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Afghanistan 2001 bis 2021 | 9/11 | bpb.de

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Afghanistan 2001 bis 2021 Zur Entwicklung der Taleban und al-Qaeda seit 9/11

Thomas Ruttig

/ 14 Minuten zu lesen

Unter den Terroristen, die am 11. September 2001 vier gekaperte Flugzeuge in fliegende Bomben verwandelten, war kein einziger Afghane. Auch unter den unmittelbaren Helfern der Terroristen sowie den Ideengebern bei al-Qaeda waren keine. Trotzdem wurde Afghanistan Hauptziel des US-geführten Gegenschlags. Was hatte das Land, in dem seit 1996 die Taleban herrschten, mit diesen Anschlägen zu tun? Was haben beide Gruppen gemein, und was trennt sie? Wie haben sich die Taleban entwickelt, die mit dem beschlossenen vollständigen Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten nun vor der Wiederkehr an die Macht stehen?

Al-Qaeda in Afghanistan

Die Führung der Gruppe al-Qaeda ("die Basis", manchmal auch Tansim al-Qaeda al-Dschehad: "Organisation Basis des Heiligen Krieges") mit ihrem Gründer Osama ben Laden befand sich zum Zeitpunkt der Anschläge, für die sie die Urheberschaft reklamierte, in Afghanistan. Sie waren Gäste der afghanischen Taleban, bei denen die ehemaligen arabischen Verbündeten und Mit-Geldgeber im Kampf gegen die sowjetische Intervention (1979–1989) ein hohes Ansehen genossen. Mit ihren ersten terroristischen Anschlägen zogen sie allerdings den Unmut der Taleban-Führung auf sich. Diese versuchte – unzureichend, wie sich am 11. September 2001 herausstellte –, den Spielraum al-Qaedas einzuschränken.

Al-Qaeda war 1987 zur Unterstützung der gegen die sowjetische Besatzung kämpfenden Mudschahedin gegründet worden. Die Gruppe bestand aus arabischen Kämpfern, die als Freiwillige ihren afghanischen Brüdern im Geiste zur Hilfe geeilt waren und eine Art islamistische internationale Brigade gebildet hatten. Damals besaßen sie noch die Unterstützung des mit den USA verbündeten saudischen Königshauses, gegen das sie sich später wenden sollten.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen im Februar 1989 begannen die arabischen Kämpfer, den Dschihad auch in ihre Heimatländer zu tragen. Von Chartum aus, der Hauptstadt des damals von einem islamistischen Regime beherrschten Sudan, kritisierte Ben Laden nun die saudische Monarchie, weil sie US-Truppen ins Land der heiligsten Stätten des Islam gebeten hatte, und organisierte Angriffe auf die ausländischen Truppen. Durch politischen Druck aus Chartum vertrieben, siedelte er im Mai 1996 nach Afghanistan um. Die dortige Mudschahedin-Regierung unter dem damaligen Präsidenten Borhanuddin Rabbani schickte ihm ein Flugzeug und brachte ihn auf eine Farm nahe der ostafghanischen Provinzhauptstadt Dschalalabad, im Einflussgebiet Ben Ladens früheren Gastgebers, des inzwischen verstorbenen Führers der Islamischen Partei, Maulawi Junos Chales.

Rabbani und sein Kriegsminister Ahmad Schah Massud dürften sich von Ben Laden neue Zuschüsse erhofft haben, um sich dem Ansturm der 1994 entstandenen Taleban-Bewegung zu erwehren, die angetreten war, den Fraktionskrieg zwischen verfeindeten Mudschahedin-Fraktionen zu beenden, von denen die Regierung nur eine war. Drei Monate nach seiner Ankunft standen die Taleban jedoch vor Dschalalabad, das am 11. September 1996 an sie fiel. Chales schloss sich ihnen mit seinen Kämpfern an. So wurde Ben Laden "Gast" der Taleban.

Von Ostafghanistan aus rief Ben Laden im Februar 1998 zusammen mit den Anführern vier dschihadistischer Splittergruppen aus Ägypten, Pakistan und Bangladesch die "Islamische Weltfront für den Dschihad gegen Juden und Kreuzfahrer" ins Leben – auch daran waren weder Taleban noch andere Afghanen beteiligt. Im August 1998 bekannte sich die Gruppe zu den Bombenanschlägen auf die US-Botschaften in Tansania und Kenia. US-Präsident Bill Clinton antwortete mit Cruise-Missile-Angriffen auf Al-Qaeda-Ausbildungslager in Afghanistan; Taleban-Chef Mullah Muhammad Omar beorderte Ben Laden in sein Hauptquartier nach Kandahar, in der Hoffnung, ihn besser kontrollieren zu können. Doch im Oktober 2000 fand die nächste spektakuläre Al-Qaeda-Operation statt: ein Angriff auf das im jemenitischen Hafen von Aden vor Anker liegende US-Kriegsschiff "USS Cole". Das führte zu UN-Sanktionen gegen die Taleban als Gastgeber Ben Ladens.

Noch für das Frühjahr 2001 rechnete die norwegische Terrorismusforscherin Anne Stenersen al-Qaeda 80 bis 120 Kämpfer zu. Zusammen mit 400 Mittelasiaten und Pakistanis bildeten sie die sogenannte Brigade 055 (auch als Brigade 21 bekannt), die aufseiten der Taleban gegen die gegnerische sogenannte Nordallianz kämpfte, einen Zusammenschluss früherer Mudschahedin-Organisationen. Erst nach den Anschlägen vom 11. September und dem am 7. Oktober 2001 begonnenen US-Gegenangriff soll sich deren Zahl nach Medienberichten durch den Zuzug weiterer arabischer Freiwilliger auf 3000 erhöht haben – aber diese Zahl könnte auch zu hoch gegriffen sein.

Die arabischen Kämpfer waren bei den Taleban wegen ihrer Überheblichkeit unbeliebt; man warf ihnen vor, sie blickten auf die Afghanen herab, weil diese nicht Arabisch, die Sprache des Koran, als Muttersprache sprachen. Die Taleban machten sich zudem über ihren Todesdrang, "die Sehnsucht nach dem Paradies", lustig; sie selbst wollten im Diesseits die politische Macht. Dafür setzten sie die Brigade 055 als "Kanonenfutter" an den umkämpftesten Fronten ein. Als die US-Luftwaffe 2001 die Fronten nördlich Kabuls bombardierte, tötete sie viele dieser Kämpfer, während die Taleban sich schon zurückgezogen hatten und als Organisation überlebten.

In der Schlacht von Tora Bora im Spinsar-Gebirge südlich von Dschalalabad im Dezember 2001 lieferte sich al-Qaeda seine letzte große Schlacht. Ben Laden und weitere Führungsmitglieder überquerten gegen hohe Bezahlung unter der Führung örtlicher Mudschahedin-Kämpfer – die die Amerikaner für ihre Verbündeten hielten – die Grenze nach Pakistan. Dort wurde Ben Laden fast zehn Jahre später, am 2. Mai 2011, in Abbottabad während einer US-Kommandoaktion getötet. Seither ist al-Qaeda – jedenfalls in Afghanistan und Pakistan – nur noch eine Randerscheinung, von der unklar ist, ob sie unabhängig von den Taleban überhaupt noch handlungsfähig ist.

Kontinuität und Wandel bei den Taleban

Inzwischen stehen Afghanistans Taleban kurz vor einer triumphalen Rückkehr an die Macht. Sie können sogar wählen, ob sie das auf militärischem oder dem Verhandlungsweg erreichen wollen. Der laufende Abzug der US-Truppen und die Uneinigkeit im Lager des afghanischen Präsidenten Muhammad Aschraf Ghani stärken ihre Ausgangsposition für beides. Eine künftige Regierung ohne die Taleban wird es kaum geben – bestenfalls in einer Art Koalition.

Auf dem Weg in diese Situation über die vergangenen 20 Jahre haben die Taleban, ihre Führung und Politik sich erkennbar entwickelt. Von einer international isolierten Bewegung mauserten sie sich zu einem diplomatisch anerkannten Verhandlungspartner. Diese Entwicklung kulminierte im Februar 2020 im Truppenabzugsabkommen mit den USA, in dem sich die Taleban verpflichteten, al-Qaeda keinen neuen Handlungsspielraum zu geben.

Obwohl Taleban-Gründer Omar 2013 einer Krankheit erlag und viele Führer der ersten Generation ebenfalls gestorben sind oder im Kampf getötet wurden, gibt es im Führungsrat der Taleban mehr Kontinuität als Wandel. Nach wie vor dominieren ältere Geistliche, Paschtunen aus der Großregion Kandahar im Landessüden, woher auch Omar stammte. Gleichzeitig rückten auf mittlerer und lokaler Führungsebene mehr Nicht-Paschtunen auf, vor allem Usbeken und Tadschiken. Damit will die Taleban-Führung die Bewegung auch in Minderheitengebieten stärker verankern, wo sie präsenter sind als vor 2001. Zuweilen greift eine Art dynastisches Prinzip, wie auch in anderen politischen Bewegungen Afghanistans: Omars ältester Sohn, der angeblich erst 31-jährige Mullah Muhammad Jaqub, ist inzwischen der für militärische Angelegenheiten zuständige Taleban-Vizechef.

Bei den Taleban-Fußsoldaten gibt es wegen der hohen Kriegsverluste eine viel größere Fluktuation. Viele von ihnen sind sehr jung, kennen nichts als den Krieg und sind in eine inzwischen gefestigte und nun auch kurz vor dem Sieg stehende Struktur eingebunden, was sie stärker ideologisiert als ihre Vorgänger. Doch die – zudem religiös legitimierte – Autorität der Älteren ist weitgehend ungebrochen. Die Jüngeren haben wenig zu sagen. Hierin liegt ein Hoffnungsschimmer: Die Alten können etwaige Verhandlungsabsprachen intern leichter durchsetzen.

Politisch halten die Taleban an ihrem Hauptziel, der Errichtung einer, wie sie es nennen, "inklusiven islamischen Ordnung" fest, die man als eine Art islamistischen Pluralismus bezeichnen könnte. Tendenziell säkulare politische Kräfte dürften sie kaum tolerieren. Auch die früheren Mudschahedin, die heute in Kabul ein wichtiger Machtfaktor sind, lehnen säkulare Kräfte ab.

Etwa in der Hälfte des Landes hat sich die Guerillabewegung längst zu einer Parallelregierung entwickelt. Dort, wo die Taleban bereits herrschen – dies sind vor allem die dünner besiedelten Landgebiete –, müssen sie Alltagsprobleme der Bevölkerung regeln und erweisen sich dabei zuweilen als flexibler als vor 2001. Offenbar haben die Taleban-Führer erkannt, dass sie auf Dauer nicht gegen die Bevölkerung regieren können. Im Gegenteil: Gelegentlich werden sie sogar von ihr beeinflusst. Die Taleban halten Schulen und Krankenhäuser am Laufen, manchmal auch Mädchenschulen, wenn auch meist nur bis zur 6. Klasse. Sie sammeln Spenden für kleinere Infrastrukturprojekte und registrieren Hilfsorganisationen, die in ihrem Gebiet aktiv werden wollen. Viele Afghanen ziehen die Taleban-Justiz den Gerichten der Regierung vor, die notorisch korrupt sind. Politische Freiheiten hingegen sucht man im Gebiet der Taleban vergeblich. Jedoch tolerieren sie örtliche Ältestenräte, über die die Bevölkerung Bittschriften einreichen kann und die als indirekte Verbindung zu Regierungsstrukturen dienen – denn die Regierung, die sich Einfluss in den Taleban-Gebieten erhalten will, finanziert die dortigen Schulen und Kliniken oft über Nichtregierungsorganisationen.

Die Antwort auf die Frage, ob diese pragmatische Mäßigung dauerhaft ist und sich im Frieden womöglich beschleunigen wird oder wieder rückgängig gemacht wird, kann nur die politische Praxis nach einer Beendigung des Krieges durch Verhandlungen zeigen.

Al-Qaeda im US-Taleban-Abkommen

Im Abkommen, das im Februar 2020 mit der US-Regierung unter Präsident Donald Trump in Katars Hauptstadt Doha geschlossen wurde, haben sich die Taleban verpflichtet, al-Qaeda (als einzige namentlich genannte) und anderen Terrorgruppen, "die die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gefährden", die klare Botschaft zu senden, dass sie "keinen Platz in Afghanistan" haben und ihnen kein Unterschlupf gewährt wird ("not to host them"). Zudem müssen die Taleban ihre Kämpfer "instruieren", "nicht mit ihnen [den Terrorgruppen] zu kooperieren" sowie Rekrutierung, Ausbildung und Fundraising zu verhindern. Allerdings wird ausländischen Kämpfern eine Hintertür für "Asyl oder Aufenthalt in Afghanistan in Übereinstimmung mit dem internationalen Migrationsrecht und den Verpflichtungen aus diesem Abkommen" offen gehalten, wenn die Taleban garantieren, dass sie ebenfalls keine Gefahr für die Sicherheit der USA mehr darstellen – also offenbar die Waffen niederlegen und entsprechende Garantien abgeben. Das könnte auf den Wunsch der Taleban zurückgehen, diese Kämpfer nicht an ihre Herkunftsländer überstellen zu müssen, wo ihnen Haft, Folter oder sogar die Todesstrafe drohen könnte.

Allerdings enthält zumindest der veröffentlichte Teil des Abkommens (es soll zwei geheime Anhänge geben) keinerlei Festlegungen, wie die Erfüllung dieser Zusicherungen überprüft werden soll. Bis nach der Amtsübernahme von US-Präsident Joe Biden gab es keine öffentliche Erklärung oder Instruktionen der Taleban bezüglich dieser Verpflichtungen an ihre Mitglieder. Die Trump-Administration verlangte aber auch keinerlei öffentliche Rechenschaft darüber. In einer am 13. Februar 2021 veröffentlichten Erklärung behaupteten die Taleban, dass seit Unterzeichnung des Abkommens keine Gruppe "vom Boden Afghanistans aus irgendwelche Schritte gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten" unternommen hätte. Die US-Regierung bezweifelte das öffentlich auch nicht. Der Vize-Chefunterhändler der Taleban, Scher Muhammad Abbas Stanakzai, hatte schon am 29. Januar 2021 erklärt, dass seine US-Counterparts in Doha "uns gegenüber keinerlei Problem erwähnt" hätten – "und wir haben einen täglichen Kanal, über den sich unsere Militärleute mit ihren Militärleuten zusammensetzen und diskutieren, was in Afghanistan vor sich geht".

Gleichzeitig gab es in den vergangenen Monaten in afghanischen und westlichen Medien immer wieder Berichte über angebliche Al-Qaeda-Aktivitäten in Afghanistan und sogar über eine aktive Zusammenarbeit mit den Taleban. Auch zwei angeblich im Oktober 2015 entdeckte und zerstörte Al-Qaeda-Trainingslager in der Provinz Kandahar, von denen eines angeblich "fast 30 Quadratmeilen" groß gewesen sein soll und dessen Entstehung trotz US-Militärpräsenz im selben Distrikt niemand früher bemerkt haben will, wurden anscheinend nie Journalisten vorgeführt. Die einzige Quelle solcher Berichte ist oft die afghanische Regierung, die Partei in diesem Krieg ist, der auch mit propagandistischen Mitteln geführt wird. Viele Berichte sind deshalb nur bedingt glaubwürdig und lassen sich in der Regel auch nicht unabhängig verifizieren. Ähnliches gilt sogar für UN-Berichte zu diesem Thema, die üblicherweise auf Informationen "aus Mitgliedstaaten" zurückgehen, deren Quelle nicht näher angegeben wird; man kann aber davon ausgehen, dass es sich hierbei um Nachrichtendienste handelt, die sich in Afghanistan wegen stark zurückgegangener Zugangsmöglichkeiten inzwischen jedoch auch meist auf ihren afghanischen Partnerdienst verlassen müssen. Genauso wenig glaubhaft sind allerdings Versicherungen der Taleban, etwa von Stanakzai im Januar 2020, der erklärte: "Derzeit gibt es keine Al-Qaeda-Präsenz in Afghanistan."

Die geringe Mannschaftsstärke von al-Qaeda und sogenannter assoziierter Gruppen in Afghanistan deutet darauf hin, dass sie militärisch kaum noch ins Gewicht fallen und für die Taleban strategisch unbedeutend sind. In einem UN-Bericht vom Februar 2021 wird die "Gesamtzahl der Mitglieder von al-Qaeda und ihren Unterorganisationen in Afghanistan (…) auf 200 bis 500" geschätzt, einschließlich zweier assoziierter Gruppen. Die Autoren fügen hinzu, dass die Taleban "diesen Gruppen verboten haben, unabhängige Operationen gegen [afghanische Regierungstruppen] zu starten", was darauf hindeutet, dass sie nicht von al-Qaeda gegen die Absicht der Taleban instrumentalisiert werden können.

Das belegen auch die Todesumstände des Anführers der Überreste der von den Taleban weitgehend zerschlagenen Islamischen Bewegung Usbekistans, Asis Juldasch, dessen Tod offizielle afghanische Stellen im November 2020 meldeten und einer Operation ihrer Truppen zuschrieben. Nach Informationen unabhängiger afghanischer Analysten wurde Juldasch jedoch von Taleban getötet, als er sich deren Überwachung entziehen wollte. Auch hohe US-Militärs haben in den zurückliegenden zehn Jahren konsistent von 100 bis 200 Kämpfern des Al-Qaeda-Kerns in Afghanistan gesprochen. Den Taleban dürfte nicht daran gelegen sein, ausländische Terrorgruppen in ihrem Einflussgebiet gewähren zu lassen und damit ihre von der internationalen Gemeinschaft letztlich akzeptierte nahe Rückkehr an die Macht zu gefährden.

Szenarien

Mit dem endgültigen und bedingungslosen Truppenabzug aus Afghanistan beginnt nach fast 20 Jahren das Endspiel der gescheiterten US-Intervention nach den Anschlägen des 11. September. Die Taleban, von den USA und ihren Verbündeten vergeblich militärisch bekämpft, stehen vor eine Rückkehr an die Macht. Die Tür dafür haben ihnen ironischerweise die USA durch ihr Separatabkommen (also ohne Beteiligung der international anerkannten afghanischen Regierung) geöffnet.

Der Abzug soll nach US-Vorstellungen spätestens am 20. Jahrestag der Anschläge abgeschlossen sein. Die USA schließen damit dieses Kapitel für sich und ihre Verbündeten. Afghanistan überlassen sie sich selbst oder, genauer gesagt, den bewaffneten Fraktionen, die bereits seit Jahrzehnten das Schicksal Afghanistans bestimmen, sowie Afghanistans ebenfalls hoch gerüsteter derzeitiger Regierung, die insgesamt über etwa 350000 Soldaten, Polizisten und Angehörige oft halbkrimineller Milizen mit zweifelhafter Loyalität verfügt. Auch die Loyalität der Soldaten und Polizisten hängt von einer Fortsetzung amerikanischer und anderer Finanz- und Militärhilfe ab. Diese ist zugesagt, aber es ist unklar, wie lange der US-Kongress bereit sein wird, sie in der derzeitigen Höhe zu bewilligen.

Der Krieg ist allerdings nicht zu Ende, eine politische Regelung nicht in Sicht, und Afghanistan befindet sich in einer tiefen Wirtschafts- und Armutskrise. Das Ziel, al-Qaeda zu zerschlagen, wurde im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zwar weitgehend erreicht. Aber gleichzeitig hat sich die Gruppe über Unterorganisationen ausgebreitet sowie mit dem sogenannten Islamischen Staat eine noch radikalere Abspaltung hervorgebracht, deren Aktionsraum vom saharischen und subsaharischen Afrika über die Arabische Halbinsel und den Indischen Subkontinent bis nach Südostasien reicht – und Nachahmer in den weltweiten Diasporas hat.

Das Endspiel in Afghanistan bedeutet nicht das Ende des dortigen Konflikts. In einem neuen Kapitel werden lediglich die Karten, das heißt die Macht, neu verteilt. Die USA und der Westen werden darauf jedoch nicht mehr viel Einfluss haben. Allerdings ist auch eine Verhandlungslösung damit nicht vom Tisch. Die Taleban blockieren zwar US-inspirierte Pläne wie eine ursprünglich für Ende April 2021 in Istanbul geplante internationale Afghanistan-Konferenz und verzögern den im September 2020 begonnenen sogenannten intra-afghanischen Gesprächsprozess in Doha. Generell schlossen sie aber Gespräche nicht aus. Gleichzeitig versuchen sie offenbar, in Direktkontakten mit verschiedenen afghanischen Akteuren einen eigenen Gesprächsprozess anzubahnen. Damit geben sie zu verstehen, dass es einen Friedensschluss und eine Machtteilung nur noch zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan geben wird. Eine militärische Machtübernahme durch die Taleban per Einmarsch in Kabul wirkt in diesem Szenario damit zumindest mittelfristig – bis die wie auch immer gearteten Gesprächskanäle ausgeschöpft sind – weniger wahrscheinlich. Auch der erhöhte militärische Druck seit Ende 2020 steht dazu nicht im Gegensatz, sondern passt ins Bild der "traditionellen" Verhandlungsführung von einer Position der Stärke aus.

Ein militärischer Machtübernahmeversuch der Taleban könnte sie zudem sofort wieder international isolieren. Wenn sie aber das auch nach 20 Jahren westlichen Engagements immer noch extrem arme Land (mit-)regieren wollen, brauchen sie die externen Zuschüsse, von denen Afghanistan weiter abhängig ist. Deshalb ließen sich die Taleban auch in ihrem Separatabkommen mit den USA zusichern, dass Washington sich nach der Bildung einer "neuen islamischen Regierung" um weitere Unterstützung für das Land bemühen werde.

Eine Verhandlungsregelung zwischen bewaffneten, überwiegend islamistischen Gruppen – ohne große Einwirkungsmöglichkeiten des Westens über finanzielle Hebel hinaus – wird mit hoher Wahrscheinlichkeit trotzdem zu einem Abbau der zumindest ansatzweise existierenden Menschen- und Freiheitsrechte führen. Auch viele der in Kabul mitregierenden oder als Opposition zum politischen System gehörenden Fraktionen sind Islamisten. Sie unterscheiden sich ideologisch nicht sehr von den Taleban. Auch wenn einige dieser Fraktionen sich durch Selbstbewaffnung auf einen neuen Kampf mit den Taleban vorbereiten, könnten zumindest einige von ihnen zu den Aufständischen umschwenken, um sich mit an der Macht zu halten. Die jüngere Geschichte Afghanistans kennt Beispiele dafür, dass dies zu veränderten Koalitionen und schließlich einem Regimewechsel führen kann – wie etwa 1992, als Russlands Präsident Boris Jelzin die Wirtschafts- und Militärhilfe für den ursprünglich sowjetisch gestützten Präsidenten Mohammed Nadschibullah einstellte und dessen Armeeführer zu den Mudschahedin überliefen. Afghanische Geschichte könnte sich wiederholen – nun mit der anderen ehemaligen Supermacht in der Hauptrolle.

ist Afghanist und Mitbegründer sowie Kodirektor des Thinktanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin.
E-Mail Link: thomas@afghanistan-analysts.org