Mit den Verbrechen des NSU haben sich seit 2012 über ein Dutzend parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern befasst, außerdem das Oberlandesgericht (OLG) München in einem der längsten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist also erheblicher Aufwand betrieben worden, um die rassistische Mord- und Anschlagsserie sowie die behördliche Mitverantwortung rechtsstaatlich aufzuarbeiten.
Das vielzitierte Versprechen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass "alles" getan werde, "um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen", kann dennoch nicht als eingelöst gelten. Die justizielle wie die parlamentarische Untersuchung des NSU-Komplexes haben zwar einiges erbracht. Aber beide rechtsstaatlichen Prozeduren sind, wie im Folgenden gezeigt wird, an eine Reihe von – teils strukturellen – Grenzen gestoßen. Nicht zuletzt wird es dabei um die Inlandsgeheimdienste und insbesondere ihren Einsatz von sogenannten Vertrauenspersonen ("V-Leuten") gehen.
Strafprozessuale Verengung
Das Urteil des OLG München im Strafverfahren "gegen Beate Z.u.a. wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung u.a. (NSU)" ist inzwischen rechtskräftig. Als rechtsfehlerfrei bestätigt hat der Bundesgerichtshof 2021 die Verurteilung von Zschäpe als Mittäterin der Morde, ebenso die niedrige Strafe von zweieinhalb Jahren Haft gegen André Eminger, der insbesondere vom Vorwurf der Beihilfe zum versuchten Mord bezüglich des Sprengstoffanschlags in der Kölner Probsteigasse freigesprochen wurde. Strafrechtlich sind damit für die Taten des NSU insgesamt fünf Personen zur Verantwortung gezogen worden. Aber inwieweit hat der Münchner Prozess die Taten aufgeklärt und durch Gerechtigkeit zum Rechtsfrieden beigetragen?
Um am Ende anzufangen: Die 2020 veröffentlichten schriftlichen Urteilsgründe bedeuteten eine Enttäuschung, nicht nur für die Hinterbliebenen der Mordopfer.
Weitgehend ausgeblendet hat der von 2013 bis 2018 dauernde Strafprozess an seinen über 400 Verhandlungstagen "die staatliche Mitverantwortung für die Entstehung des NSU-Netzwerks und für dessen langjährige ungestörte Terroraktivitäten sowie die rassistische Natur der Ermittlungen".
Die Aufklärung der Taten litt auch am teilweise auffallend geringen oder selektiven Erinnerungs- und Aussagevermögen nicht nur der meisten Zeug:innen aus dem NSU-Umfeld, sondern auch einiger der befragten Beamt:innen. Die Befragungstechnik des Vorsitzenden Götzl wirkte auf Beobachtende nicht immer zielführend; oft kamen Zeug:innen mit zweifelhaften bis erkennbar interessegeleiteten Aussagen davon, auch weil behördliche Akten zu ihnen nicht hinzugezogen wurden. Der Nebenklagevertreter Yavuz Narin erwähnte im Prozess, er werde "öfter gefragt, warum Zeugen aus der Szene hier vor Gericht so dreist und ungestraft lügen können".
Entpolitisierung
Das Strafverfahren ist auf die prozessuale Wahrheit ausgerichtet, nicht auf die vermeintlich absolute Wahrheit. Eine rechtsstaatliche Strafprozessordnung schützt nicht zuletzt die Rechte von Beschuldigten. Und ein Zeuge, der sich nicht erinnern will, kann nicht zu einer (verwertbaren) Aussage gezwungen werden. Wie es die Rechtshistorikerin und Medientheoretikerin Cornelia Vismann formulierte, "geht die Justiz mit den Bedingungen ihrer Wahrheitsproduktion offener um als andere Wahrheitsdiskurse. Während diese sich zur Bewahrheitung auf eine höhere Autorität berufen (Natur, Physik, Gott), stellt das Gericht in aller Offenheit aus, dass die Wahrheitsfindung den von ihm selbst gesetzten Regeln folgt"; damit wird die strafjustizielle Wahrheitsfindung in gewisser Weise "immun gegen jeden von außen herangetragenen Zweifel. Einer Relativierung durch andere Wahrheitsformen ist sie nicht zugänglich".
Das bleibt theoretisch überzeugend, auch wenn es die parallele Aufarbeitung des NSU-Komplexes durch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse immerhin ermöglichte, Wissen aus anderen rechtsstaatlichen Verfahren (in denen es beispielsweise keine Angeklagten gibt) in den Gerichtssaal zu bringen. Darum bemühten sich einige engagierte Vertreter:innen der Nebenklage, die eine Vielzahl von Beweisanträgen zum NSU-Unterstützerkreis und zur Rolle der Geheimdienste stellten. Das OLG lehnte die meisten Anträge ab, ohne dass die Strafprozessordnung es dazu gezwungen hätte.
Damit ist der Anfang des Münchner Verfahrens erreicht. Hauptverantwortlich für die Verengung und "künstliche Entpolitisierung"
Einer Strafverfolgungsbehörde, zu deren historischem Erbe erwiesenermaßen Schwierigkeiten im Umgang mit rechtsradikalen Netzwerkstrukturen gehören,
Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg leitet aus Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Verpflichtung ab, bei – zumal rassistischen – Tötungsdelikten effektive staatliche Ermittlungsverfahren zu führen, gerade wenn es sicherheitsbehördliche Verwicklungen gibt.
Geheimnis und Vertrauen
Zum Entstehen und ungehinderten Wirken des NSU hatten das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Landesverfassungsschutzämter (LfV), vor allem in Thüringen und Sachsen, beigetragen, die etwa durch die Bezahlung von V-Leuten wie Tino Brandt vom "Thüringer Heimatschutz" jahrelang die rechte Szene mitfinanzierten. Dabei erschwerten sie nicht zuletzt auch polizeiliche Ermittlungen, weil sie ihre "Quellen" schützen wollten. Beispielsweise setzte sich das zuständige LfV Thüringen bei Staatsanwaltschaft und Polizei gegen die Verfolgung von Brandt ein, warnte seine Eltern vor einer Telefonüberwachung und ihn selbst vor Hausdurchsuchungen. Bei Marcel Degner staunte die Polizei einmal, so die Worte des Journalisten Ronen Steinke, über eine "klinisch saubere" Wohnung, nachdem ihn der stellvertretende Leiter des LfV Peter Nocken besucht hatte.
Von den konkurrierenden sicherheitsbehördlichen Systemlogiken setzte sich also häufig diejenige durch, die "Quellenschutz" vor Strafverfolgung stellt. Grundlage dafür ist das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG), wonach beispielsweise die Datenübermittlung an Strafverfolgungsbehörden unterbleibt, "wenn überwiegende Sicherheitsinteressen dies erfordern" (§23); zu den danach schützenswerten "Sicherheitsinteressen" gehören nicht zuletzt die Methoden der geheimdienstlichen Arbeit.
Im NSU-Komplex wurde nun vielleicht deutlicher als je zuvor ersichtlich, wie das Wirken der Inlandsgeheimdienste es erschwert, politische Verbrechen rechtsstaatlich aufzuarbeiten. Ein krasser Fall ist dabei die "Operation Konfetti" genannte Vernichtung von Akten zu V-Leuten des BfV unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Der verantwortliche Geheimdienstler mit dem Decknamen "Lothar Lingen" gab nicht im Untersuchungsausschuss des Bundestages, wohl aber 2014 gegenüber dem GBA zu, dass er die Vernichtung absichtlich veranlasst hatte. Sein Motiv blieb unklar, nicht aufgeklärt werden konnten letztlich auch der Umfang oder gar der Inhalt der betreffenden Akten.
Wer kontrolliert wen?
Es gehört zur Natur der Inlandsgeheimdienste, dass ihre Praktiken nicht-öffentlich und daher gerichtlich schwer zu überprüfen sind. Schon die Auskunft darüber, welche personenbezogenen Daten der Verfassungsschutz gespeichert hat, muss vielfach in mühsamen und langwierigen Verwaltungsgerichtsverfahren erstritten werden.
Welche Möglichkeiten boten nun die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bundestag und Landtagen, um im NSU-Komplex insbesondere die Rolle des Verfassungsschutzes aufzuklären? Pichl versteht die parlamentarische Untersuchung als "politisch-juridische Arena", die sowohl von "rechtsstaatlicher Aufklärung" als auch vom parteipolitischen Ringen um "exekutiven Ordnungserhalt" geprägt ist.
In den NSU-Untersuchungsausschüssen konnten sich einerseits "alle Parlamentarier als Aufklärer von Missständen in der Gesellschaft (…) inszenieren".
Grenzen der rechtsstaatlichen Aufarbeitung ergaben sich hier wiederum insbesondere aus dem Wirken des Verfassungsschutzes. Die erwähnten Aktenvernichtungen führten dazu, dass bei den – ohnehin seltenen – Vernehmungen von V-Leuten die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben nicht anhand von amtlichen Unterlagen überprüft werden konnte.
Leider hat auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer Reihe von jüngeren Entscheidungen das parlamentarische Fragerecht in Bezug auf V-Leute eingeschränkt. Danach sind die Geheimdienste ein "Ausdruck der Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie, des Selbstbehauptungswillens des Rechtsstaates"
Staatsschutz statt Verfassung?
Die rechtsstaatliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes hat es insgesamt kaum geschafft, das zerstörte Vertrauen in die staatlichen Institutionen bei den Betroffenen wiederherzustellen. So stellt Pichl in Anlehnung an den Pariser Soziologen Luc Boltanski die Frage, was staatliche Untersuchungen von Skandalen überhaupt leisten können, weil sie gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse nicht infrage stellen: Die Justiz kann Urteilssprüche über Einzelpersonen fällen, aber keine Systeme und Strukturen analysieren.
Gerichten und Staatsanwaltschaften stellt sich im Umgang mit Geheimdiensten die Aufgabe, das Justizsystem vor Übergriffen einer vermeintlich extralegalen "Superexekutive"
Ein wichtiges Ergebnis der parlamentarischen Untersuchungen sind demnach die umfangreichen Abschlussberichte voll von empirischem Material über die "Verselbständigungen des V-Leute-Systems und die problematischen Arbeitsweisen des Verfassungsschutzes".
Der NSU-Komplex hat die alte bürgerrechtliche Frage wieder aufgeworfen, wie sich Inlandsgeheimdienste vereinbaren lassen mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: Wird die Verfassung nicht besser geschützt, wenn allein die Polizeien politisch motivierte Gewalt zu verhindern suchen, während legale Aktivitäten von Parteien und anderen Gruppierungen, die wie die AfD eine fundamental andere Ordnung wollen, ohne heimliche Überwachungsmethoden erfasst werden?
Verfassungsrechtlich gehört der Spitzel-Einsatz von V-Leuten "zu den schwersten denkbaren informationellen Eingriffen in Grundrechte überhaupt".
Angesichts der dokumentierten negativen Folgen, die der Einsatz von V-Leuten für die Verhinderung und die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Taten des NSU hat, stellt sich auch politisch nicht zuletzt folgende Frage: Welche Erfolge dieser Praxis sind eigentlich nachweisbar – und warum wiegen sie schwerer?
Mit dem absehbaren Ende der rechtsstaatlichen Verfahren zum NSU rückt zunehmend die Forschung in den Vordergrund. Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag von 2021 "die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes energisch voran[treiben]" und dazu auch ein zentrales "Archiv zu Rechtsterrorismus" schaffen: Hoffentlich kein weiteres Versprechen, an das noch in zehn Jahren erinnert wird.