowie zahlreiche Direktor*innen kamen aus den westdeutschen ARD-Anstalten. Nicht zuletzt dank des starken Einflusses der sächsischen CDU gab es vor allem beim MDR ein enormes Ungleichgewicht zwischen west- und ostdeutschen Führungskräften. Im August 1991 wurden sieben von acht MDR-Direktorenposten mit Westdeutschen besetzt – der einzige Ostdeutsche war für die Technik zuständig. Damit kam "die gesamte engere Führungsspitze, die über die inhaltliche und journalistische Ausrichtung des Ost-Senders entscheiden sollte", aus dem Westen. Reformbestrebungen und -impulse sowie neue Programmideen und -initiativen, die aus den ostdeutschen Einrichtungen hervorgegangen waren, wurden eingestellt oder strukturell hinausgedrängt. Ein prominentes Beispiel ist das Jugendradio DT64: Gegen seine Einstellung im Zuge der Transformation demonstrierten Zehntausende; 300.000 Unterschriften wurden gesammelt und Mahnwachen initiiert. Über 80 lokale Aktionsgruppen setzten sich für einen eigenständigen Erhalt des Jugendsenders ein. Dennoch ging er im Rahmen seiner Integration in die MDR-Strukturen letztlich unter.

Aber nicht nur Politiker*innen und Parteien, sondern auch die westdeutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten selbst betrieben intensiv Rundfunkstrukturpolitik, vor allem der NDR und der SFB. Der BR wiederum forcierte den Aufbau des MDR und nahm sowohl über den Elitentransfer als auch strukturell während der gesamten Planungsphase Einfluss. Udo Reiter, erster Intendant des MDR, war zuvor Hörfunkdirektor beim BR gewesen und sorgte mit dafür, dass vor allem Westdeutsche beim MDR in Führungspositionen kamen.

Hinter diesen Entwicklungen standen sowohl Expansionsbestrebungen der etablierten Rundfunkanstalten als auch wirtschaftliches Kalkül. Den relevanten Akteur*innen ging es nicht zuletzt um die Sicherung ihres parteipolitischen Einflusses und landesspezifischer Interessen in den Anstalten. Weniger ging es ihnen um gemeinwohlorientiertes Handeln oder die Schaffung bestmöglicher Rahmenbedingungen für die Anstalten selbst. Beides, so Sylvia Dietl, "braucht es aber, um Akzeptanz für neue Strukturen zu schaffen. Das wurde im Osten Deutschlands verpasst." Damit wurde auch die historische Chance vertan, eine gesamtdeutsche Rundfunkordnung zu konstituieren, den ÖRR weiterzuentwickeln und seine Leistungsfähigkeit für Ostdeutschland und für ganz Deutschland zu stärken.

Wahrnehmung und Nutzung des ÖRR im Osten seit 1992

Wie entwickelte sich nun nach 1992 die Beziehung der Bürger*innen im Osten Deutschlands zum ÖRR? Die gerade beschriebenen Vorgänge könnten vermuten lassen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Ostdeutschland auf höhere Ablehnung oder ein geringeres Nutzungsverhalten stößt. Jedoch zeigen vergleichende Langzeitstudien zum Mediennutzungsverhalten in Ost- und Westdeutschland viele Gemeinsamkeiten und "keine drastischen, aber erkennbare Abweichungen". Unterschiede haben beispielsweise mit unterschiedlichen Lebensverhältnissen und abweichenden Alltags- und Sozialstrukturen zu tun. Zum Beispiel wird die häufigere und längere Radionutzung im Osten darauf zurückgeführt, dass Ostdeutsche im Durchschnitt morgens früher aufstehen als Westdeutsche. So beginnt auch die Radionutzung früher am Tag.

Auch in der Fernsehnutzung zeigen sich über die Jahrzehnte sowohl Gemeinsamkeiten als auch bleibende Unterschiede, die teils soziostrukturell und teils mentalitätsbedingt sind. In den ersten Jahren nach der deutschen Einheit sahen die Menschen in Ostdeutschland anders fern als im Westen: Zwar spielten Nachrichtensendungen für Ost- und Westdeutsche gleichermaßen die größte Rolle, aber Ostdeutsche sahen länger fern und nutzten häufiger die kommerziellen Privatsender. Zugleich konsumierten sie aber auch stärker die öffentlich-rechtlichen Dritten Programme der ARD, und sie widmeten sich stärker Infotainment- und Unterhaltungsangeboten. Auch stellten sie höhere Ansprüche an öffentlich-rechtliche Sender und erwarteten, dort Themen und Akteur*innen aus den Regionen Ostdeutschlands vorzufinden, die den eigenen Identitätsbedürfnissen entsprachen.

Zehn Jahre nach der deutschen Einheit waren Ost- wie Westdeutsche mehrheitlich der Meinung, dass das Erste und das ZDF die besten Informationssendungen bieten. Dennoch beurteilten ostdeutsche Zuschauer*innen diese Informationssendungen insgesamt etwas skeptischer. Die Gründe für diese Skepsis sind vielfältig und haben mit anderen Informationsbedürfnissen, Fragen der Informationsaufbereitung, kulturellen, politischen und sozialen Prägungen sowie abweichenden Sozialstrukturen zu tun. Diese und andere Faktoren führten auch in den 2000er Jahren noch zu einer etwas geringeren Akzeptanz des ÖRR im Osten. Zugleich unterstrichen Studien, dass diese Unterschiede nicht so sehr Ausdruck einer ostdeutschen "Sondermentalität" seien, sondern vor allem auf ungleichen Lebensverhältnissen in Ost und West beruhten. Andere Forschungsergebnisse verwiesen auf die (mediale) Sozialisation der Zuschauer*innen in der DDR. Zehn Jahre nach der deutschen Einheit bestand die Mehrheit der ostdeutschen Zuschauer*innen noch aus Personen, die zu DDR-Zeiten zwischen zwei Medienrealitäten gelebt hatten, dem Fernsehen der DDR auf der einen und dem "Westfernsehen" auf der anderen Seite. Aufgrund dieser Erfahrung, so die Erklärung, tendiere das ostdeutsche Fernsehpublikum eher dahin, beide kritisch zu hinterfragen und keine – auch nicht die Informationssendungen des ÖRR – für gegeben hinzunehmen. Hinzu kommt, dass im Rahmen des oben geschilderten Institutionentransfers eine Distanz zwischen den westdeutsch dominierten Institutionen des ÖRR und den ostdeutschen Medienkonsument*innen entstand, die lange nachwirkte.

Aber bestehen die frühen Nutzungsmuster und -erwartungen noch heute? Nach 25 Jahren deutscher Einheit zeigten sich nach wie vor Unterschiede im Nutzungsverhalten, aber auch weitere Angleichungen. Ostdeutsche sahen weiterhin länger und früher am Tag fern, sie nutzten stärker Privatsender und die Dritten Programme, nicht zuletzt für (regionale) Informationen. Auch fünf Jahre später waren diese Muster noch zu erkennen. Trotzdem sind die Nutzungsmotive für den ÖRR in West- und Ostdeutschland mittlerweile sehr ähnlich, nur vereinzelt sind Unterschiede feststellbar, etwa bei der Nutzung digitaler Geräte und Angebote, was wohl eher auf Unterschiede in der Infrastruktur – besonders in ländlichen Gebieten –, aber auch auf eine unterschiedliche Alters- und Einkommensstruktur zurückgeht.

Aktuellen Akzeptanzstudien zufolge liegen die Fernseh-, Radio- und Internetangebote des ÖRR in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit in Ost- wie in Westdeutschland im Vergleich zu anderen Medien an der Spitze. Das hat sich auch durch die Corona-Berichterstattung nicht geändert. Ende 2020 griffen in den östlichen Bundesländern wöchentlich 95 Prozent der Bürger*innen auf mindestens ein ARD-Angebot zu, in den westlichen Bundesländern waren es 92 Prozent. Menschen in Ost wie West betonen den grundsätzlichen Wert der ARD für das Gemeinwohl: 83 Prozent stufen ihre Bedeutung für die Gesellschaft als sehr hoch beziehungsweise hoch ein. Dieser Konsens zwischen Ost und West ist generationenübergreifend, nicht zuletzt dank digitaler Angebote. Zwar sind die Bewertungsniveaus des ÖRR im Osten etwas niedriger als im Westen, auch bei der Frage, ob die Medienberichterstattung die eigene Wahrnehmung wenigstens "weitgehend" widerspiegele, ist die Zustimmung bei Ostdeutschen etwas geringer als bei Westdeutschen. Dennoch erreichen die Angebote der ARD im Osten Deutschlands täglich 76 Prozent der Menschen, im Westen 80 Prozent. Unterschiede im Nutzungsverhalten lassen sich eher an Fragen der Bildung, des Alters oder des Einkommens festmachen als an regionaler Herkunft.

Mehr Skepsis im Osten?

Woher kommt dann aber die Wahrnehmung, dass Ostdeutsche "den Medien deutlich weniger [vertrauen] als Westdeutsche" oder dem ÖRR gegenüber generell skeptischer sind? Laut Studien misstraut jede*r vierte Deutsche den deutschen Medien, in Ostdeutschland sogar jede*r Dritte.

Das hat nicht zuletzt etwas mit den Methoden der Studien zu tun. Wissenschaftler*innen messen seit Jahrzehnten Medienvertrauen. Eine Grundannahme ist, dass Medienvertrauen grundsätzlich positiv und Misstrauen in Medien eher negativ zu bewerten ist. Dabei ist es gar nicht einfach zu sagen, was "Medienvertrauen" eigentlich ist: Vertrauen wir bestimmten Journalist*innen oder Moderator*innen, weil wir sie sympathisch finden? Vertrauen wir einer Zeitung oder einem Sender, weil wir sie schon immer konsumieren? Glauben wir alles, was sie berichten? Oder gehört es nicht zu unserer Pflicht als Bürger*innen in einer demokratischen Gesellschaft, kritisch zu hinterfragen, was uns medial geboten wird? Zur Beantwortung dieser Fragen sind quantitative wissenschaftliche Erhebungen nur bedingt hilfreich.

Warum das so ist, lässt sich gut anhand der Studie zeigen, die das vermeintliche ostdeutsche Medienmisstrauen zu belegen scheint. Hier lautete die Frage: "Wenn Sie jetzt einmal an die deutschen Medien denken: Inwieweit vertrauen Sie den deutschen Medien?" Hier bleibt offen, was mit "den deutschen Medien" gemeint ist. Einzelne Fernsehsender oder Radiostationen des ÖRR? Private Anbieter? Regionale oder überregionale Zeitungen? Wochenzeitungen? Die Antwort auf diese Frage (und damit die Antwort auf die Frage nach dem Vertrauen in "die deutschen Medien") liegt im Ermessensspielraum der Befragten. Es bleibt unklar, welche Berichterstattung genau als vertrauenswürdig angesehen wird. Ähnliches gilt für Fragen in Bezug auf bestimmte Medienarten oder -quellen, also "das öffentlich-rechtliche Fernsehen", das "private Fernsehen", die "Angebote im Internet". Denn was ist "das öffentlich-rechtliche Fernsehen", wenn nicht vielfältig? Auch hier macht die Unbestimmtheit der Fragen es schwer nachvollziehbar, in was oder wen die Befragten tatsächlich vertrauen. Das gilt zwar für die Befragten in Ost wie West gleichermaßen, dennoch sollte man sich davor hüten, aus solchen Studien scheinbar allgemeingültige Schlussfolgerungen über "die Medien" und "den Osten" abzuleiten, ohne zuvor genauer hingeschaut zu haben.

Regionale, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Differenzierungen sind auch deshalb wichtig, weil Studien zur gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland zeigen, dass die Hauptkonfliktlinien "nicht primär zwischen Ost und West, sondern zwischen gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen Einstellungsmustern" verlaufen – und die finden sich in allen Landesteilen. Ähnliches lässt sich auch über die Erwartungen an den und die Nutzung des ÖRR sagen. Kritik und Skepsis gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es in Ost- wie Westdeutschland. Sie macht sich aber eher an Faktoren wie Bildung, Alter oder Einkommen fest als an einer ostdeutschen "Sondermentalität".

Der Osten als Chance

Der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems in Ostdeutschland hätte "nicht ohne öffentliche Diskussion und schon gar nicht ohne Berücksichtigung ostdeutscher Reformideen geschehen dürfen". Diese Chance wurde verpasst, obwohl aus dem DDR-Hörfunk und -Fernsehen der Interimszeit viele neue Anstöße, Reformimpulse und Initiativen für einen neuen Rundfunk kamen.

Schon ab Dezember 1989 gab es in den DDR-Funkhäusern personelle und strukturelle Veränderungen. In die Führungsspitzen kamen gewählte Redakteur*innen, die die Programme änderten, neue Formate einführten und mit Mitarbeiter*innen und Rezipient*innen im Austausch standen. Durch die Liberalisierungsprozesse entwickelte sich eine Eigendynamik, die einige Monate lang zu einer nie dagewesenen journalistischen Freiheit und Unabhängigkeit führte. Der schon genannte Jugendsender DT64 etwa erblühte zu einer Art sozialem Medium, noch bevor es das Internet gab. Der Sender half beim Netzwerken, gab Identifikation und erlaubte Austausch; Hörer*innen und Macher*innen agierten auf Augenhöhe. In Westdeutschland engagierten sich Unterstützer*innen in mehr als 30 Freundeskreisen, zudem gab einen "Hörerklub" mit über 5.000 Mitgliedern sowie Treffen zwischen Hörer*innen und Macher*innen. DT64 sei das erste "ost-west-deutsche Integrationsradio" gewesen, in dem das Publikum und die Macher*innen aus Ost und West zusammenkamen, so der Mitbegründer des DT64-Netzwerks und spätere MDR-Rundfunkrat Heiko Hilker. Ein solch interaktives Radio und Fernsehen wäre auch heute denk- und machbar.

Darüber hinaus gab es in der Wendezeit konkrete Gesetzesinitiativen wie den Beschluss der Volkskammer über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit vom 5. Februar 1990, die eine gesamtdeutsche Diskussion verdient gehabt hätten. Der Medienbeschluss etwa sollte ein erster Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Mediengesetz sein, das auf alle Medien angewendet werden und konkrete Freiheiten ausgestalten sollte. Er war Ausdruck basisdemokratischer Diskussionsprozesse, die von allen wichtigen reformorientierten DDR-Akteur*innen verhandelt und beschlossen worden waren. Noch im Juni 1990 erklärte Jürgen Schwarz, Vorsitzender des Volkskammer-Medienausschusses, mit diesem Gesetz einen Beitrag zu einer "neuen Medienordnung für ganz Deutschland" leisten zu wollen. Angedacht war beispielsweise die Schaffung eines Medienkontrollrats, der eine transparentere Rückkoppelung der Medien an gesellschaftliche Gruppen gewährleisten sollte. Zudem sollten Medienschaffende, die öffentlich publizierten, selbst für ihre Arbeit verantwortlich sein und gleichzeitig das Recht erhalten, "die Ausarbeitung eines Materials zu verweigern, wenn Themenstellung und Auftrag ihren persönlichen Überzeugungen" widersprachen. Dieser aus der DDR-Erfahrung gespeiste Fokus auf die Verantwortung und Autonomie einzelner Journalist*innen ("innere Pressefreiheit") unterschied sich deutlich vom westdeutschen Modell des Tendenzschutzes, das institutioneller Autorität Vorrang gewährt.

Doch diese und andere innovativen Impulse, die über die bestehenden Normen hinausgingen, blieben unter der Dominanz westdeutscher politischer Akteur*innen letztlich unberücksichtigt. Warnungen, dass strukturelle Schwächen des öffentlich-rechtlichen Systems nicht in den Osten übertragen werden sollten (etwa Parteienproporz und -dominanz in den Gremien), wurden ignoriert. Nicht zuletzt deshalb gab es im Osten Deutschlands nach 1990 kaum eine eigenständige rundfunkpolitische Entwicklung.

Angesichts aktueller Krisen könnte es sich lohnen, damals verfolgte Visionen eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems neu zu betrachten. Denn wirkliche Reformimpulse sind derzeit rar. Die Intendant*innen, von denen grundsätzliche Reformen erwartet werden, sind selbst Gewächse des öffentlich-rechtlichen Systems. Dass ausgerechnet von ihnen frische Ideen kommen sollen, erscheint daher zweifelhaft. So aber läuft der öffentlich-rechtliche Rundfunk Gefahr, ein selbsterhaltendes System zu bleiben. Dagegen zeigt ein Blick in die Rundfunkgeschichte des Ostens: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist auch anders vorstellbar. Man muss die Reformimpulse nur aufnehmen: aus den Redaktionen, von den Mitarbeiter*innen und, ja, auch aus der Bevölkerung. In Ost wie West.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sylvia Dietl, Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands, München 2022, S. 80, S. 547.

  2. Vgl. Mandy Tröger, Der Osten kann keine Demokratie?, in: Luxemburg 1/2023, S. 25–29.

  3. Vgl. Lutz Mükke, 30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung, Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/M. 2021, S. 4.

  4. Ebd., S. 3.

  5. Zit. nach Mandy Tröger, "Kritikloser Systemtransfer": Wie die Öffentlich-Rechtlichen in den Osten kamen, 5.10.2022, Externer Link: http://www.berliner-zeitung.de/open-source/unreflektierter-kritikloser-systemtransfer-die-einfuehrung-des-oerr-im-osten-li.272193.

  6. Zit. nach Mükke (Anm. 3), S. 21.

  7. Dietl (Anm. 1), S. 549.

  8. Vgl. Tröger (Anm. 5).

  9. Mükke (Anm. 3), S. 20.

  10. Vgl. Mandy Tröger, DDR-Rundfunk heute. Wie eine Frau gegen das Vergessen kämpft, 19.12.2021, Externer Link: http://www.berliner-zeitung.de/open-source/ddr-rundfunk-heute-wie-eine-frau-gegen-das-vergessen-kaempft-li.197212.

  11. Vgl. Tröger (Anm. 5).

  12. Vgl. Mükke (Anm. 3), S. 21.

  13. Zit. nach Tröger (Anm. 5).

  14. Vgl. Dietl (Anm. 1), S. 612.

  15. Inge Mohr/Gerlinde Frey-Vor, Radio- und Zeitungsnutzung im Ost-West-Vergleich, in: Media Perspektiven 7–8/2016, S. 392–400, hier S. 392.

  16. Vgl. ebd.

  17. Vgl. Gerlinde Frey-Vor/Inge Mohr, 25 Jahre Deutsche Einheit – Fernsehnutzung in Ost und West, in: Media Perspektiven 10/2015, S. 453–469.

  18. Vgl. Wolfgang Darschin/Camille Zubayr, Warum sehen die Ostdeutschen anders fern als die Westdeutschen?, in: Media Perspektiven 6/2000, S. 249–257.

  19. Vgl. Detlef Pollack/Gert Pickel, Die ostdeutsche Identität. Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? in: APuZ 41–42/1998, S. 9–23.

  20. Vgl. Michael Meyen, Denver Clan und Neues Deutschland, Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003.

  21. Vgl. Dietl (Anm. 1).

  22. Vgl. Frey-Vor/Mohr (Anm. 17).

  23. Vgl. Gerlinde Frey-Vor/Bernhard Kessler/Inge Mohr, Mediennutzung im Ost/West-Vergleich – 30 Jahre deutsche Einheit, in: Media Perspektiven 1/2021, S. 45–70.

  24. Vgl. ebd.

  25. Vgl. Birgit van Eimeren/Andreas Egger, Die ARD aus Sicht der Bevölkerung. Stabil hohe Akzeptanz und Wertschätzung, in: Media Perspektiven 11/2021, S. 554–574.

  26. Vgl. Frey-Vor/Kessler/Mohr (Anm. 23), S. 45.

  27. Vgl. van Eimeren/Egger (Anm. 25), S. 558.

  28. Vgl. PricewaterhouseCoopers (PwC), Vertrauen in Medien, Düsseldorf 2018, S. 11, Externer Link: http://www.pwc.de/de/technologie-medien-und-telekommunikation/pwc-studie-vertrauen-in-medien-2018.pdf.

  29. Vgl. ebd, S. 3.

  30. Vgl. Heiko Hilker/Jörg Langer/Mandy Tröger, Zwischen Anspruch und Auftrag. Die öffentlich-rechtlichen Medien in der Kritik, Berlin 2023, S. 11ff.

  31. PwC (Anm. 28), S. 9.

  32. Richard Hilmer, Politische Einheit, gespaltene Meinungsmuster, 18.11.2020, Externer Link: http://www.bpb.de/316336.

  33. Dietl (Anm. 1), S. 614.

  34. Vgl. ebd., S. 143.

  35. Zit. nach Tröger (Anm. 10).

  36. Zit. nach dies., Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten, Köln 2019, S. 92.

  37. Zit. nach ebd., S. 63.

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ist promovierte Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin und derzeit Walter Benjamin-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Universität Tübingen.
E-Mail Link: mandy.troeger@uni-tuebingen.de