"Die Katastrophe, die am Morgen des 11. September 2001 das untere Manhattan in den Schlund der Hölle verwandelte, entfaltete sich in vier Schüben. (…) Es dauerte Stunden, bis man begann, das Ausmaß [der Ereignisse] zu begreifen; es dauert Tage, bis die von ihnen hervorgerufene abwehrende Starre nachlässt; es wird Monate – oder Jahre – dauern, um ihre Auswirkungen und Bedeutung zu ermessen." Mit diesen Worten antizipierten die Journalisten und Schriftsteller Hendrik Hertzberg, John Updike, Jonathan Franzen und Denis Johnson in einem Beitrag für die Zeitschrift "The New Yorker", dass es Zeit benötigen würde, die Anschläge vom 11. September 2001 wirklich zu begreifen.
Grundsätzlich lässt sich die Frage, wie sich der Blick auf 9/11 verändert hat, in zwei Richtungen interpretieren. Zum einen kann man sie als Frage danach verstehen, welche der damaligen Einschätzungen Bestand haben und welche nicht. Was würde man heute ebenso beurteilen? Was sieht man anders? Will man solchen Fragen nachgehen, ist es zunächst notwendig, sich noch einmal genau an den 11. September 2001 zu erinnern: Wie wurden die Anschläge erlebt? Was waren die ersten Reaktionen? Und wie sind die Gewaltakte an diesem Tag und unmittelbar danach interpretiert worden? Zum anderen kann die Frage nach der Veränderung des Blicks auch als Versuch aufgefasst werden, zu verstehen, welche Perspektiven in den vergangenen 20 Jahren hinzugekommen sind, weil sie sich überhaupt erst mit der Zeit eröffnen konnten. Dazu gehören Überlegungen über die realen Konsequenzen des Anschlags sowie solche, ob und inwiefern der Anschlag aus der Perspektive seiner Urheber wohl als erfolgreich gelten kann und muss. Auch 20 Jahre danach behalten Antworten auf diese Fragen einen vorläufigen Charakter, zumal in einem Essay wie diesem. Dessen ungeachtet ist es notwendig, diese Fragen zu stellen. Denn die Antworten, die wir auf sie geben, sind nicht nur für die historische Verortung der Anschläge vom 11. September 2001 bedeutsam, sondern auch für das Verständnis des historischen Ortes, an dem wir heute stehen, sowie für den Umgang mit terroristischen Anschlägen generell.
Persönliches Erleben
Auf die Frage danach, wie die Anschläge am 11. September 2001 – auch fernab von New York und Washington – erlebt wurden, gibt es vermutlich ebenso viele Antworten wie Zeitgenossen, die das Geschehen bewusst erlebt haben. Denn ähnlich wie die Ermordung John F. Kennedys oder der Fall der Berliner Mauer gehören die Anschläge in die Kategorie von Ereignissen, denen man unmittelbar und völlig spontan eine besondere Bedeutung zuschreibt, sodass man noch Jahre später genau weiß, wo man war und was man tat, als man von dem Geschehen erfuhr. Nehmen wir ein Fallbeispiel, das ich besonders gut kenne: mein eigenes.
Nicht nur in New York, auch in Göttingen war der 11. September 2001 ein strahlend schöner Tag mit tiefblauem Himmel. Ich hatte damals keinen Fernseher und saß im Studentenwohnheim über meinen Büchern, als mein Nachbar kurz vor drei Uhr nachmittags energisch an die Tür klopfte: "Schau mal, was in New York los ist." Alarmiert von seinem Ton folgte ich ihm sofort beschleunigten Schrittes in seine Wohnung, wo wir beide starr vor dem Bildschirm seines Fernsehers stehenblieben und mitverfolgten, wie ein Flugzeug direkt in das World Trade Center flog. Ein Turm brannte bereits. Mir kroch es kalt den Rücken hinunter. Wir rätselten beide, wer oder was genau hinter den Anschlägen stecken könnte und welche Konsequenzen zu erwarten seien. Krieg? Aber gegen wen? Da ich einen Termin hatte, musste ich mich bald vom Fernseher losreißen. Mit dem Fahrrad fuhr ich in die Innenstadt, sie war menschenleer; in einem Geschäft, das ich betrat, war ich die einzige Kundin. Das Personal hatte einen Fernseher an die Kasse gestellt und verfolgte die Bilder aus New York. Wir tauschten Mutmaßungen über ihre Bedeutung aus. Dann fuhr ich weiter zum Max-Planck-Institut für Geschichte, wo im Hauptgebäude gerade eine Tagung zum Thema "Politische Gewalt" stattfand. Die Organisatoren hatten die Veranstaltung unterbrochen und irgendwo im Institut einen Fernseher aufgetrieben. Die Tagungsteilnehmer saßen zusammen mit dem Institutspersonal davor versammelt.
Mein Kollege hatte ebenfalls vom Anschlag in New York erfahren, und wir fragten uns, ob wir uns auch ins Hauptgebäude zu den anderen vor den Fernseher setzen sollten. Nach einem kurzen Austausch entschieden wir uns dagegen und beschlossen, zu arbeiten. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war das Gefühl, dass wir – sobald wir unsere Normalität zugunsten der Fernsehübertragung aus New York aufgaben und zum Publikum des Anschlags wurden – genau das tun würden, was diejenigen, die den Anschlag geplant und verübt hatten, von uns erwarteten. Damit würden wir den Absichten und dem Kalkül der Attentäter entsprechen, eine uns zugedachte Rolle ein- und annehmen und in diesen Anschlag hineingezogen werden. Dagegen hat sich in mir alles gesträubt. Deshalb setzten wir uns beide an unsere Rechner und arbeiteten weiter. Für den Abend hatte ich geplant, mit dem Auto von Göttingen nach Lüneburg mitzufahren. Unterwegs stellte sich heraus, dass die Autobahnabfahrten von der Militärpolizei der Bundeswehr, den Feldjägern, gesperrt worden waren, um den Truppenübungsplatz Munster abzuriegeln. Nur über weiträumige Umwege kamen wir ans Ziel. All dies objektivierte den Eindruck einer akuten Bedrohungslage. Worin diese Bedrohung genau bestehen konnte, war aber nach wie vor unklar.
Diese Erfahrungen und unmittelbaren Reaktionen sind in mancher Hinsicht typisch, in anderer nicht. Jede Person, die von den Anschlägen erfuhr, begriff sofort, dass die Vorgänge in den USA eine große, kaum zu überblickende Tragweite hatten. Zugleich herrschte allerorten Verunsicherung und Ratlosigkeit mit Blick auf die Bedeutung des Geschehens: Aufgrund der wenigen Indizien, die es gab, versuchten alle, ich eingeschlossen, die Hintergründe der Gewaltakte zu verstehen und zu deuten, nicht zuletzt, um mögliche Konsequenzen für die Zukunft abschätzen zu können. Wenn ich die Anschläge in einer ersten Assoziation palästinensischen Terrorgruppen zuschrieb, schloss ich lediglich aus dem Erfahrungsraum der Vergangenheit. Mein Nachbar hatte diese Zuschreibung gleich infrage gestellt: "Warum sollten palästinensische Gruppen Ziele in New York angreifen und auf diese Weise die USA als Vermittler im Konflikt mit Israel verprellen?" So war die Bedrohungslage zwar intensiv gefühlt, aber in der Sache völlig ungewiss – die Deutung des Geschehens also noch ganz offen. Dass dies nicht nur für Privatpersonen galt, zeigt die Abriegelung eines Truppenübungsplatzes in der Lüneburger Heide anlässlich terroristischer Angriffe in über 6000 Kilometern Entfernung.
Unmittelbare Deutungen in Politik und Medien
Fragt man danach, wie die Anschläge am 11. September 2001 in den darauffolgenden Tagen und Wochen in Politik und Presse kommentiert und interpretiert wurden, fällt ins Auge, dass die tiefe Verunsicherung durch die Gewaltakte selbst und ihre Deutung sowie die Ungewissheit angesichts der möglichen Reaktionen darauf fast ubiquitär waren und sogar anhielten, nachdem die Frage der Urheberschaft geklärt war. Dieser Eindruck von Ungewissheit und Verunsicherung war so augenfällig, dass er vielfach thematisiert wurde. Geradezu legendär wurde die Aussage eines hochrangigen Mitarbeiters des National Security Council gegenüber der "Washington Post": "Wir wissen hier gar nichts. Wir schauen auch CNN" ("We don’t know anything here. We’re watching CNN too").
US-Präsident George W. Bush hielt sich zur Zeit der Anschläge in einer Grundschule in Sarasota, Florida, auf. Als er darüber informiert wurde, dass ein Flugzeug in einen Turm des World Trade Centers geflogen war, war seine erste Vermutung, dass es sich um einen Fehler des Piloten gehandelt haben müsse. Bush saß vor einer Schulklasse, als ihm der Stabschef des Weißen Hauses um 9.05 Uhr zuflüsterte: "Ein zweites Flugzeug traf den zweiten Turm. Amerika wird angegriffen." Er blieb noch einige Minuten im Klassenraum, während die Kinder vor ihm weiterlasen, wurde dann in einem Nebenraum informiert und anschließend auf eine Air-Force-Basis nach Nebraska evakuiert. Die Videokonferenz mit seinen Beratern begann Bush mit den Worten "Wir sind im Krieg."
Doch warf die Deutung der Anschläge als Kriegshandlung auch neue Fragen auf. So formulierte der Journalist Anthony Lewis in der "New York Times": "Sollte dies ein Krieg sein, unterscheidet er sich erheblich von dem am besten in Erinnerung gebliebenen Angriff auf Amerika. Pearl Harbor war so klar. (…) Niemand konnte daran zweifeln, wer der Feind war oder wie Amerika zu reagieren hatte. Genau das sind jetzt die Zweifel. Keiner von uns kann so tun, als wüsste er genau, wie er mit dieser neu entdeckten Bedrohung durch einen groß angelegten, hoch entwickelten Terrorismus umgehen soll."
Auffällig ist, wie stark die Anschläge sofort in historischen Kategorien gedeutet wurden. Politiker und Kommentatoren aus unterschiedlichen Ländern und politischen Lagern betonten unisono das Neue, das Präzedenzlose. Doch worin genau bestand jeweils dieses Neue? Neu waren ihnen zufolge zunächst die Form der Gewalt sowie ihre Urheber. So war in der "Zeit" vom "größte[n] Terroranschlag der Geschichte" die Rede,
12. September 2001: Schlagzeilen deutscher Zeitungen. (© picture-alliance, dpa | Werner Baum)
12. September 2001: Schlagzeilen deutscher Zeitungen. (© picture-alliance, dpa | Werner Baum)
Neu war aus der Sicht amerikanischer Kommentatoren zudem die Wirkung: "Wir alle werden für immer von diesem Tag gezeichnet sein. Terror ist das, was die Angreifer hervorrufen wollten, und sie waren erfolgreich. Sie haben nicht nur Tod und Zerstörung über Symbole der amerikanischen wirtschaftlichen und politischen Macht gebracht. Sie haben gezeigt, wie verwundbar die einzige Supermacht der Welt ist: wie unvollkommen unsere Flughafensicherheitssysteme sind, wie ungeschützt selbst unser militärisches Hauptquartier."
Das Neue der Gewalt, ihrer Urheber und ihrer Wirkung brachte amerikanischen Kommentatoren zufolge schlagartig ein neues Lebensgefühl mit sich: "Wir leben heute in einem anderen Amerika als noch vor letztem Dienstag", schrieb etwa der Journalist Frank Rich in der "New York Times". Und weiter: "Der Albtraum dieser Woche, so viel ist nun klar, hat uns aus einem frivolen, wenn nicht gar dekadenten, jahrzehntelangem Traum geweckt, auch wenn er uns in eine ungewisse Zukunft stürzt, mit der wir nie gerechnet hatten. Der Traum war einfach – dass wir alles haben könnten, ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen (…). Dieses fette, tagträumende Amerika ist jetzt weg, weit weg (…), so verdampft wie der Glaube, dass High-Tech-Überwachung und Waffen uns sicher halten würden."
Der Verlust lang gehegter Illusionen wurde mitunter in geradezu biblischem Sinne als selbstkritischer Erkenntnisprozess gefasst. So schrieb der Filmkritiker Richard Corliss: "‚Es war einmal‘ ist für viele Amerikaner jene Zeit vor 8.48 Uhr am 11. September 2001. Wir lebten in einer Art Disneyland-Festung, einem Land mit enormen natürlichen und wirtschaftlichen Ressourcen, mit befreundeten Nationen nördlich und südlich von uns und schützenden Ozeanen auf beiden Seiten. Wir weilten in einem Eden der Unschuld oder was man dafür halten kann. (…) Wir dachten nicht, dass wir jemals in einer Stimmung nervöser Angst leben würden, auf der Hut vor jedem plötzlichen Geräusch, jedem Flugzeug über uns, einem Fremden, der auf uns zugeht. (…) Jetzt wachen wir in dem Alptraum auf, den Dutzende von Millionen Unschuldiger weit entfernt jeden Moment erleben. Der 11. September war der Tag, an dem wir dem Rest der Welt beigetreten sind. Der wirklichen Welt."
Dieses "Erwachen" in der Realität historischer Normalität begriffen Journalisten und Kommentatoren innerhalb und außerhalb der USA weitgehend einhellig als einen historischen Moment, als Anbruch einer neuen Zeit. Der "Zeit"-Journalist Gunter Hofmann konstatierte, "dass mit den Anschlägen in New York und Washington eine Epoche zu Ende gegangen ist", und zitierte das Diktum des britischen Historikers Timothy Garton Ash vom "wahre[n] Anfang des 21. Jahrhunderts".
Überblickt man diese exemplarisch ausgewählten Kommentare, fanden sich die Erfahrungen und Interpretationen des Neuen auf ganz unterschiedlichen Ebenen wieder: auf den Ebenen der Gewalt, ihrer Urheber und Motive sowie der Wirkung der Anschläge, die weit über die Grenzen der USA hinaus Gefühle der Beklommenheit, der Angst und der Verletzlichkeit auslösten, ebenso auf den Ebenen des Lebensgefühls sowie der persönlichen, innen- und außenpolitischen Sicherheit und Kontrolle, ja, der erhabenen nationalen Souveränität und Ausnahmestellung in der Welt. Aus diesen Gründen schienen die Anschläge vielen Kommentatoren eine historische Zäsur zu bilden.
Unterschiedliche Schlussfolgerungen
Aus den Deutungen der unterschiedlichen Dimensionen des Neuen konnten im Rahmen damaliger Erwartungshorizonte ganz verschiedene Erwartungen an die Zukunft folgen und unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Genau das ist auch geschehen. Ausgehend von dem Gedanken, dass man es mit einer neuen Form von Gewalt, neuen Urhebern und neuen Formen der Bedrohung für die innere Sicherheit zu tun habe und dass die Sicherheitssysteme versagt hatten, war es eine naheliegende Sichtweise, dass im Bereich der inneren Sicherheit Handlungsbedarf bestand und nachgerüstet werden müsse. "Spätestens seit dem 11. September 2001 muss klar sein, dass sich kein Land der Erde auf den Lorbeeren ausruhen kann, die es in der Vergangenheit beim Kampf gegen den Terrorismus erworben hat – mögen die Erfolge noch so groß gewesen sein", formulierte beispielsweise der Terrorismusforscher Bruce Hoffman. "In der Vergangenheit haben wir uns gern eingeredet, der Terrorismus zähle zu unseren weniger ernsten und komplexen Sicherheitsproblemen. Das können wir uns nun endgültig nicht mehr erlauben."
Was das neue Lebensgefühl in den USA betraf, zielten die Erfahrungen und Erwartungen der Umorientierung auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft. So schrieb die "Time"-Journalistin Nancy Gibbs: "Wir werden uns einfach an etwas gewöhnen müssen, was wir noch nie gesehen haben: den regelmäßigen Anblick von Soldaten auf unseren Straßen, an den Flughäfen, in den Einkaufszentren."
Auch aus dem Verlust der Illusion der Uneinnehmbarkeit konnten unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Einige Kommentatoren waren der Auffassung, dass die USA sich nach dieser Katastrophe notwendigerweise der Welt stärker zuwenden müssten und würden. So stellte Zakaria fest: "Für die Amerikaner schien Sicherheit ein Geburtsrecht zu sein. Infolgedessen hatte Amerika während des letzten Jahrhunderts das Gefühl, dass Außenpolitik eine Frage der Wahl und nicht der Notwendigkeit war. Wir haben uns stark in der Welt engagiert, aber wir haben uns auch aus ihr zurückgezogen, wenn wir es wollten. In unserer Diplomatie und in unseren Allianzen gingen wir davon aus, dass die Welt uns mehr braucht als wir sie brauchen. Das ist vorbei."
Eine andere Schlussfolgerung war Krieg. Die Bush-Administration hatte die Anschläge umgehend als Kriegshandlungen bezeichnet. Diese Sprache nahmen anfänglich nur wenige Kommentatoren in den USA auf. Eine von ihnen war die Juristin und Journalistin Ann Coulter. Unter Bezug auf den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland schrieb sie bereits am 13. September 2001 im "National Review Online": "Wir brauchen keine langen Untersuchungen der forensischen Beweise, um mit wissenschaftlicher Genauigkeit die Person oder Personen zu bestimmen, die diesen speziellen Angriff befohlen haben. Wir brauchen keine ‚internationale Koalition‘. Wir brauchen keine Studie über ‚Terrorismus‘. Wir brauchen ganz sicher keine Resolution des Kongresses, die den Angriff in dieser Woche verurteilt. (…) Es ist absurd, anzunehmen, dass jeder Passagier ein potenziell durchgeknallter mörderischer Verrückter ist. Wir wissen, wer die gemeingefährlichen Verrückten sind. Sie sind diejenigen, die gerade jetzt jubeln und tanzen. Wir sollten in ihre Länder einmarschieren, ihre Führer töten und sie zum Christentum bekehren. Wir waren nicht zimperlich bei der Suche und Bestrafung Hitlers und seiner Top-Offiziere. Wir haben deutsche Städte mit Flächenbombardierungen überzogen, wir haben Zivilisten getötet. Das war Krieg. Und dies ist ein Krieg."
Die Auffassung, dass der Krieg als Antwort moralisch legitimiert sei, wurde auch von anderen Kommentatoren geteilt. So stellte Maureen Dowd in der "New York Times" mit Blick auf den Afghanistan-Krieg fest: "Dies ist der erste Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg, der persönlich ist. Der Vietnamkrieg beruhte auf der Domino-Theorie und zog sich hin, weil [US-Präsident] Lyndon Johnson und [Verteidigungsminister] Robert McNamara ihr Gesicht nicht verlieren wollten. Bei Desert Storm ging es darum, unsere Benzinpreise niedrig zu halten. Aber dieses Mal haben sie den Krieg zu uns gebracht, und jetzt geht es darum, dass wir uns selbst und unsere Lebensweise schützen. (…) Wenn die Vereinigten Staaten jemals ein historisches Gedächtnis brauchten, dann gerade jetzt. Dies ist nicht irgendein Krieg, sondern ein gerechter Krieg."
Eine verbreitete Erwartung war, dass es sich dabei um eine neue Form des Krieges handeln würde. So kündigte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in der Sendung "Fox News Sunday" an: "Es ist eine neue Art von Krieg", und er fügte hinzu: "Es wird politisch, wirtschaftlich, diplomatisch und militärisch sein. Es wird unkonventionell sein, was wir tun."
Doch gab es umgehend auch skeptische Stimmen sowie kritische und warnende Kommentare in Bezug auf so gut wie alle Ebenen der Deutungen und Schlussfolgerungen. Die eingangs zitierten Journalisten und Schriftsteller Hertzberg, Updike, Franzen und Johnson beispielsweise warnten davor, den Begriff des Krieges für die Anschläge vom 11. September zu verwenden. Dabei stellten sie die Dimension des Geschehens ausdrücklich nicht infrage. Doch sahen die vier Autoren gute Gründe dafür, andere Worte zu wählen: "Mit wachsender Heftigkeit haben Beamte vom Präsidenten an abwärts die blutigen Taten als Kriegshandlungen bezeichnet. Aber solange sich nicht herausstellt, dass eine ausländische Regierung die Operation geleitet hat (oder zumindest ihren Umfang im Detail und im Voraus gekannt und gebilligt hat), ist das ein Kategorienfehler. Die Metapher des Krieges – und es handelt sich hier mehr um eine Metapher als um eine Beschreibung – schreibt den Tätern eine Würde zu, die sie nicht verdienen, einen Status, den sie nicht beanspruchen können, und eine Stärke, die sie nicht innehaben. Schlimmer noch, sie verweist auf eine Reihe von Reaktionen, die sich als sinnlos oder kontraproduktiv erweisen könnten." Und sie folgerten daraus die Frage: "Wie geht man mit ‚massiven militärischen Maßnahmen‘ gegen die Infrastruktur einer staatenlosen, verteilten und aufgeteilten ‚Armee‘ von fünfzig oder zehnmal fünfzig Mann vor, deren Waffen Mietwagen, Kreditkarten und Flugtickets sind?"
Diese Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Terroristen sehen sich selbst gern als Soldaten in einem Krieg, weil diese Begriffe ihnen vermeintlich die offizielle Legitimation verleihen, die ihnen gerade fehlt. Man sollte ihnen nicht den Gefallen tun, ihre Begrifflichkeit zu übernehmen. Anstelle des Begriffs "Krieg" schlugen Hertzberg, Updike, Franzen und Johnson vor, die Anschläge als "Verbrechen" zu bezeichnen und entsprechend als Kriminalität zu behandeln. In Deutschland formulierte der SPD-Politiker Erhard Eppler diese Argumente in analoger Weise im "Spiegel": "Die 19 [Täter] waren keine Soldaten, keinem Staat verpflichtet. Sie waren Teil eines privat finanzierten Netzwerks. (…) Solange wir vom Krieg gegen den Terrorismus reden, bekommen wir wichtige Aufgaben gar nicht in den Blick. Daher schlage ich vor, den Terror als die für uns gefährlichste Form privatisierter und kommerzialisierter Gewalt zu bekämpfen."
Schließlich gab es auch Kommentatoren, die die Interpretation vom Anbruch einer neuen Zeit, vom historischen Moment oder vom Wendepunkt früh relativierten. Die "Los Angeles Times" etwa zitierte den Historiker Arthur Schlesinger Jr. mit den Worten "Ich denke, dieses Gerede von einer neuen historischen Epoche ist völlig überzogen. (…) Wir bewegen uns jetzt in einen Zustand hinein, in dem sich der Rest der Welt bereits befindet."
Was ist geblieben? Ein Zwischenfazit
Etwa 20 Jahre später endet der Afghanistan-Einsatz. Die 2001 begonnene, von der NATO geführte Mission der International Security Assistance Force (ISAF), die 2015 mit der kleineren Ausbildungsmission "Resolute Support" eine Fortsetzung fand, geht zu Ende. "Bittere Lehren aus Afghanistan" titelt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Anfang Juli anlässlich der Rückkehr der letzten Bundeswehrsoldaten und kommentiert: "Osama Bin Laden ist tot, aber Al-Qaida gibt es in Afghanistan immer noch, heute auch den IS. Und die Taliban haben gute Chancen, demnächst die Inseln der Aufklärung zurückzuerobern, die im Schutz der internationalen Truppen entstanden sind."
Diese Frage ist umso wichtiger, weil terroristische Anschläge nicht mit dem Ende der Gewaltausübung und ihren unmittelbaren Folgen enden. Die Taktik des Terrorismus ist ein Spezialfall der Provokation, ein absichtlich herbeigeführter überraschender Normbruch, "der den anderen in einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer Reaktion veranlassen soll, die ihn, zumal in den Augen Dritter, moralisch diskreditiert und entlarvt", so der Soziologe Rainer Paris.
Was bedeutet das für den Blick auf die Anschläge vom 11. September 2001? Zunächst gilt es, die Verunsicherung durch die Gewalt und die Unsicherheit und Ungewissheit mit Blick auf mögliche Deutungen und Reaktionen nicht zu übergehen, sondern ernst zu nehmen. Zwar war die Gewalt dieser Anschläge in einer Weise geplant und ausgeführt, die Botschaften transportierte. Doch waren diese Botschaften keineswegs eindeutig, sondern in einem hohem Maße deutungsoffen und interpretationsbedürftig. Solche Deutungen und Interpretationen sind Teil der Reaktion. Darin liegt ein nicht zu unterschätzendes Machtpotenzial für Gesellschaft, Politik und Medien, das mit Bedacht genutzt werden kann. Die Anschläge vom 11. September mussten nicht notwendig als Kriegshandlung oder Eröffnung eines Krieges betrachtet werden. Sie hätten auch als kriminelles Verbrechen definiert werden können, wie auch schon einige Zeitgenossen wussten und vorschlugen.
Deutungen des Anschlags in historischen Kategorien sind ebenfalls nicht unproblematisch. Im Falle von 9/11 schrieben sie der Gewalt eine Macht über die Gesellschaft zu, die in anderen Zusammenhängen kaum denkbar wäre. Zwar waren solche Deutungen aus der Situation heraus verständlich, denn sie schienen von der Absicht getragen, die außergewöhnlichen und nur schwer fassbaren Gewaltakte in historische Dimensionen zu übersetzen, um ihnen gerecht zu werden. Doch darf man dabei nicht außer Acht lassen: Das Ziel der terroristischen Taktik ist, durch spektakuläre Gewalt bei den Gegnern Angst und Terror zu verbreiten. Deutungen in historischen Superlativen drohen den Gewalttätern in die Hände zu spielen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage an Gewicht, welche der historischen Deutungen sich bis heute als beständig erwiesen haben. Vor dem Hintergrund der Terrorismusgeschichte ist dabei zu bestätigen: Neu und präzedenzlos war in der Tat das Ausmaß der Gewalt als terroristische Gewalt und seine Wirkung. Gemessen am Verlust an Menschenleben und dem Ausmaß des Schadens, handelte es sich tatsächlich um den "größten Terroranschlag der Geschichte", wie es in der "Zeit" gestanden hatte, und er löste zweifellos weit über die Grenzen der USA hinaus Gefühle von Angst und Verletzlichkeit aus. Bei einer solchen Aussage ist jedoch einzubeziehen, dass Anschläge in früheren Jahrhunderten vergleichbare Schockwirkungen erzielt haben.
Was heißt das für die historische Bedeutung der Anschläge vom 11. September? In der Terrorismusgeschichte stehen die Anschläge ungeachtet der außergewöhnlichen Destruktion, die sie verursachten, in Kontinuität zu Entwicklungen, die seit Mitte der 1990er Jahre als new terrorism gefasst wurden. Die Entstehung der terroristischen Handlungslogik selbst geht dagegen schon auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Terrorismus entstand aus der Kombination von spektakulärer Gewalt mit schneller und regelmäßiger Berichterstattung in den Massenmedien an ein politisch interessiertes Massenpublikum. Seitdem wurde die Taktik an technologische, ideologische, mediale und soziale Veränderungen angepasst. Das gilt auch für 9/11. Dass diese Anschläge als eine historische Zäsur beurteilt werden müssen, wird immer wahrscheinlicher. Dies ist jedoch nicht auf die Gewalt der Anschläge zurückzuführen, sondern auf die psychologischen Wirkungen, Deutungen und Reaktionen, die sie hervorzubringen in der Lage waren. Diese Reaktionen beendeten die Offenheit der 1990er Jahre.
Hinsichtlich der damaligen Schlussfolgerungen lässt sich feststellen, dass Terrorismus als Taktik bei den Behörden wie auch in der Wissenschaft – wie schon in den 1970er Jahren – wieder stärker in den Fokus genommen wurde. Bei vielen, die sich dem Thema zuwandten, mögen die eigenen Erfahrungen und das Erleben der Anschläge von Belang gewesen sein – in meinem Fall die Frage nach der Rolle und der Bedeutung der Medien und des Publikums in Hinblick auf die terroristische Taktik sowie die Frage, ob und inwiefern diese Anschläge wirklich neu waren. Die innere Sicherheit hat in Reaktion auf die Anschläge in fast allen Industrienationen an Stellenwert gewonnen. Gesetzespakete, die dem Staat weitreichende Handlungsmöglichkeiten einräumen, und Sicherheitssysteme an Flughäfen, aber auch in öffentlichen Gebäuden überall auf der Welt, gehören zu den sichtbaren Folgen.
Eine weitere Reaktion auf die Anschläge war Krieg. Auf den Afghanistan-Krieg folgten ein weiterer Krieg einer US-geführten Allianz gegen den Irak, der wiederum zur Bildung und zum Eroberungszug des "Islamischen Staates" und seiner Wiedereindämmung führte sowie zu zahllosen islamistisch motivierten Terroranschlägen in Europa, aber auch in Asien und Afrika. Entgegen den Ankündigungen und verbreiteten Erwartungen setzten diese Kriege eher alte und konventionelle Muster fort und trugen insgesamt gesehen wohl mehr zur Delegitimierung der USA in der Region des Nahen Ostens sowie auch in anderen Teilen der Welt bei als zur Steigerung ihrer Legitimität. Anders als 2001 aus der Vergangenheit geschlossen wurde, war jedoch nicht ein neuer Ost-West-Konflikt das Ergebnis. Stattdessen waren die genannten Kriege ein nicht unwesentlicher Faktor dafür, dass die USA ihre Rolle und Bedeutung als einzig verbliebene Supermacht nicht unangefochten fortführen konnten. Umso wichtiger wird nun die andere Alternative, die bereits 2001 von vielen Kommentatoren aufgezeigt wurde: die Welt als interdependent und vernetzt anzuerkennen und die globalen Wirtschafts-, Umwelt- und Klimaprobleme anzugehen.