Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 sah es für kurze Zeit danach aus, als würde die Weltgeschichte eine versöhnliche Wendung im "westlichen" Sinn nehmen. Der erste nicht-weiße Präsident der USA, Barack Obama, hatte rhetorisch mit dem außenpolitischen Stil seines Vorgängers George W. Bush gebrochen. Das euro-amerikanische Verhältnis konsolidierte sich. Die große Finanzkrise, die 2007 in den USA begonnen und bald auch den Euro-Raum erfasst hatte, war zwar noch nicht überstanden, hatte jedoch ihren Zenit überschritten, ohne das weltweite Finanzgefüge oder den Euro zerbrechen zu lassen.
Eine deutliche Aufstockung der westlichen Truppen in Afghanistan auf 100000 Mann zeigte Erfolge und zwang die Taliban, die nach 9/11 nur kurzzeitig vertrieben worden waren, wieder in die Defensive. Mit einer innovativen Counter-Insurgency-Strategie gelang es den Amerikanern, die Sicherheit im Irak, den die US-geführte Invasion nach 2003 destabilisiert hatte, vorläufig wiederherzustellen. Und mit Iran zeichnete sich ein Weg für Atomverhandlungen und die Aufhebung der Sanktionen ab. Sogar Osama bin Laden, der Drahtzieher der Anschläge von 9/11, war endlich aufgespürt worden. Er wurde Anfang Mai 2011 von einem amerikanischen Einsatzkommando in seinem Haus in Abbottabad in Pakistan erschossen – trotz der Möglichkeit, ihn lebend festzunehmen.
Zudem kam es zum Jahreswechsel 2010/11, ausgehend von Tunesien, in der arabischen Welt zu Aufständen gegen Regime, die seit vielen Jahrzehnten an der Macht gewesen waren. Die aggressive amerikanische Nahostpolitik der Bush-Ära hatte nach 2001 in Afghanistan und im Irak auf gewaltsamen Umsturz, auf Liberalisierung und Demokratisierung von außen gesetzt. Nun forderten die Araber von sich aus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein und erfüllten damit – scheinbar – die westlichen Erwartungen. 2011 wurde damit das große Jahr des Aufbruchs und der Hoffnung. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten viele westliche Entscheidungsträger geglaubt, es folge eine kontinuierliche globale Entwicklung hin zu Freiheit und Demokratie. Die Geschichte lief, wie es im euro-atlantischen Raum vorausgesagt worden war: Eines Tages würden alle "wie wir" werden, wie "der Westen" selbst. Dies jedenfalls war die breit rezipierte These des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama in seinem Buch "Das Ende der Geschichte".
Die arabischen Revolutionäre der ersten Stunde, jung, technikaffin, kreativ, euro-amerikanisch gebildet, schrieben sich Ideale auf die Fahne, die viele im transatlantischen Raum der arabisch-islamischen Welt zwar nahegelegt, ihr aber zugleich kaum zugetraut hatten: Menschenwürde, politische Teilhabe, Freiheit von Diktatur und Unterdrückung, Selbstbestimmung und Demokratie. Einen beträchtlichen Beitrag zu diesem Aufbruch leisteten die medialen Entwicklungen des Jahrzehnts davor. Der TV-Sender Al-Jazeera aus Qatar, wegen seiner populistischen, die Berührung mit dem dschihadistischen Islam nicht scheuenden Ausrichtung oft in die Kritik geraten – er hatte unter anderem die Videobotschaften Bin Ladens ausgestrahlt –, trug die von der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 ausgelöste tunesische Revolution in die Wohnzimmer aller arabischen Länder.
Bereits nach wenigen Wochen waren die ersten Despoten gestürzt: Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten. Andere, wie Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ali Abdalah Saleh im Jemen, gerieten ins Wanken, und bald war klar, dass auch Baschar al-Assad in Syrien mit einem Volksaufstand zu kämpfen hatte, der von den Großstädten Homs und Hama in Mittelsyrien getragen wurde. Damit waren die ältesten und am längsten an der Macht befindlichen Herrscher beziehungsweise Herrscherfamilien beseitigt oder stark angeschlagen. Weitere zehn Jahre später, im Sommer 2021, ist Assad der einzige, der noch am Leben und im Amt ist – einem Amt freilich, das am seidenen Faden russischer und iranischer Unterstützung hängt.
Außenpolitisches Ende
Der Austausch der Köpfe und Gesichter der Macht – seit 2019 auch im Sudan und in Algerien – ist den Revolutionären damit fast überall gelungen. Vordergründig betrachtet, ist das keine schlechte Bilanz. Die alten Strukturen konnten sie jedoch nicht nachhaltig aufbrechen. Wo dies zu gelingen schien, kam es zum Bürgerkrieg, etwa in Libyen, Syrien und im Jemen. Die kurzzeitige Aufbruchstimmung wurde damit von neuen und größeren Krisen abgelöst, die an die mit 9/11 beginnenden Destabilisierungen und Kriege anknüpften und den Terror auch nach Europa trugen, nunmehr in Gestalt von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates (IS). Die Hoffnung, dass sich die "Verwestlichungsgeschichte" Osteuropas nach 1989 in der arabischen Welt wiederholen und damit auf einen weiteren Weltteil erstrecken würde, starb mit der Konterrevolution in Ägypten 2013 und der gleichzeitigen Internationalisierung des Konflikts in Syrien, die bis heute andauert.
In den arabischen Revolutionen entlud sich unter anderem die Wut über die politische Stagnation, die seit 2001 eingetreten war, wenn nicht bereits seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der für viele der mit ihr verbündeten arabischen Länder und Regime eine massive Umorientierung zur Folge hatte. Hatten Europa und die USA lange die Taktik verfolgt, die politische Lage und den dschihadistischen Terrorismus in der arabischen Welt durch Sicherheitskooperation mit den Regimen unter Kontrolle zu halten, so scheiterte dieser Ansatz mit den Revolutionen von 2011. Wo demokratische Wahlen stattfanden – in Tunesien und Ägypten –, gingen islamistische Kräfte als Sieger hervor, vor allem die Muslimbrüder. Wo die Revolte in den offenen Bürgerkrieg abglitt, gewannen islamistische Kräfte die Oberhand, die oft weit radikaler waren als die Muslimbrüder. Auch sonst waren es ausgerechnet die alten, eingefleischten Gegner der USA oder "des Westens", die das Machtvakuum ausnutzten, das die USA erst im Irak, dann durch Obamas Nichteinmischungspolitik in Syrien geschaffen hatten: Russland und Iran gingen dabei auf der Seite Assads allen voran.
Der dschihadistische Islam, der schon für den 9/11-Terrorismus verantwortlich war, eroberte in Gestalt des IS, der aus Bin Ladens al-Qaida im Irak hervorgegangen war, im Nordirak und im Grenzgebiet zu Syrien weiträumige Gebiete: Zum ersten Mal seit 9/11 und dem Sturz der Taliban in Afghanistan kontrollierten nun dezidiert antiwestliche Dschihadisten ein großräumiges Territorium. Wenn man ihrer Propaganda glauben wollte, hatten sie gar einen eigenen Staat. Mit den davon – und durch Assads Krieg gegen die eigene Bevölkerung – ausgelösten Fluchtbewegungen und einer neuen, vom IS ausgehenden Welle des Terrorismus in einem für Europa, insbesondere für Frankreich, ungeahnten Ausmaß manifestierte sich der weitgehende Kontrollverlust westlicher Mächte über die Entwicklung in der MENA-Region (Middle East and North Africa) nach 9/11.
Mit Hilfe kurdischer Bodentruppen und eines schweren und rücksichtslosen Bombardements der vom IS besetzten irakischen Metropole Mossul durch Kampfflugzeuge der Anti-IS-Koalition gelang es zwar 2017, den IS zu schlagen. Die weitere Entwicklung dort entzieht sich aber nach wie vor der westlichen Kontrolle – ganz wie in Afghanistan, wo das sang- und klanglose Verschwinden "des Westens", also sein Ende als außenpolitisch zu verbreitendes Konzept für andere Gesellschaften, mit dem geplanten Abzug aller Truppen bis September 2021 symbolisch besiegelt wird: Es ist trotz zwischenzeitlich großem Engagement und hoher militärischer Präsenz nicht gelungen, die Entwicklungen im Land so zu steuern, wie man es sich nach 9/11 erhofft hatte, nämlich einen funktionierenden afghanischen Staat aufzubauen, in dem Terroristen und Dschihadisten keine Heimat mehr haben würden. Stattdessen wird Kabul bis heute fast jede Woche von Terroranschlägen heimgesucht, die sich zumeist gegen Zivilisten richten und über die in westlichen Medien kaum noch berichtet wird. Die Feinde der USA in Afghanistan, die Taliban, werden nach dem Abzug westlicher Truppen, der spätestens zum 20. Jahrestag von 9/11 abgeschlossen sein soll, die stärkste Macht im Lande sein und seine Zukunft entscheidend mitbestimmen.
Seit Napoleon mit seinem Ägyptenfeldzug von 1798 die europäische Vormachtstellung im Nahen und Mittleren Osten in die Wege geleitet hatte, waren Europa und die USA, im Volksmund also "der Westen", den Entwicklungen in dieser Region nicht mehr derartig machtlos ausgeliefert. Stattdessen geben dort inzwischen andere Kräfte den Takt und das Tempo der Entwicklung vor: Russland, die Türkei, die arabischen Golfemirate, Saudi-Arabien, Israel, Iran – Staaten, die man in den 1990er Jahren entweder als irrelevant abgeschrieben hatte, stetig nach Westen hin konvergieren sah oder von denen man glaubte, sie kontrollieren zu können.
Das außenpolitische Ende des Westens manifestiert sich also am Scheitern seines Anspruchs, wie er nach dem Ende des Kalten Krieges formuliert worden war, den Lauf der politischen Entwicklung auch und besonders in der MENA-Region entscheidend mitzubestimmen. Mit dem machtpolitischen Scheitern der "transatlantischen Wertegemeinschaft" ausgerechnet in dem geopolitischen Raum, von dem die Terroranschläge vom 11. September 2001 ausgegangen waren, sind für nüchterne Beobachterinnen und Beobachter daher auch die damit verknüpften politischen und weltanschaulichen Theorien des Westens und folglich sein Selbstverständnis insgesamt obsolet geworden. Die Ursache dafür liegt allerdings nicht allein in den politischen Entwicklungen, sondern ebenso in den nach 1989 entstandenen verengten und problematischen Definitionen dieses Westens.
Grenzen des westlichen Selbstbildes nach 1989
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der kommunistischen Systeme in Osteuropa hatte eine Neuausrichtung, ja Neudefinition "des Westens" notwendig gemacht. Dieser hatte sich bis dahin vornehmlich als freiheitliches Gegenmodell zu den als totalitär erfahrenen kommunistischen Staaten des Warschauer Paktes definiert. Im Rahmen dieser Definition blieb während des Kalten Krieges die Frage ungeklärt, was der mögliche, damals nicht absehbare Wegfall der kommunistischen Bedrohung für das Selbstverständnis und die zukünftigen politischen Schwerpunkte des Westens bedeuten würde, wenn es den Ostblock nicht mehr gäbe.
Würde dieser Westen auch ohne das Gegenbild und den politischen Druck des Sozialismus noch auf soziale Belange und Demokratie im Sinn von Gleichheit und Solidarität Rücksicht nehmen? Würde die westliche Außenpolitik weiterhin der einstigen Logik der Blockbildung folgen, also der Logik imperialer Hegemonie ohne Rücksicht auf Menschenrechte oder globale Gerechtigkeit, wie sie es stets getan hatte, indem sie verbündete diktatorische Systeme überall auf der Welt stützte? Oder würde nun eine Ära von Solidarität, Gleichheit und Freiheit anbrechen? Diese in der Aufklärung und im Zeitalter der Revolutionen in Europa und den USA gewonnenen politischen Wertvorstellungen und Ideale wurden zwar nie konsequent umgesetzt, aber man hatte sie vor 1989 auch nie wirklich aus den Augen verloren.
In gewisser Hinsicht konnte man die Spaltung des hochindustrialisierten globalen Nordens in Ost und West während des Kalten Krieges auch als Aufspaltung der politischen Ideen "des Westens" selbst in zwei konkurrierende Blöcke verstehen: Die westliche Seite betonte aus der bekannten Parole der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" vor allem den Wert der (politischen, wirtschaftlichen und medialen) Freiheit. Die östliche Seite hingegen betonte die (soziale, aber auch ethnisch-nationale) Gleichheit. Dagegen blieb die Brüderlichkeit die Domäne des vom Faschismus diskreditierten Nationalismus, der sich in unterschiedlichen Verwässerungsstufen in beiden Blöcken fand. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte nun aber nicht dazu, die zwischen Ost und West aufgespaltenen "westlichen" Werte wieder zusammenzuführen, sondern bewirkte eine bis dahin ungeahnte Radikalisierung des Leitbegriffs der Freiheit auf Kosten von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, national wie global. Die 1990er Jahre waren das Jahrzehnt der Neoliberalisierung, die auch und gerade von (sozial-)demokratischen Regierungen verfolgt wurde.
Diese Entwicklung spiegelten und theoretisierten zwei viel diskutierte politikwissenschaftliche Großtheorien: die bereits erwähnte vom "Ende der Geschichte" von Fukuyama und diejenige vom "Kampf der Kulturen" von Samuel Huntington, der Fukuyamas These ablehnte und stattdessen davon ausging, dass künftig nicht mehr die Konkurrenz von Ideologien, sondern von Kulturkreisen den Lauf der Welt bestimmen würde.
Während die politische Entwicklung in den 1990er Jahren der Geschichtsdeutung von Fukuyama Recht zu geben schien und die Welt sich zunehmend zum (neo-)liberalen, westlichen Modell hin orientierte – oder unter ökonomischer Isolation zu dieser Orientierung gezwungen werden sollte –, schien sich mit dem Terror von 9/11 die Theorie Huntingtons zu bewahrheiten: Der aus einem politisch radikalisierten Islamverständnis motivierte Massenmord in New York und Washington setzte den "Clash of Civilizations" in ein erschreckendes, weltweit übertragenes Bild.
Jenseits dieses doppelten neoliberal-konservativen Frames blieb die Idee "des Westens" jedoch eine Chimäre, in die jede und jeder hineinprojizieren konnte, was ihm oder ihr gefiel. Die eigentlichen Probleme der Welt, vor allem die globale Ungleichheit und die Klima- und Umweltkrise kamen in einer verengten politischen Agenda nicht in den Blick, die vornehmlich auf das verführerische Schlagwort der Freiheit setzte und in ihrem Gefolge die politische, wirtschaftliche und kulturelle Hegemonie des Westens durchzusetzen suchte.
Mit den nach 9/11 nochmals verstärkten militärischen, außenpolitischen und weltwirtschaftlichen Überwältigungsstrategien, deren Eckpfeiler in Gestalt der Welthandelsorganisation in den 1990er Jahren trotz zahlreicher Proteste eingerammt worden waren, konnte dieser Westen zwar einen globalen Machtanspruch, jedoch keine universalistischen, kosmopolitischen Wertvorstellungen mehr geltend machen. Er verkümmerte zur Wertegemeinschaft seiner selbst, offen fast nur noch für die, die sich seinen Leitvorstellungen unterwarfen beziehungsweise die nötigen Ressourcen hatten, um überhaupt nach den westlichen Spielregeln mitspielen zu können – die ölreichen Golfstaaten, aus denen die meisten Attentäter von 9/11 rekrutiert wurden, zählen dazu.
Alternative politische oder kulturelle Vorstellungswelten benötigte dieser Westen vor allem als Objekt seines Handelns oder zur abgrenzenden Selbstdefinition. Zweifel kamen allenfalls in marginalisierten und medial gut eingehegten akademischen, literarischen oder künstlerischen Räumen zum Ausdruck. Seit 1989 gab es kein politisches Gegenmodell mehr, welches, wie einst der Sozialismus oder der Faschismus, das Selbstverständnis des Westens innerhalb der von ihm kontrollierten Sphäre zu untergraben drohte. Zwar versuchte der politisch radikalisierte Islam, sich in Gestalt von al-Qaida und des IS als Gegenmacht in Stellung zu bringen. Er wurde im Westen auch vielfach als eine solche gefährliche Gegenmacht betrachtet. Der politisierte, dschihadistische "Islam" erklärte jedoch im selben Moment aufgrund der menschenverachtenden Mittel, die er einsetzte, seinen moralischen Bankrott und seine Unglaubwürdigkeit. Auch und besonders der politische Islam ist damit als Alternative zum Westen gescheitert.
Allerdings hat im Kampf gegen ihn, anders als im Kampf gegen den Kommunismus, auch der Westen seine Glaubwürdigkeit als globales Orientierungsmodell verspielt. Eine Folge dieses Scheiterns war der Aufstieg des Trumpismus in den USA und anderer Formen des Rechtspopulismus in Europa. Auch sie dürfen als Nachfolgeideologien des Westens gelten und setzen sich diesem entgegen. Die Zukunft der rechtspopulistischen Bewegungen mag ungewiss sein, doch ihr Aufkommen im Herzen der westlichen Welt ist ein starkes Indiz für das Ende "des Westens", wie wir ihn kannten.
Das gegenwärtig verbreitete Jammern über den Aufstieg Chinas
Innenpolitischer Zerfall
Charakteristisch für die Entwicklung nach 9/11 sind aber nicht nur der massive außenpolitische Kontrollverlust des Westens und die gesteigerte Instabilität in der islamischen Welt, die sich unter anderem in Form von Terror oder der Migration in Europa auswirkt, sondern auch die politischen Verwerfungen im Westen selbst. Diese gehen mit einer im Vergleich zu den 1990er Jahren veränderten, gegenwärtig heftig umkämpften Eigenwahrnehmung einher, die einem Bick in einen zersplitterten Spiegel ähnelt: Ein auch nur halbwegs geschlossenes Bild zeigt "der Westen" jedenfalls nicht mehr.
Mitverantwortlich dafür sind der seit 9/11 kontinuierlich gewachsene Rechtspopulismus mit beunruhigenden Schnittstellen in die "gesellschaftliche Mitte", das unverminderte Fortwirken eines bislang kaum aufgearbeiteten, spezifisch westlichen (euro-amerikanischen) "weißen" Rassismus und das Aufkommen eines globalisierten Rechtsterrorismus mit entschieden antiislamischer Ausrichtung. Diese Entwicklungen im Inneren der nordatlantischen Gesellschaften, die die hässliche Seite der vom Kolonialzeitalter geprägten Textur des Westens deutlich hervortreten lassen, sind nicht von den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu trennen, haben diese doch das Verhältnis des Westens zur Welt, zu sich selbst und zu seinen Einwanderern auf den Prüfstein gestellt.
Diese Befragung ist eine Folge des nach 9/11 rasch einsetzenden Regierungshandelns, als die Bush-Administration beschloss, die Genfer Konvention zu ignorieren und eine neue, nämlich rechtlose Kategorie Kriegsgefangener zu schaffen, die "feindlichen Kämpfer". Diese wurden in Guantanamo, einer gepachteten Enklave auf Kuba, also auf rechtsfreiem nicht-amerikanischem Territorium, ohne Gerichtsverfahren gefangen gehalten. Auch das Folterverbot, eine zentrale Errungenschaft des vom Westen bis dahin vorangetriebenen Menschenrechtsdiskurses, wurde in den USA ausgesetzt oder relativiert. Weitere rechtsfreie, für Willkür offene Räume entstanden erwiesenermaßen in Gefängnissen und Gefangenenlagern im Irak und kooperierender Staaten, von denen man wusste, dass sie die üblichen euro-amerikanischen Standards nicht einhielten, und wohin Gefangene überstellt wurden, um sie dort "besonderen Verhörmethoden" zu unterziehen.
Zur selben Kategorie der Entrechtung – und damit Entrechtlichung der Machtausübung des Westens – zählt die Ausweitung sogenannter extralegaler Hinrichtungen, das heißt ohne Prozesse oder andere nachvollziehbare Verfahren, vor allem mit ferngesteuerten Waffensystemen. Auch die Ermordung Bin Ladens kam einer Aussetzung rechtsstaatlicher Verfahren gleich. Der Wunsch der USA, mit dem Kapitel 9/11 auf diese Weise zügig abzuschließen, statt Bin Laden vor Gericht zu bringen und es auf einen langwierigen Prozess ankommen zu lassen, war emotional und womöglich auch sicherheitspolitisch nachvollziehbar. Gleichwohl widersprach er Grundprinzipien "westlicher" Rechtsauffassung. Der so häufig nicht-westlichen Ländern gemachte Vorwurf willkürlicher Verfahren und Verurteilungen konnte nun vollkommen zu Recht dem Westen selbst gemacht werden.
Neben der Aushöhlung der eigenen Werte und Glaubwürdigkeit lässt sich seit 9/11 in Europa und Nordamerika eine neue politische Lagerbildung beobachten, die schließlich zu verschiedenen Brüchen innerhalb des Westens geführt hat. Hierzu zählt etwa der transatlantische Riss, der sich im Vorfeld und während des Irak-Krieges 2003 durch die von der Bush-Regierung vorgenommene Einteilung in kriegswillige "neue" und sich dem Krieg verweigernde "alte" Europäer auftat. Dieser unter Obama nur oberflächlich gekittete Spalt weitete sich unter Trump zu einem tiefen Graben. Auch wenn mit Joe Biden als US-Präsident neuerdings Aussicht auf Besserung besteht, plagen den Westen zahlreiche weitere Brüche – allein in Bezug auf Europa seien nur der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, die Uneinigkeit der EU in Migrationsfragen oder die unterschiedlichen Auffassungen über die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn genannt.
Im Ergebnis führen Brüche wie diese dazu, dass sich der Huntington’sche Clash inzwischen nicht mehr zwischen dem Westen und anderen Kulturkreisen abspielt, sondern vielmehr innerhalb dieses (einstigen) Westens selbst, wovon auch die heftige Debattenlage auf den Themenfeldern Rassismus, Kolonialismus und Identitätspolitik zeugt. Angesichts dieser Entwicklungen wie selbstverständlich von "dem Westen" zu reden, läuft darauf hinaus, die genannten Probleme und Krisen für unwesentlich zu erklären und sie für das Selbstbild und die politische Orientierung der nordatlantischen Gesellschaften als nachrangig zu erachten. Eine solch abwehrende Haltung wäre jedoch selbst wie ein schwerwiegender politischer Eingriff und hätte zur Folge, dass die angedeuteten Probleme, nachdem man sie kleingeredet hat, erst recht aus dem Blick geraten. Mit einer solchen Blindheit für fundamentale Probleme nicht nur im Westen, sondern im Konzept "des Westens" selbst, laufen Europa und die USA Gefahr, sich den Weg in die Zukunft zu versperren.
Auf die eine oder andere Weise wird diese Zukunft unweigerlich eine jenseits dieses Westens sein: entweder eine verbarrikadierte, reaktionäre, die sich an einer vergangenen, mit Kolonialismus und Rassismus erkauften Größe und folglich nicht mehr an universellen, aufklärerischen Werten orientiert – oder eine global zugewandte, progressive, kosmopolitische, die entsprechende Werte nicht mehr als spezifisch "westliche", sondern als solche der Welt und der Menschheit insgesamt zu begreifen gelernt hat.
Nach dem Ende "des Westens"
Das Ende eines "Westens", der es nach 9/11 nicht geschafft als, aus dem Schatten der Erbmasse von Kolonialismus und Imperialismus hinauszutreten, ist eine positive Nachricht und weist keine Gemeinsamkeiten mit einem als bedrohlich empfundenen und dargestellten "Untergang des Abendlandes" auf (Oswald Spengler, 1918), wie er auch heute noch regelmäßig heraufbeschworen wird. Gewiss: Die zurückliegenden 20 Jahre sind verlorene Jahre gewesen, Jahre der verpassten Chancen. Aber den Krieg, den die Kulturkämpfer auf beiden Seiten der eingebildeten Front "des Westens" und "des Islams" angezettelt haben, endete mit ihrer Niederlage, ihrer Entzauberung. Die Welt hat sich weder im Sinn der einen noch der anderen geordnet, und es scheint absehbar, dass dies auch in Zukunft nicht geschehen wird.
Die Entzauberung und damit das Ende einer glaubwürdigen Idee "des Westens" nach 9/11 heißt, dass all diejenigen Kräfte, die ihn zur Zukunft der Welt machen und die Welt verwestlichen wollten, 20 Jahre nach 9/11 gescheitert sind. Wenn aber jede globale Hegemonie ihrer Natur nach gefährlich und ungerecht ist – die im "Krieg gegen den Terror" praktizierte Aushebelung ansonsten weithin propagierter Rechtsprinzipien lieferte einen Vorgeschmack auf das, was eine solche Hegemonie bedeuten würde –, ist das Scheitern und das Ende des Westens eine versöhnliche Wendung der Geschichte. Sie bringt freilich den Auftrag mit sich, jede andere Hegemonie ebenfalls zu blockieren.
Das, was am "Westen" – wie er sich gesehen hat und wie er von seinen Freunden gesehen wurde –, bewahrenswert war, ist währenddessen zu einem globalisierten Allgemeingut geworden, auf das die nordatlantischen Gesellschaften zwar stolz sein dürfen, aber kein Patentrecht erheben können: Dazu zählen Werte wie Menschenrechte und Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Emanzipation, Partizipation, Gerechtigkeit und Solidarität. Sie klingen modern, und sie sind es. Aber sie haben sich in anderem Gewand und unter anderen Namen auch in anderen Weltgegenden, anderen Gesellschaften und anderen politischen und kulturellen Zusammenhängen herausgebildet. Heute sind diese hergebrachten mit jenen modernen Wertvorstellungen in vielen Gesellschaften fusioniert, sodass sich, wer sich darauf beruft, nicht auf westliche, sondern allgemein menschliche Wertvorstellungen beruft.
Die Globalisierung der brauch- und universalisierbaren Teile moderner, vermeintlich westlicher Wertvorstellungen entspricht somit in gewisser Hinsicht einer Läuterung, die infolge der seit 9/11 betriebenen Politik unerlässlich wurde, wenn sie nicht schon länger unerlässlich war. Diese Läuterung besteht darin, diejenigen Aspekte westlicher Politik diskursiv und politisch herauszufiltern, die in einer globalen Gemeinschaft keine Heimat mehr finden sollten: Rassismus, Imperialismus und Kolonialismus, Ausgrenzungsmechanismen, wirtschaftliches, politisches, militärisches und kulturelles Hegemoniestreben, willkürliche Anwendung des Rechts, ein Freiheitsbegriff bloß im Sinn einer Freiheit, die keine Rücksicht nimmt auf andere oder auf die Umwelt, eine Akkumulations-, Expansions- und Steigerungslogik, eine Überbewertung des materiellen vor dem geistig-moralischen Fortschritt. All das brauchen wir nicht mehr. Mit dem Ende des bedauerlicherweise auch damit assoziierbaren und verstrickten Westens beginnt etwas Neues, Besseres. Welchen Namen es tragen wird, wissen wir nicht. Fest steht nur, dass es nicht der "des Westens" sein wird.