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Islamistischer Terrorismus seit 9/11 | 9/11 | bpb.de

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Islamistischer Terrorismus seit 9/11 Ausprägungen, Abwehr und Aussichten

Rolf Tophoven

/ 15 Minuten zu lesen

Der 11. September 2001 beginnt als gewöhnlicher, sonniger Tag in New York City. Die Stadt erwacht, und die Menschen strömen zu ihren Arbeitsplätzen. Um 8.46 Uhr Ortszeit zerplatzt diese Normalität: Eine von Terroristen entführte Verkehrsmaschine der American Airlines, Flug 11, rast in den nördlichen Turm der über 400 Meter hohen "Twin Towers" des World Trade Centers. 17 Minuten später kracht ein weiteres Flugzeug, Flug 175 der United Airlines, in den südlichen Turm und explodiert. Beide Hochhäuser brennen und stürzen später in sich zusammen. Fast 3000 Menschen sterben in dem Inferno, Tausende werden verletzt. Das Wahrzeichen von Manhattan und Symbol der US- Wirtschaftsmacht existiert nicht mehr.

Aber der Horror dieses Tages trifft nicht nur New York. Um 9.37 Uhr wird eine Boeing 757, der American-Airlines-Flug 77, in den Südflügel des Pentagons gelenkt, den Hauptsitz des US-Verteidigungsministeriums bei Washington, D.C. Kurz darauf, um 10.03 Uhr, stürzt eine weitere Verkehrsmaschine, Flug 93 der United Airlines, bei Shanksville im Bundesstaat Pennsylvania auf einem Feld ab. Vermutlich sollte auch dieses Flugzeug Kurs auf die US-Hauptstadt nehmen. Dass es nicht dazu kam, hing wohl mit einem verzweifelten Kampf der Passagiere mit den Entführern zusammen. In der Folge dieses Tages steht nicht nur Amerika unter Schock, sondern nahezu die gesamte Welt.

Fachleute erkannten relativ schnell: Nur eine global operierende Terrororganisation konnte die Fähigkeiten besitzen, einen solch strategisch, operativ und logistisch perfekt geplanten Terroranschlag auszuführen. Bereits im Februar 1993 hatte es einen Versuch gegeben, das World Trade Center zu zerstören. Islamisten um den blinden Hassprediger Omar Abdel-Rahman hatten in der Tiefgarage eine heftige Explosion herbeigeführt. Sechs Menschen wurden getötet, über 1000 verletzt. Nur glückliche Umstände, die Statik des Gebäudes und die Schwäche der Bombe verhinderten, dass es schon damals zum Einsturz der Türme kam.

Internationaler Dschihad-Terrorismus

Die Botschaft der Terroranschläge des 11. September 2001, bis heute die spektakulärsten und vermutlich folgenreichsten der Geschichte, waren jedem kritischen Beobachter rasch klar: In New York sollten die Wirtschafts- und Nervenstränge der westlichen Führungsmacht USA getroffen werden; zudem zielten die Anschläge auf eine Megametropole der modernen Industriegesellschaft. In New York zeigte sich zum ersten Mal auch im Herzen der USA das Bild eines sich immer stärker profilierenden neuen Terrorismus islamistischer Prägung. Dieser wird von einer fanatischen Energie der Täter gespeist, welche die Lehren des Korans in ihrem Sinne zu einer politischen Ideologie militant-islamistischer Prägung umdeuten und interpretieren. Bestimmendes Motiv dieser Haltung ist ein tiefsitzender Hass auf "die westliche Welt" und ihre Gesellschaftssysteme. Der Hass zielt aber gleichermaßen auf jene muslimisch geprägten Staaten, die, wie Saudi-Arabien, mit dem Westen durch wirtschaftliche Interessen eng verbunden sind. Dieser Konstellation erklärten die Strategen des Terrors einen "Heiligen Krieg" (Dschihad), der künftig immer wieder als Rechtfertigung und Argumentationshilfe ihrer Aktionen dienen sollte.

Das Bild des internationalen Terrorismus gewann durch die Anschläge vom 11. September völlig neue Konturen. Der Dschihad-Terrorismus missbrauchte die Religion, der Terror gegen die "Ungläubigen" wurde zudem ideologisch als globale Strategie angelegt. Schon unmittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington zeichneten die US-Geheimdienste ein erstes Bild der Tatverdächtigen und Drahtzieher. Die Spur führte zum saudi-arabischen Multimillionär Osama bin Laden, der sich mit seinem Terrornetzwerk al-Qaida ("die Basis") in den Bergen Afghanistans unter dem Schutz der dort regierenden radikalislamischen Taliban verschanzt hatte. Er nahm zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem einen Spitzenplatz auf den Fahndungslisten vieler Nachrichtendienste ein. Vom pakistanischen Peschawar aus hatte Bin Laden in den 1980er Jahren den Kampf der afghanischen Mudschaheddin gegen die sowjetische Besatzung, den entstehenden "afghanischen Dschihad", mit Unmengen an Geld und Material unterstützt.

Im Zuge internationaler Großfahndungen wurde auch in Hamburg eine Al-Qaida-Zelle aufgedeckt. Als ihr Anführer gilt der damals 33-jährige Ägypter Mohammed Atta, der das erste Flugzeug ins World Trade Center steuerte. Er hatte lange Zeit in einer bürgerlichen Scheinlegalität gelebt und in Hamburg-Harburg studiert. Neben ihm waren weitere 18 Männer direkt an den Flugzeugentführungen beteiligt, 15 davon stammten wie Bin Laden aus Saudi-Arabien.

Nur knapp einen Monat nach den Anschlägen begann am 7. Oktober 2001 der US-geführte Angriff auf afghanische Al-Qaida-Stützpunkte. Die Nato hatte den Bündnisfall ausgerufen, und so konnte die US-Administration auf weltweite Solidarität und Unterstützung zählen, auch aus Deutschland. Die massive Offensive der USA und ihrer Verbündeten führte zwar zur Zerschlagung der Trainingsbasen der Bin-Laden-Truppe, auch wurde deren Schutzmacht, das Regime der Taliban, in diesem Antiterrorfeldzug beseitigt. Doch die Idee eines Dschihad gegen die westliche Führungsmacht und ihre Verbündeten wirkte weiter, und auch die Taliban blieben einflussreich. Osama bin Laden wurde erst ein Jahrzehnt später im pakistanischen Abbottabad aufgespürt und am 2. Mai 2012 durch eine US-Spezialeinheit getötet. Seine Hilfe für das sowjetisch besetzte Afghanistan haben ihm viele Menschen in der Region bis heute nicht vergessen, nicht wenigen gilt er als Held.

Von al-Qaida zum "Islamischen Staat"

Nach den Angriffen vom 11. September 2001 sprach der damalige US-Präsident George W. Bush vom "Krieg gegen den Terror". Ähnliche Worte wählte auch der französische Präsident François Hollande 14 Jahre später, nachdem islamistisch motivierte Terroristen am 13. November 2015 bei einer Anschlagsserie in und um Paris 130 Menschen getötet und über 680 Menschen verletzt hatten. Manchen Fachleuten geht die Rede vom "Krieg" allerdings zu weit, denn Terroristen sind gemeinhin keine Kombattanten im klassischen militärischen Sinne. Dennoch ist es "seit dem 11. September 2001 üblich geworden, von Krieg zu sprechen und auch tatsächlich Kriege zu führen". In der Praxis allerdings bedeutet das einen Wandel des herkömmlichen Kriegsbildes.

Dieser neue Typus kriegerischer Auseinandersetzung heißt in der Sprache der Militärexperten low intensity war; damit ist eine hybride oder auch asymmetrische Kriegführung gemeint. Darunter wird eine Konfrontation verstanden, die von nicht-staatlichen Gruppen oder Organisationen nach neuen Regeln sowie mit neuen Taktiken und Absichten ausgefochten wird. Die großen militärischen Konfrontationen des vergangenen Jahrhunderts mit "klassischer" Kriegführung zwischen Staaten sind demnach Auslaufmodelle. Den neuen Typus einer Kriegspartei repräsentieren Gruppen oder (Terror-)Kommandos vom Schlage der proiranischen Hisbollah im Libanon, der islamistischen Hamas im Gazastreifen, die Terrorkader al-Qaidas und des sogenannten Islamischen Staates (IS), um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Kommandos operieren nicht mit hochgerüsteten Armeen, sondern in kleinen flexiblen Einheiten, die mit zunehmend raffinierten taktischen Mitteln einen terroristischen Guerillakrieg aus dem Untergrund führen können. Punktuell sind diese Kommandos konventionell agierenden Streitkräften sogar überlegen.

Hinsichtlich Dynamik, Organisation und Fanatismus übertraf die von Bin Laden gegründete al-Qaida 2001 alle bis dahin bekannten Formen und Strukturen eines terroristischen Szenarios. Das Terrornetzwerk war dem Terrorismusforscher Rohan Gunaratna zufolge durch den US-geführten Einsatz in Afghanistan "fast schon vernichtend geschlagen", doch der Abzug von US-Eliteverbänden, die ab Frühjahr 2003 im Krieg gegen den Irak gebraucht wurden, erlaubte sein Überleben. Ein "schlimmer Fehler", so Gunaratna, denn der Krieg im Irak wirkte fortan als "Brandbeschleuniger des islamistischen Terrors".

Die von den USA geführte "Koalition der Willigen" begründete den Einmarsch in den Irak mit der falschen Behauptung, das Regime Saddam Husseins plane den baldigen Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Hussein war rasch besiegt, doch in den Wirren der Nachkriegszeit und insbesondere nach dem 2011 erfolgten Abzug des Großteils der US-Soldaten kam es zum Aufstieg des aus al-Qaida im Irak hervorgegangenen IS. Begünstigt durch den syrischen Bürgerkrieg und mit Hilfe früherer Spitzenmilitärs und Geheimdienstexperten des gestürzten irakischen Regimes gelang 2014 die Gründung des ersten "Terror-Staates" in der Geschichte. In der von IS-Kommandos eroberten nordirakischen Stadt Mossul rief ihr Führer Abu Bakr al-Baghdadi am 4. Juli während einer Freitagspredigt in einer Moschee das "Kalifat" aus. Durch diesen Schachzug übertraf der IS seine "Mutterorganisation" al-Qaida an Wirkung und Ausstrahlung. Besonders die in ihren Anfängen mit äußerster Härte und Brutalität durchgesetzte Eroberungstaktik im Irak und in Syrien wurde zum prägenden Merkmal dieser Terrorformation, die zeitweise eine Fläche von der Größe Großbritanniens kontrollierte.

Spätestens Ende des Jahres 2019 zerbrachen das "Kalifat" und seine Strukturen unter dem massiven Druck einer breiten internationalen Anti-IS-Koalition. Die militärische Niederlage der Terrormiliz sollte allerdings nicht zu der Annahme verleiten, der IS sei schon besiegt, denn aus ihr heraus erwuchs eine Art Mythos, der Glaube an eine vermeintliche staatliche Einheit, die für viele Anhänger des IS eine besondere Attraktivität besaß. In den Worten des Terrorismusforschers Bruce Hoffman: "Es ist eine Tatsache, dass der IS im westlichen Irak und in Syrien schwere Rückschläge erlitten hat. Aber eine Terrorgruppe schwer zu beschädigen, ist nicht dasselbe, wie ihre Ideologie zu untergraben oder ihre raison d’être zu zerstören. (…) Die Gruppe wird zu den terroristischen Operationen auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene zurückkehren, die in ihrer DNA verankert sind (…) Dass der Kern der extremistischen Ideologie des IS (…) in dieser Welt überlebt hat, zeugt von ihrer anhaltenden Anziehungskraft auf zumindest eine kleine Anzahl von Anhängern, die allerdings über eine unverhältnismäßige Fähigkeit verfügen, unschuldigen Menschen auf mehreren Kontinenten in großem Stil Schmerz und Leid zuzufügen."

Der 11.September als Impulsgeber

Die Anschläge vom 11. September 2001 haben letztlich nicht nur die weltpolitische Sicherheitsarchitektur verändert, sie haben auch den Blick und die Wahrnehmung vieler Menschen auf das Gewaltphänomen des Terrorismus islamistischer Prägung neu geschärft – und auch den Blick auf "den Islam" und "die Muslime". Dieses Thema erforderte und erfordert differenzierte Aufklärung; entsprechend waren und sind Islamwissenschaftler verstärkt gefragt, denn "viele Muslime in Deutschland und anderen westlichen Staaten fühlten sich plötzlich kollektiv unter Generalverdacht gestellt, und nicht wenige hielten sogar die Anschläge vom 11. September für eine ‚Verschwörung‘, ein ‚Fake‘ mit dem Ziel, den Islam und die Muslime in ein schlechtes Licht zu rücken."

In den Jahren nach 9/11 zeigte sich die Bedrohung durch islamistisch motivierten Terrorismus in ständig veränderten Formen. Mit dem Angriff auf die Twin Towers und das Pentagon hatte eine neue Ära des Terrorismus, das Zeitalter des Dschihad-Terrorismus, mit weltweiter Ausstrahlung begonnen. Zugleich hatte al-Qaida die Spur für Massenvernichtung durch Terroristen gelegt – und zwar ohne den auch bis dahin schon oft von Experten befürchteten Modus Operandi mittels nuklearer, biologischer oder chemischer Substanzen. Die Welt erlebte nach 2001 dennoch ein "Jahrzehnt des Terrorismus". Das Credo vom Kampf gegen die "Ungläubigen" pflanzte sich fort. Angriffsziele waren, wie von Bin Laden definiert, der "ferne Feind" – die USA, Israel, Europa – und der "nahe Feind", die prowestlichen arabischen Staaten. Letztere sollten allerdings erst in einem zweiten Schritt ins Fadenkreuz der islamistischen Krieger geraten. Ob in Madrid, Barcelona, London, Paris, Nizza, Brüssel oder Berlin – viel häufiger aber noch in Afghanistan, im Nahen Osten sowie in vielen asiatischen und afrikanischen Ländern: Seit 2001 verübten islamistisch motivierte Terroristen weltweit Tausende Anschläge mit Zigtausenden – vor allem muslimischen – Todesopfern. Außerhalb von Irak und Syrien zählte das australische Institute for Economics & Peace seit 2013 über 3000 terroristische Attacken allein von mit dem IS verbündeten Gruppen oder Einzeltätern. Islamistisch motivierter Terrorismus ist somit zu einem bestimmenden Faktor der globalen Politik geworden.

Die hohen Opferzahlen verraten, dass die Angriffe auf die wirtschaftspolitischen und militärischen Kraftzentren der USA vor 20 Jahren eine durchaus stimulierende und motivierende Ausstrahlung auf Terrorgruppen in aller Welt hatten. Die Faszination der Schläge ins Herz der westlichen Führungsmacht haben vielerorts junge Muslime und Konvertiten angezogen. Zwar ist inzwischen längst eine neue Generation von militanten Islamisten herangewachsen, die nicht mehr in Terrorcamps al-Qaidas oder des IS ausgebildet wurden, aber die Geschehnisse rund um den terroristischen "Super-GAU" von 2001 wirken als Vorbild nach – auch wenn sich die Terrorkommandos von heute an Bin Laden und die Gründungsväter al-Qaidas oft nur noch aus Überlieferungen erinnern.

Nationale und internationale Sicherheitsbehörden sind sich einerseits weitgehend einig, dass ein "zweiter 11. September" heute wohl kaum mehr in dieser Form realisierbar wäre. Der Anschlag bleibt möglicherweise ein singuläres Ereignis – nicht zuletzt aufgrund weltweit besserer Abwehrmechanismen und Aufklärungsergebnisse über extremistische Herausforderungen und ihre Akteure. Andererseits haben sich Vorgehensweise und Waffen islamistischer Terroristen im Grundsätzlichen nicht geändert. Wirk- und Tatmittel einer Terroroperation sind nach wie vor relativ simpel: Schusswaffen, Bomben und Sprengstoffgürtel sowie zunehmend auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Messer oder Fahrzeuge.

Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Terroristen durchaus daran arbeiten, Dramatik und Dimension des 11. September irgendwann noch zu übertreffen. So wurde beispielsweise im Juni 2018 in Köln ein IS-Anhänger festgenommen, der kurz davorstand, einen Anschlag mit hochgiftigem Rizin zu verüben. Das Bundeskriminalamt (BKA) sprach damals von einer "Bio-Bombe". Substanzen für den geplanten toxischen Angriff hatte sich der Täter über das Internet bestellt und die Bombe nach einer online veröffentlichten Anleitung selbst hergestellt.

Virtueller Dschihad

Das Kölner Ereignis zeigt, wie die weltweite Vernetzung und Digitalisierung heutigen Terroristen bei der operativen Planung in die Hände spielt. Vor allem der IS, der nach wie vor Ableger in aller Welt hat, nutzt dieses Instrumentarium. Wenn Terrorismus als eine Art Kommunikationsstrategie begriffen wird, dann steht seinen radikalen Akteuren im Digitalzeitalter ein perfekter Baukasten zur Verfügung, mit dem sich auch Niederlagen kompensieren lassen – wie es der militärisch geschlagene IS derzeit durch massive mediale Propaganda versucht.

Den Stellenwert digitaler Mittel für heutige Terroristen betont auch BKA-Präsident Holger Münch: "Der Einfluss der Digitalisierung ist im Bereich Terrorismus deutlich spürbar. (…) Terroristen kommunizieren beispielsweise über Messengerdienste in verschlüsselten Chats miteinander; ferner haben Terroristen, wie alle Kriminellen, heute die Möglichkeit, sich Waffen im Darknet zu besorgen oder auch andere Dienstleistungen von Cyberkriminellen einzukaufen – Stichwort: Crime as a Service." Social-Media-Kanäle und Messengerdienste wirken darüber hinaus als ideale Propagandaplattformen und "machtvolle interaktive Multiplikatoren".

Schon al-Qaida nutzte das Internet als operative Basis. Bereits 2005 schrieben Steve Coll und Susan Glasser von der "Washington Post": "Al-Qaida ist die erste Guerillabewegung der Geschichte, die aus dem physischen in den Cyberraum gewandert ist. Mit Laptops und DVDs, in geheimen Schlupfwinkeln und Internetcafés in der Nachbarschaft haben junge codeschreibende Dschihadisten versucht, die in Afghanistan verlorenen Trainings-, Kommunikations-, Planungs- und Predigt-Einrichtungen im Internet zu replizieren." Die digitalen Möglichkeiten sind seither nicht weniger geworden. Auch der ehemalige Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) Gerhard Conrad betonte 2019 als Leiter der EU-Nachrichtenabteilung die Bedeutung des Internets für die heutige Terroristen-Generation: "Spontantäter orientieren sich an der virtuellen Welt. Früher wurden sie ‚analog‘ inspiriert, etwa durch Prediger in einer Moschee oder anderen sozialen Treffpunkten. Heute passiert das oft im Cyberraum. Und im Extremfall lässt sich auch der Dschihad virtuell führen."

Eine Art Schlüsselereignis, das deutlich vor Augen führte, dass der Dschihad inzwischen auch im Netz geführt wird, war der Hackerangriff auf den französischen Sender TV5 Monde am 9./10. April 2015. Hacker eines selbsternannten "Cyber-Kalifats" hatten damals den Sendebetrieb stundenlang lahmgelegt und auf den Internetseiten des Senders IS-Propaganda platziert. Für den militärisch geschlagenen IS und seine Restkader bieten die heutigen digitalen Möglichkeiten eine einzigartige Chance, als "asymmetrisches Terrornetzwerk" fortzubestehen, unterstreicht auch Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang: "Während er zukünftig in der Realwelt deutlich konspirativer agieren muss, kann er seine Propaganda im Cyberraum unbegrenzt fortsetzen und weiter verbreiten." In der "realen Welt" werden al-Qaida und der IS vor allem dort weiter existieren, wo staatliche Autorität und Kontrolle fehlen – in erster Linie also in Regionen Afrikas, im Nahen Osten und in Südostasien.

Was folgt auf den 11. September 2021?

Das Datum ist symbolträchtig: Bis zum 11. September 2021 sollen die letzten US-Truppen und ihre Verbündeten, auch die Bundeswehr, Afghanistan verlassen. Damit beendet US-Präsident Joe Biden den längsten Krieg, den Amerika je geführt hat. Sein Vorgänger Donald Trump hatte mit den Taliban den Abzug bereits zum 1. Mai 2021 vereinbart. Doch dieser Termin war nach dem Regierungswechsel in den USA nicht zu halten. Außerdem hatten Trumps Verhandlungsführer sich von den Taliban dahingehend diplomatisch ausmanövrieren lassen, dass die USA zusagten, vollständig abzuziehen, noch bevor eine innerafghanische Friedenslösung unter Einbeziehung der Taliban formuliert und ausgehandelt ist. Das ist bisher nicht geschehen, "und so verweigern die Islamisten der afghanischen Regierung nun konsequent jedes Zugeständnis". Daher beschleicht bereits jetzt viele Afghanen ein ungutes Gefühl, dass positive Entwicklungen, zum Beispiel im Schul- und Bildungswesen, durch die Rückkehr der Taliban an die Macht zunichte gemacht werden.

Sicherheitsexperten weltweit beschäftigt zudem die Frage: Wird Afghanistan wieder zu einem "Biotop" des islamistischen Terrorismus wie vor 20 Jahren? Deutschland hat den Feldzug der USA gegen al-Qaida am Hindukusch zwar unterstützt, ist im Kontext des Krieges und islamistischer Terroroffensiven im Gegensatz zu Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder Belgien bislang aber von einer Folge schwerer Terrorangriffe weitgehend verschont geblieben. Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, bei dem 12 Menschen getötet wurden, war die bisher folgenreichste Terroraktion.

Während sich in der Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsbehörden immer wieder Defizite auftun und die Kooperation und Kommunikation mitunter ambivalent ist, sind die deutschen Sicherheitsbehörden mit ihren Systemen insgesamt gut aufgestellt. Länder- und Bundesbehörden, besonders BKA, Verfassungsschutz, BND und Generalbundesanwaltschaft, haben seit dem 11. September 2001 ihre Sensoren immer weiter geschärft und den aktuellen Verhältnissen angepasst. Mehr als ein Dutzend geplanter Anschläge durch militante Islamisten wurde verhindert. Dennoch ist die Gefahr islamistischer Anschläge permanent vorhanden. Die Behörden stufen daher diese Form des Terrorismus neben Rechts- und Linksterrorismus nach wie vor als eine der größten Bedrohungen für die Sicherheit ein. Ein Augenmerk der Sicherheitsbehörden liegt dabei auch auf Rückkehrern aus dem ehemaligen Herrschaftsgebiet des IS. Seit 2012 waren über 1070 Islamisten aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak gereist, um den Kampf des "Kalifats" zu unterstützen. Dem BKA lagen Anfang 2021 Erkenntnisse über 148 in Deutschland lebende Rückkehrer vor, davon schätzte es 78 als islamistische "Gefährder" und 64 als "Relevante Personen" ein.

Neben polizeilichen Abwehrmaßnahmen haben manche Bundesländer auch Präventionsmaßnahmen gegen das Abgleiten junger Menschen in die militant-islamistische Szene aufgelegt. Programme wie "Wegweiser" in Nordrhein-Westfalen sollen dazu dienen, "einen Ausstieg vor dem Einstieg" anzubieten. Sorge bereitet manchen Staatsschützern nach dem territorialen Niedergang des IS nämlich die Verlagerung islamistischer Aktivitäten aus dem öffentlichen Raum ins konspirative private Milieu. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes mittlerweile um die hundert salafistische Familien, in denen vor allem Frauen eine abgeschottete Parallelwelt aufbauen, um ihre Kinder von klein auf zu indoktrinieren. Schon seit Längerem werden in sozialen Netzwerken islamistische Filme, Hörbücher und "kindgerechte" Lektüre angeboten. Burkhard Freier, der Leiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, sieht in dieser Entwicklung "das Entstehen einer neuen Generation von Salafisten, die ideologisch noch viel tiefer verwurzelt ist als die Generation ihrer Eltern".

Der Blick auf den 11. September vor 20 Jahren lässt unter dem Aspekt der Terrors und seiner Bekämpfung folgendes Fazit zu: Es gibt zwar keinen Königsweg zur Lösung dieser komplexen Herausforderung. Wohl aber – von Staat zu Staat unterschiedlich – auf die jeweilige spezifische lokale Situation abgestimmte Maßnahmen. Dazu zählen neben der entsprechenden Aufklärung über den potenziellen Gegner und der hinreichenden personellen und technischen Ausstattung der Sicherheitsbehörden das Grundprinzip, dass die Bekämpfung der Bedrohung immer auf der Basis des Rechtsstaats zu erfolgen hat, wenngleich dies international oft nicht immer gegeben ist. Der Herausforderung durch den Terrorismus, gleich welcher Spielart, begegnet BKA-Präsident Münch gleichsam selbstbewusst wie realistisch: "Wir sind in der Lage, terroristische Bedrohungen zu erkennen und zu bekämpfen – dennoch werden wir nicht immer alle Anschläge verhindern können."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu den Ereignissen vgl. Stefan Aust/Cordt Schnibben (Hrsg.), Der 11. September. Geschichte eines Terrorangriffs, Hamburg 2002; Lawrence Wright, Der Tod wird euch finden. Al-Qaida und der Weg zum 11. September, München 2006.

  2. Vgl. Kai Hirschmann, Terrorismus in neuen Dimensionen, in: APuZ 51/2001, S. 7–15.

  3. Vgl. Peter Heine, Terror in Allahs Namen. Hintergründe der globalen islamistischen Gewalt, Freiburg/Br. 2015, S. 22ff.

  4. Zu Bin Laden in Afghanistan vgl. Peter L. Bergen, Heiliger Krieg Inc., Osama bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001, S. 59ff.

  5. Vgl. Rolf Tophoven, Islamistische Netzwerkstrukturen in Deutschland, in: Kai Hirschmann/Christian Leggemann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus. Strategien und Handlungserfordernisse in Deutschland, Berlin 2003, S. 101ff.

  6. Gespräche des Autors mit Al-Qaida-Sympathisanten in Koranschulen im pakistanischen Peschawar, 2005/06.

  7. Herfried Münkler, Nach dem Angriff, in: Welt am Sonntag, 28.4.2019, S. 11.

  8. Gespräch des Autors mit Rohan Gunaratna von der Nanyang Technology University Singapur im September 2003 auf einer Konferenz in Herzlia, Israel.

  9. Vgl. Guido Steinberg, Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror, München 2015; Christoph Reuter, Die schwarze Macht. Der "Islamische Staat" und die Strategen des Terrors, München 2015.

  10. Bruce Hoffman, ISIS’ Shifting Focus, 23.4.2019, Externer Link: http://www.thecipherbrief.com/column_article/isis-shifting-focus. Vgl. auch Yassin Musharbash, Sie sind nicht tot, in: Die Zeit, 28.2.2019, S. 12.

  11. Klaus Hummel/Andreas Rieck, Salafismus, Islamismus und islamistischer Terrorismus, in: Brahim Ben Slama/Uwe E. Kemmesies (Hrsg.), Handbuch Extremismusprävention, Bundeskriminalamt, Wiesbaden 2020, S. 87–112, hier S. 96.

  12. Vgl. Kai Hirschmann/Rolf Tophoven, Das Jahrzehnt des Terrorismus, Essen 2010.

  13. Vgl. Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind. Das Netzwerk des islamistischen Terrorismus, München 2005.

  14. Die "Welt am Sonntag" stellte 2019 eine Liste zusammen, laut der seit 2001 allein 3071 Anschläge mit zwölf oder mehr Todesopfern verübt wurden, insgesamt wurden demnach über 95000 Menschen ermordet. Vgl. Welt am Sonntag, 28.4.2019, S. 12f.

  15. Vgl. Institute for Economics & Peace, Global Terrorism Index 2020, November 2020, S. 5, Externer Link: http://www.economicsandpeace.org/wp-content/uploads/2020/11/GTI-2020-web-2.pdf.

  16. Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 20052.

  17. Gespräch des Autors mit Holger Münch, 18.7.2019.

  18. Hummel/Rieck (Anm. 11), S. 96.

  19. Steve Coll/Susan Glasser, Terrorists Turn to the Web as Base of Operations, in: Washington Post, 7.8.2005, S. 10.

  20. "Der Dschihad lässt sich auch virtuell führen", Gerhard Conrad im Interview mit Christoph B. Schiltz, in: Welt am Sonntag, 6.5.2018, S. 8.

  21. Vgl. Rolf Tophoven/H.-Daniel Holz, Der "Islamische Staat": Geschlagen – nicht besiegt, Bonn 2020, S. 57f.

  22. Rede von BfV-Präsident Thomas Haldenwang auf dem 22. Europäischen Polizeikongress in Berlin, 20.2.2019, Externer Link: http://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/reden/DE/2019/rede-haldenwang-europaeischer-polizeikongress.html.

  23. Tobias Matern, Der Krieg bleibt, in: Süddeutsche Zeitung, 15.4.2021, S. 4.

  24. Vgl. Carter Malkasian, The Taliban Are Ready to Exploit America’s Exit, 14.4.2021, Externer Link: http://www.foreignaffairs.com/articles/afghanistan/2021-04-14/taliban-are-ready-exploit-americas-exit.

  25. Zur Terrorabwehr in Deutschland und Europa vgl. Tophoven/Holz (Anm. 21), S. 101ff.

  26. Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2020, Berlin 2021.

  27. Vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache 19/26668, 12.2.2021, S. 2, S. 9f.

  28. Vgl. Tophoven/Holz (Anm. 21), S. 111ff.

  29. Gespräch des Autors mit Burkhard Freier, 7.2.2019.

  30. Gespräch des Autors mit Holger Münch, 18.7.2019.

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leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkte seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.
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