"War der Holocaust konzipiert als ein Unternehmen, das nicht nur auf die Vernichtung der Menschenleben, sondern auch auf alle Spuren und Beweise ebendieser Auslöschung ausgerichtet war, so erscheint das Überlebenszeugnis, das die Opfer in Erinnerung ruft, wie ein Akt des Widerstands gegen die umfassende Vernichtung. (…) In den Schwierigkeiten der Opfer, ihre Erfahrungen sprachlich mitzuteilen und sich Gehör zu verschaffen, zeige sich noch die Spur der Vernichtung, die sie zuallererst zu Opfern gemacht hat."
Wie dieses Zitat der Erkenntnisforscherin Sibylle Schmidt widerspiegelt, waren es die Überlebenszeugen des Holocaust selbst, die sich "von unten" zunächst gegen eine Wand des Schweigens durchsetzen mussten, um mit Blick auf die NS-Vernichtungspolitik eine Erinnerungspraxis zu ermöglichen, die mittlerweile gesellschaftlich wohl etabliert ist. Heute sieht sich Deutschland mit seiner vielfältigen institutionellen Erinnerungslandschaft gern als "Erinnerungsweltmeister",
Umso erstaunlicher ist es daher auf den ersten Blick, dass sich für die über 300 bekannten Todesopfer rassistischer Gewalt seit 1945 bislang keine nennenswerte gesellschaftliche und staatliche Erinnerungspraxis in der Bundesrepublik herausgebildet hat, trotz jahrzehntelangem Aktivismus von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Betroffenen.
In diesem Sinne spricht die Soziologin Leah Bassel von "politics of listening" und legt dar, dass auch Zuhören eine politische Praxis ist.
Nun soll es über diese Ansätze hinausgehen: 2021 haben sich die Regierungsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, "die Errichtung eines Erinnerungsortes sowie eines Dokumentationszentrums für die Opfer des NSU" zu unterstützen.
Das Nachdenken über eine inklusive Erinnerungskultur im postnationalsozialistischen, postmigrantischen Deutschland steht indes erst am Anfang – haben die etablierten erinnerungspolitischen Akteure (Geschichtswissenschaft und -didaktik, Museen, Archive, Gedenkzentren) doch jene mörderische Geschichte des Rassismus nach 1945 sowie seine gesellschaftliche, institutionelle und kulturelle Strukturierung bislang weitgehend ignoriert.
Im Folgenden werde ich einige Erkenntnisse aus der Expertise zusammenfassen. Auf Basis von Interviews mit sieben Angehörigen und Opfern des NSU-Komplexes werde ich skizzieren, welche Ideen und Vorstellungen diese im Laufe der Gespräche hinsichtlich eines möglichen Erinnerungsorts beziehungsweise Dokumentationszentrums formulieren – wie sich die Opfer und Angehörigen-Betroffenen selbst einen derartigen Ort vorstellen, für den es bislang in Deutschland kein Vorbild oder eine etablierte Erinnerungspraxis gibt. Zunächst aber soll es um den Hintergrund gehen: den langjährigen Kampf der Opfer und Angehörigen-Betroffenen um Zeugenschaft, ums Sich-Gehör-Verschaffen, der geprägt war von Rassismuserfahrungen, tiefen Enttäuschungen und einem immensen Vertrauensverlust in staatliche Institutionen.
Kampf um Zeugenschaft
„Man fühlt sich nicht respektiert. [Meine Mutter] hat auch einen Brief an [den damaligen Bundespräsidenten] Herrn Gauck geschrieben. Sie hat nie eine Antwort erhalten. Und dann bin ich bei dem Gedenktag so, und dann wird da von Zusammenhalt gesprochen. Dann wird davon gesprochen, dass man für einen da ist …“
(Okan T.)
Die Bestandsaufnahme bisheriger Aufarbeitungsaktivitäten des NSU-Komplexes zeigt sehr deutlich, dass es in erster Linie die Opfer und Angehörigen-Betroffenen selbst waren, die sich – über weite Strecken allein (gelassen) – kontinuierlich mit den rassistischen Anschlägen sowie dem behördlichen, medialen und gesellschaftlichen Umgang damit auseinandergesetzt haben. Bereits während der Mordserie, als Ermittlungsbehörden und Medien noch weitgehend einhellig eine "Täter-Opfer-Umkehr" betrieben und die Angehörigen der Mordopfer öffentlichkeitswirksam zu Verdächtigen machten, wiesen die Hinterbliebenen auf den rassistischen Hintergrund der Taten hin. Auch nach der Selbstenttarnung des NSU, als die leitende Ermittlungsthese der "Dönermorde" zusammenbrach, die gesellschaftliche Unterstützung zunahm und mit Barbara John regierungsamtlich eine Opferbeauftragte benannt wurde, waren es weiterhin vor allem die Opfer und Angehörigen-Betroffenen selbst, die nach einem Jahrzehnt des Überhört-Werdens und Nicht-ernst-genommen-Werdens eine lückenlose Aufklärung sowie ein würdevolles Betrauern und öffentliches Gedenken forderten.
Viele haben immer wieder beredt Zeugnis abgelegt – als Einzelpersonen in brieflichen Eingaben, eigenen Publikationen, unzähligen Interviews für Theaterstücke, Filmen und Dokumentationen oder kollektiv im Rahmen politischer Anklagen wie den "Tribunalen NSU-Komplex auflösen" oder verschiedener bildungspolitischer Tätigkeiten.
„Also, wir nutzen eigentlich alle Plattformen, seien es szenische Lesungen, Bücher schreiben, Veranstaltungen (…). Wir versuchen eigentlich alles zu machen, was möglich ist. “ Allerdings stellt Şimşek etwas später fest: „Du merkst, wir machen seit Jahren wichtige Arbeit. Aber uns fehlen die Räumlichkeiten und die finanziellen Mittel.“
Die rassistische Botschaft der Taten, das klare Signal gegen die Realität der Einwanderungsgesellschaft, haben sie dabei immer klar benannt. Sie sollte den in Deutschland angekommenen migrantischen Kleinunternehmenden schlicht vermitteln: "Ihr seid hier nicht sicher!", wie Gavriil Voulgaridis, dessen Bruder Theodoros Boulgarides 2005 vom NSU ermordet wurde, betont. Die zahlreichen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene sowie der fünfjährige Gerichtsprozess vor dem Münchner Oberlandesgericht ließen zentrale Fragen unbeantwortet, womit auch die eigene Bedrohungslage unklar ist. Für Voulgaridis mehr als eine Enttäuschung:
„Und danach diese vier, fünf Jahre Gerichtsverfahren sind ein noch schöneres Märchen; nichts wurde verarbeitet, nichts wurde offenbart, nicht eine Antwort, alle Fragen sind noch offen – nichts! Man verkauft uns für dumm, man beleidigt uns noch. Für mich ist das eine Beleidigung.“
An mangelndem Sprechen oder Zeugnis-Geben liegt es in diesem Falle – wie in vielen anderen bekannten Fällen rassistischer Morde – also nicht, dass sich bisher noch keine würdige gesellschaftliche Erinnerungspraxis oder staatlich-institutionelle Anerkennungspolitik herausgebildet hat. Zwar gibt es seit 2011 immer Einladungen zu offiziellen Gedenkveranstaltungen, und die ein oder andere Gedenktafel wurde enthüllt, doch hierbei fühlen sich die Hinterbliebenen bis heute in den allermeisten Fällen auf die Rolle als Statisten reduziert, nicht ernst genommen in ihrer Zeugenschaft, in ihrer Betroffenheit und ihren lebenspraktischen Problemlagen. Dabei bedeutet es für Opfer und Angehörige immer wieder einen immensen Kraftakt, einer Einladung zu folgen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und der Gefahr der Retraumatisierung zu begegnen:
„Also diese Offenheit gegenüber diesen Einladungen ist bei den Betroffenen leider verloren gegangen. Weil, eine Einladung nach der anderen, immer wieder das gleiche hören, immer wieder die Frustration, die Verzweiflung von früher hochzubringen, um danach nichts im Gegenzug zu erhalten. Irgendwann stellst du dich quer, irgendwann möchtest du es nicht. Irgendwann belastet es dich, wie meine Mutter. Und dann sagst du dich davon ab, weil du darin keinen Sinn mehr siehst. Du möchtest nicht dahin gehen, dein Leid aufwirbeln lassen und dann wieder gehen. Um was erreicht zu haben? Gar nichts! “ (Okan T.)
Semiya Şimşek berichtet, dass es immer wieder vorkommt, dass sie als Opfer-Angehörige noch nicht einmal wahrgenommen werden:
„Also, nach zwölf Jahren habe ich immer noch das Gefühl, wir als Betroffene werden nicht ernst genommen, wenn bundesweit eine Gedenkveranstaltung organisiert wird und meine Mutter und mein Bruder nicht mal eingeladen sind, oder auf diesem (…) Einladungssystem nicht draufstehen.“
Immerhin lässt sich auf kommunaler Ebene an den verschiedenen Tatorten seit einigen Jahren eine gewisse Etablierung einer Gedenkpolitik erkennen – auch hier meist erst nach intensivem Einsatz von Angehörigen und Initiativen vor Ort. Sie besteht vor allem aus Platz- oder Straßenumbenennungen, dem Anbringen von Gedenktafeln oder Gedenkstehlen sowie aus Gedenkveranstaltungen zum jeweiligen Jahrestag des dortigen Verbrechens. Dabei werden die Opfer und Angehörigen-Betroffenen auf unterschiedliche Art einbezogen, gehört und ernst genommen.
„Es ist in Dortmund vieles passiert. Also sofort nach der Selbstenttarnung war das tatsächlich so, dass der Oberbürgermeister sich bei uns gemeldet hat. (…) Der Stadtdirektor [hat] mit uns Kontakt aufgenommen (…) und ja, dass wir eigentlich immer diesen Kontakt zu denen danach hatten. Eine Gedenkstätte vor dem Kiosk kam auch tatsächlich von unserem damaligen Oberbürgermeister, und ihm war das sehr wichtig. Diese Gedenkstätte ist auch durch seinen Entwurf entstanden, wir wurden noch mal gefragt, und wir haben auch noch kleine Veränderungen gemacht.“
Eigene Räume, finanzierte Strukturen im Sinne von Erinnerungs- und Dokumentationsorten, sowohl lokal als auch national, gibt es bisher nach nahezu zwei Jahrzehnten Kampf von Opfern und Angehörigen-Betroffenen zum NSU-Komplex und dem staatlichen Versagen jedoch nirgendwo. Vielmehr gibt es viel Enttäuschung, Frustration, Erschöpfung. Okan T. vergleicht die bestehende staatliche Praxis mit einem einmal gekochten und anschließend immer wieder aufgewärmten Gericht:
„Du machst dir immer wieder dasselbe Essen warm (…). Und dieses Essen löst einfach nur Angst, Frustration und nicht wirklich Wut, aber (…) Verzweiflung aus. So immer wieder eine neue Einladung zu irgendeiner Veranstaltung zu bekommen, wo dann gesprochen wird, wo wir sitzen als Betroffene. Wir sind betroffen und müssen den Menschen zuhören, dass die für uns da sind, und wir bekommen gar nichts. Wir bekommen einen Kaffee und Kuchen danach und dürfen dann wieder nach Hause gehen.“
Gavriil Voulgaridis hat dieser ständige Kampf, erst um die Anerkennung als Opfer einer rassistischen Gewalttat, dann um die Anerkennung seiner Zeugenschaft und konkreten Problemlagen krank und wütend gemacht, so berichtet er im Gespräch:
„Die ersten Jahre waren noch okay. Man war jung, man hat das verarbeitet. Aber die letzten acht, neun, zehn Jahre kommt eins nach dem anderen mit meiner Gesundheit. Und mittlerweile ist es Wut, weil, es wird nichts besser. Wir müssen jahrelang mit dieser Geschichte kämpfen und ja, ich muss sagen, das hat mich krank gemacht. Und wie du mich hier siehst, geht es mir nicht so gut. Ja es ist Wut. (…) Am liebsten würden die [auch] sehen, dass wir dieses Land verlassen.“
Ein Haus der Zeugenschaft
„Wir wollen ja, die Familien wollen ja, dass es eine Geschichte unseres Landes wird. Und man solle sich doch gewiss sein, dass diese Geschichte ein Teil dieses Landes erst dann wird, wenn wir so einen Gedenk- oder einen zentralen Ort haben.“
(Gamze Kubaşık)
Angesichts der bislang nur marginal und nur unter großem Krafteinsatz von Opfern und Angehörigen-Betroffenen und ihren Unterstützer*innen herausgebildeten erinnerungspolitischen Landschaft und vor dem Hintergrund der langen deutschen Geschichte rassistischer Gewalt stellt sich die Frage, wie ein Erinnerungsort oder Dokumentationszentrum inhaltlich, organisatorisch aber auch gestalterisch aussehen könnte, oder besser: sollte. Auch wenn die Positionen der Gesprächspartner*innen bezüglich der Notwendigkeit der Errichtung eines möglichen "Dokumentationszentrums" und seiner möglichen Ausgestaltung durchaus heterogen ausfallen, überrascht doch das generell eher positive Echo, wie es das folgende Zitat zum Ausdruck bringt:
„Die Einrichtung eines Dokumentationszentrums ist eine gute Sache, ich meine, es kann dort zumindest ein Solidaritätszentrum entstehen. Es kann ein Zentrum sein, in dem Informationen darüber gesammelt werden, wie sich die Vorfälle zuvor entwickelt haben, wie sie sich in Zukunft entwickeln werden, wie man eingreifen kann, wenn man es wirklich ernsthaft tut.“ (Muhammet A.)
Dabei formulieren die Interviewten vier wesentliche Funktionen beziehungsweise Dimensionen, die so ein Ort umfassen sollte: Erstens wünschen sich alle einen Raum zur (weiteren) Aufklärung der rassistischen Gewalt, der Hintergründe der Taten und Motive, des staatlichen Ermittlungsversagens und der Rolle der einzelnen Dienste, auch um ihre eigene Aufklärungsarbeit endlich sinnvoll und finanziert fortzusetzen. Zweitens verstehen alle Betroffenen unter Aufklärung nicht nur eine rückwärtsgewandte Tätigkeit, sondern vor allem eine in die Gesellschaft und in die Zukunft gerichtete; es sollte ein Ort sein, der zum Dialog einlädt und an dem präventive Bildungsarbeit geleistet wird, um eine Zukunft denkbar zu machen, die nicht von Rassismus geprägt ist. Drittens wünschen sich die meisten Gesprächspartner*innen einen Raum als genuinen "Erinnerungsort" an das Leben ihrer ermordeten Angehörigen. Und viertens artikulieren die meisten das Bedürfnis, einen derartigen Ort als Versammlungsraum für die Opfer und Betroffenen selbst nutzen zu wollen, als einen Ort der Solidarität und Resilienz.
Grundlegend sehen die Gesprächspartner*innen mit der Errichtung eines derartigen Zentrums die (späte, wiedergutmachende) Möglichkeit verbunden, dass die Geschichten der Opfer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nicht verloren gehen, sondern als Teil der Geschichte dieses Landes auch einen Ort finden, wie es Gamze Kubaşık im obigen Zitat formuliert. Dabei legen sie in inhaltlicher wie struktureller Hinsicht Wert auf gewisse Mindeststandards und Ideen, was so ein Multifunktionsort leisten und wie er von Anfang an organisiert und strukturiert werden müsste.
Von den Betroffenen ausgehen
„Im Zentrum des Gedenkens [müssen] die Opfer rassistischer Gewalt und Terror [stehen]. Aber das Zentrum sollte meiner Meinung nach mehr umfassen. Opfer jeglicher Art und die Konsequenzen beziehungsweise Folgen durch so eine Gewalt. Die Ausarbeitung psychischer Krankheiten wie zum Beispiel Traumata, die Weitergabe in der Familie und der Einfluss auf die Gesellschaft. (…) Den Namen finde ich auch nicht in Ordnung, wenn es dann NSU-Gedenkzentrum heißt. Weil dieser Name NSU einfach nur für die, ja, für die Rassisten steht und nicht für die Betroffenen.“
(Okan T.)
Alle Gesprächspartner*innen sind sich in diesem Punkt einig, dass nicht nur inhaltlich die Erfahrungen der Betroffenen rassistischer Gewalt im Zentrum der Auseinandersetzung stehen sollten. Sie diskutieren auch, ob der geplante Ort allein auf den NSU-Komplex fokussieren oder historisch kontextualisiert auch die lange Geschichte rassistischer Gewalt in den Blick nehmen sollte. Einigkeit besteht auch hinsichtlich der Einschätzung, dass nur die zentrale und frühzeitige Einbindung der Opfer und Angehörigen-Betroffenen garantieren kann, dass ihre Perspektive und ihr Wissen wirklich Struktur-gebend und entscheidend (im doppelten Sinne des Wortes!) zur Geltung kommen.
Dabei deuten sie durchaus auf die Heterogenität der Gruppe von Opfern und Angehörigen hin, und dass sich viele aus Frustration und Erschöpfung zurückgezogen haben. Ferner verweisen sie auch auf die Problematik der Retraumatisierung gerade mit Blick auf die Situation der älteren Generation und direkter Angehöriger, die mit der Errichtung eines derartigen Ortes einhergeht:
„Und du kommst zurück als Vater, siehst deinen Sohn sterben beziehungsweise tot auf dem Boden liegen. Da gehst du nicht in ein Zentrum und schaust es dir noch mal an, um in Tränen auszubrechen dort. Das vermeidest du als sehr stark leidender Mensch.“ (Okan T.)
Zugleich wünschen sich alle, dass ein derartiger Ort nicht weit weg sein dürfe, sondern dort angesiedelt sein müsse, "wo die Migranten wohnen", an den "Betroffenenorten", "in denen es mehr Ungerechtigkeit und Ausländer gibt", wie verschiedene Gesprächspartner*innen es formulieren. Diese starke Position bezüglich einer dezentralen Struktur und Verortung an den Tatorten der Morde und Anschläge ist nicht nur dem Wunsch geschuldet, dass es zu keiner Konkurrenz zwischen den "Betroffenenstädten" kommen solle. Auch die älteren Opfer und Angehörigen sollten ein derartiges Zentrum einfach erreichen können, was gegen einen zentralen Gedenkort weit weg in Berlin oder Chemnitz spräche. Vielmehr entspringt diese Haltung auch dem klaren Verständnis der Botschaftswirkung der Taten, die explizit die migrantische Wohnbevölkerung treffen sollten. Insofern hätten derartige Zentren in den migrantischen Räumen auch eine Signalwirkung:
„Meiner Meinung nach sollten solche Zentren in Gegenden angesiedelt werden, in denen es mehr Ungerechtigkeit und Ausländer gibt. Und das sollte man den Leuten persönlich erklären. Was für eine Funktion wird hier erfüllt? Nur Ausländer haben hier Ungerechtigkeiten erlitten, solche Vorfälle gab es hier schon früher. Von Generation zu Generation. Im Sinne von, früher gab es hier eine solche Organisation. Es gab solche Angriffe und Morde. Ein solches Zentrum, zum Beispiel, sollte nicht an einem abgelegenen Ort liegen, nicht nur auf dem Papier als ein NSU-Zentrum gegen Rassismus bestehen. Es muss aktiv sein.“ (Muhammet A.)
Für eine dezentrale Struktur sprach ferner auch die stützende und fördernde Wirkung für die bereits stattfindende Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit von Opfern und Angehörigen-Betroffenen und ihren Unterstützer*innen, die bislang weitestgehend ehrenamtlich und ohne große finanzielle und infrastrukturelle Förderung auskommen muss, wie es Gamze Kubaşık im Gespräch erklärt:
„Also, es ist ja auch einer unserer Wünsche, in so einem Zentrum unsere Arbeit zu machen und den Menschen von uns zu berichten und über den NSU und seine Verbrechen zu sprechen. (…) Für die Betroffenenorte wäre dies noch mal viel leichter, wenn man so eine Räumlichkeit hat und ’ne finanzielle Unterstützung hat, ja.“
In diesem Sinne machen alle Gesprächspartner*innen auch klar, dass die Perspektive der Betroffenen inhaltlich wie strukturell ins Zentrum zu stellen, eben auch bedeutet, diese adäquat institutionell und personell einzubinden, zu finanzieren und wenn nötig, weiter zu qualifizieren. Ebenfalls bedeutet dies, die Strukturen transparent so zu gestalten, dass die Opfer und Angehörigen-Betroffenen an den zentralen Entscheidungen adäquat beteiligt und in den Gremien repräsentiert sind.<
Ort des Gedenkens, der positiven Erinnerung, der Solidarität und Resilienz
„Also, wir möchten eigentlich den Opfern ein Gesicht und ’ne Stimme geben, und das sollte auch in diesem Erinnerungsort einfach weiter funktionieren.“
(Semiya Şimşek)
Viele Betroffene denken beim Stichwort "Dokumentationszentrum/Erinnerungsort" vor allem an einen Ort der Einkehr, der dem Leben ihrer ermordeten Angehörigen gewidmet ist. Die Menschen hinter den Mordopfern, so die Interviewten, sollen nicht in Vergessenheit geraten, und das Leben, das sie hatten, und ihre Persönlichkeit sollen weitergetragen werden.
„Also, wenn jemand da reinkommt, ein Kind, und sieht Enver Şimşek, dass man so seinen Lebenslauf vielleicht beschreibt, was er gemacht hat, wie er nach Deutschland gekommen ist, was ihn überhaupt nach Deutschland geführt hat, was für ein Leben er hatte und wie er, wo er gearbeitet hat, was so seine Lebensabsichten seine Hobbys waren, zum Beispiel.“ (Semiya Şimşek)
In den Zitaten spiegelt sich das Bedürfnis, einen ästhetisch wertvollen Ort zu schaffen, an dem sich die ermordeten Angehörigen ebenfalls wohlgefühlt hätten – einen Willkommensort, einen Ort der "Schönheit" (Okan T.) und der "Wärme" (Gamze Kubaşık), der etwas "Positives" (Okan T.) ausstrahlt. Einen Gegen-Ort zur Gewalt der Rechtsterrorist*innen und der Kälte des institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus, den die Familien miterleben mussten. So geht es vielen auch darum, einen solchen Ort mit positiven Symbolen ausschmücken zu wollen, die an das Leben der Ermordeten erinnern und nichts mit der hiesigen Gedenkstättenästhetik zu tun haben, sondern die herkunftskulturellen, familiären und persönlichen Symbole und Ästhetiken einbeziehen, wie ein Kirschbaum oder ein Stern. Einige der Angehörigen-Betroffenen könnten sich sogar vorstellen, unter den richtigen Voraussetzungen, wichtige persönliche Gegenstände dort auszustellen, wie es Semiya Şimşek sagt:
„Oder weißt du, was auch sehr, sehr schön wäre, und ich glaube, das würde auch das erste Mal so irgendwie stattfinden (…), dass man so persönliche Dinge für die Leute, also für dieses Zentrum mitgibt, das muss natürlich sehr, sehr sicher sein, wie zum Beispiel ein Tesbih [eine Gebetskette] von meinem Vater, den er immer in der Hand hatte. Oder seine Armbanduhr, die immer an seinem Arm war, dass die Leute auch so persönliche [betont:] Dinge von denen sehen.“
Angesichts der negativen Erfahrungen als Opfer und Angehörige-Betroffene, nicht nur über ein Jahrzehnt zu Täter(familie)n gemacht worden zu sein, sondern nach der Selbstenttarnung auch für eine würdige Erinnerungspraxis und Anerkennung der Leiden kämpfen zu müssen, geht es den meisten Gesprächspartner*innen auch darum, endlich einen Ort zu haben, um sich als Opfer und Angehörige-Betroffene des NSU-Komplexes und darüber hinaus in Ruhe treffen, austauschen, politisch vernetzten und sich hierdurch gegenseitig stärken zu können, wie es Okan T. beschreibt:
„[Die vergangenen Jahre] haben vielen auch die Lebenskraft geraubt. Und, wie gesagt, ich würde mir sehr wünschen, dass man gut vernetzt ist mit den Betroffenen. Weil, letztendlich kann man sich nur gegenseitig positiv beeinflussen, sich Beistand zusprechen und auch Verständnis, weil, letztendlich kann man nur von den anderen Betroffenen auch Verständnis erfahren.“
Mit einem zukünftigen Dokumentationszentrum verbinden die Überlebenden die Chance, dass sich Räumlichkeiten oder auch nur finanzielle Ressourcen wie Unterkunft, Reisegelder und Organisation für die Betroffenenvernetzung akquirieren lassen, worunter die bisherigen eigenorganisierten Vernetzungsinitiativen vielfach leiden, sodass Treffen immer wieder nicht zustande kommen:
„Aber zum Beispiel jetzt demnächst in Berlin wird das leider nicht stattfinden; das kann man ja auch offen sagen: aus dem Grunde, weil der Initiative dort einfach das Geld fehlt (…) und da wäre das für die Betroffenenorte noch mal viel leichter, wenn man so eine Räumlichkeit und finanzielle Unterstützung hat.“ (Gamze Kubaşık)
Ort der Aufklärung und Prävention
Angesichts der bis heute ausgebliebenen Aufklärung und der vielen offenen Fragen bezüglich Tatmotiv, Opferauswahl, Täter*innenstruktur, Verwicklung von Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutzämtern sehen alle Gesprächspartner*innen mit einem derartigen "Dokumentationszentrum" die Chance zur Aufklärung verbunden. Dabei ginge es zum einen darum, den rassistischen Hintergrund und die Botschaft der Taten gegen die Einwanderungsgesellschaft zu thematisieren:
„Warum wollte denn dieses Trio vor allem türkischstämmige Bürger treffen? Was war es denn eigentlich für eine Nachricht an die Community der Türkischstämmigen? Das sollte vielleicht noch mal aufgegriffen werden, es gab ja eigentlich ’ne Botschaft, aber darum kümmert sich heutzutage niemand. Aber es muss ja ein Ziel gehabt haben. Abschreckung? War es vielleicht, ihr seid hier nicht erwünscht?“ (Gamze Kubaşık)
Etwas anders gelagert erachtet es auch Gavriil Voulgaridis als wichtig, in einem solchen Ort über den Kontext der Einwanderung seiner Familie zu sprechen:
(…) und von unseren reichhaltigen Erfahrungen als zweite Generation der Gastarbeiterfamilie, das können wir doch gut kombinieren, was die jungen Menschen heutzutage nicht wissen. Die hören das und klar, ab und zu glaube ich auch, habe ich das Gefühl, dass die Generation heute diese Gastarbeitergeschichte ungern hört, dass wir Nichtdeutsche geholt worden sind, vertraglich geholt worden sind. Vielleicht irre ich mich da, ich möchte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber mein Gefühl ist, dass die heutige Gesellschaft das ein bisschen zu wenig thematisiert.
Zum anderen verbinden alle Gesprächspartner auch die Hoffnung, das "staatliche Versagen" mit Blick auf seine Auswirkungen auf die Opfer und Angehörigen-Betroffenen schonungslos zur Sprache bringen zu können:
„Also, es ist schon wichtig, dass man in diesem Dokumentationszentrum auch erfährt, was für staatliches Versagen man in diesem Land, in dem NSU-Fall hatte. Und wir haben das ja alles miterlebt und das hat uns dazu geführt, dass wir Familien dadurch auch kaputt gegangen sind. Und dass uns in der Zeit das Trauern auch so genommen wurde. Also nicht nur ich und Semiya sagen das, dass für uns die schlimmste Zeit vor der Enttarnung war, sondern alle anderen Familien sagen das auch. Und deswegen finde ich, dass es sehr, sehr wichtig ist, dass die Menschen erfahren, was für Pannen in unserem Land passiert sind.“ (Gamze Kubaşık)
Und Semiya Şimşek ergänzt:
„Aufklären! Und auch wirklich, auch wenn’s nicht aufgeklärt wurde, Pannen, dass man das auch aufrichtig da alles hinschreibt (…), das muss man vielleicht von Jahr zu Jahr machen und detailliert beschreiben, was alles da passiert ist, was wir gesagt haben.“
Dabei geht es den Gesprächspartner*innen nicht nur um die von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 versprochene umfassende Aufklärung der Tathergänge und der Ermittlungsfehler, sondern auch um die Thematisierung der Ermöglichungsstrukturen, allen voran des institutionellen, staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus. Hieran schließen viele die Zielvorstellung an, dass einem derartigen Zentrum vor allem eine in die Zukunft gerichtete gesellschaftliche Aufklärungsfunktion zukommt; dass ein Raum entstehen müsse, der einer engagierten Zivilgesellschaft zugutekommt, in dem eine präventive, antirassistische politische Bildungsarbeit praktiziert werden kann:
„Das Gedenkzentrum sollte eine gewaltfreie und harmonische Zukunft äußern (…). Ja, also aufklären ist mir am wichtigsten (…) dass die Menschen aufgeklärt werden und dadurch auch vorgebeugt werden kann.“ (Okan T.)
Schluss
Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit staatlichen Institutionen, bei denen die Erwartung eines verbindlichen Umgangs auf Augenhöhe oftmals schwer enttäuscht wurde, sehen es alle Gesprächspartner*innen als unerlässlich an, dass sie als Opfer und Angehörige von Anfang an in die Diskussionsprozesse und Entscheidungsstrukturen zu einem derartigen Zentrum eingebunden werden und diese transparent gestaltet sind. Dies formulieren viele in dem Sinne, dass "ohne sie" gleichbedeutend mit "gegen sie" wäre:
„Und Entscheidungen treffen, wo die Familien nicht involviert sind, dann nein, aber wenn wir wie heute natürlich auch gefragt werden: ‚Wie soll es denn aussehen? Was stellt ihr euch vor?‘, und wir auch ein Bestandteil von dem allem sind, dann natürlich sehr, sehr gerne, also unbedingt sogar, das wollen wir ja auch.“ (Gamze Kubaşık)
Dabei fordern manche, nicht nur in die Entscheidungen einbezogen zu werden und die Mitarbeit finanziell angemessen honoriert zu bekommen, sondern auch eine gewisse Autonomie über Ausgaben und Programmgestaltung. Allerdings formulieren alle, dass sie nicht ein weiteres Mal enttäuscht werden wollen. Vielen macht es Mut, zwölf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU zu sehen, dass nun Schritte eingeleitet werden, die ihren jahrelangen Forderungen entsprechen. Die Hoffnung ist, dass die Realisierung dieser Forderungen nicht noch ein weiteres Jahrzehnt dauert, wie es dieser Dialog abschließend zum Ausdruck bringt:
„Ich meine, wir haben doch so lange darauf gewartet, also, wir warten immer so lange darauf, und wir machen wichtige Arbeit. Und wir erwähnen ja auch immer wieder, vor allem ich sag es immer wieder: Ich möchte ein Ort für das alles, und jetzt hab ich so das Gefühl, ich weiß nicht.“ (Gamze Kubaşık)
„Ich möchte nicht mehr enttäuscht werden.“ (Semiya Şimşek)
Die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte mit Enttäuschungen und Vertrauensverlust zogen sich wie ein roter Faden durch unsere Interviews. Auch für die Bestandsaufnahme zur Einbindung von Betroffenenperspektiven in ein etwaiges zukünftiges Dokumentationszentrum beziehungsweise einen Erinnerungsort haben die Angehörigen wieder mit viel Kraft Zeugnis abgelegt und Ideen formuliert. Nun ist es an den politischen Verantwortlichen und Institutionen, diesen erneuten Einsatz für eine verspätete Aufarbeitung und Erinnerung nicht wieder (aktiv) scheitern zu lassen.