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"Ob diese europäische Herrschaft zu entschuldigen oder zu rechtfertigen ist, ob Nationen, die sich zivilisiert nennen, irgendeine gute Rechtfertigung dafür haben, das, was sie Zivilisation nennen, wilden Völkern aufzuzwingen, ihr Land zu beschlagnahmen und sie zu Knechten zu machen, ist eine Frage für sich."
Vermutlich bis zu 10.000 Objekte wurden im Rahmen der sogenannten britischen Strafexpedition und der Zerstörung der Stadt Benin City im heutigen Nigeria im Februar 1897 geplündert und als Kriegsbeute nach London verbracht, von wo aus sie global verteilt wurden. Die gewaltsame Niederschlagung Benin Citys und die Aneignung der sogenannten Benin-Bronzen als Kriegsbeute formen "den moralischen Kern", der diese Objekte zu einem Symbol für eine globale Debatte rund um die Restitution von Kunst an ihre Herkunftsländer werden ließ.
Im Zuge ihrer Translokation und Einbehaltung erfuhren die seit vielen Jahren zurückgeforderten Objekte immer wieder neue semantische Zuschreibungen. Ursprünglich als zeremonielle höfische Kunst und visuelle Archive kultureller Geschichte entstanden,
Im Zuge der Unabhängigkeit afrikanischer Staaten im sogenannten Afrikanischen Jahr 1960 erstarkten die Diskurse um die Restitution der "Benin-Bronzen". Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von nigerianischen Akteur:innen zurückgefordert, wurden die Objekte im Rahmen des Festivals "Festac ’77" in Nigeria zur Ikone der frühen Auseinandersetzungen um die Rückgabe von Kunst und Kultur aus kolonialen Kontexten und halten seither ihren emblematischen Status in der Restitutionsdebatte.
Das Festival bietet einen Einblick in eine breitere Rezeptionsgeschichte, den nigerianischen Diskurs um die "Benin-Bronzen" und die Rolle der Printmedien im Prozess ihrer Symbolwerdung. Von dem Ereignis 1977 ausgehend, soll sich hier also einer Rezeptionsgeschichte der "Benin-Bronzen" angenähert werden.
Das Festival Festac ’77
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"Die Dame mit den grübelnden Hohlaugen – die Elfenbeinmaske aus Benin – ist überall: auf Bronzebroschen, auf Klopapierrollen, auf Straßenlaternen-Dekorationen und in Kopien im Nationalmuseum von Nigeria."
Lagos, Nigeria, im Januar 1977: Die Elfenbeinmaske aus Benin, die sogenannte Queen Idia Mask, ist das Symbol des "Festac ’77 – Second World Black and African Festival of Arts and Culture". Die ikonische Benin-Maske misst im Original 24 mal 12 mal 6 Zentimeter und ist damit ein vielleicht viel kleineres Objekt, als man angesichts ihrer Bedeutungsschwere erwarten würde.
Nigeria kann dieses extravagante Festival, dessen erste Ausgabe 1966 als "First World Festival of Negro Arts" in Dakar stattgefunden hat, ausrichten, weil Ölvorkommen dem Staat in den 1970er Jahren ein schnelles wirtschaftliches Wachstum beschert haben. Ziel des einmonatigen Großereignisses ist es, durch Konferenzen, Ausstellungen, Konzerte, Tanz- und Theatervorführungen "die Ursprünge und die Authentizität des afrikanischen Erbes wiederzuerlangen",
Vorgeschichte einer Motivwahl
Das allgegenwärtige Symbol des "Festac ’77", die besagte Elfenbeinmaske, diente bereits 1966 als Illustration des Deckblatts der 40-seitigen Sonderausgabe von "Nigeria Today" mit dem Titel "Unser kulturelles Erbe". Darin thematisierte das Magazin anlässlich des "First World Festival of Negro Arts" koloniale Diebstähle von nigerianischen Kunstwerken und deren Bedeutung als historische und identitätsstiftende Zeugnisse kultureller Geschichte. Während im Rahmen des Festivals in Dakar wichtige Werke klassischer afrikanischer Kunst, darunter auch "Benin-Bronzen", ausgestellt wurden, machte die Fotografie der Maske auf dem Titelblatt des in hoher Auflage erscheinenden Magazins auf die Abwesenheit des Objekts in der Ausstellung aufmerksam.
In einem Artikel in der Tageszeitung "Nigerian Observer" 1956 hatte der Oba, der König von Benin, Akenzua II, besagte Elfenbeinmaske erstmals als eine Darstellung der Königinmutter (Iy’Oba) Idia identifiziert, deren Sohn Oba Esigie das Königreich Benin von 1504 bis 1550 regiert hatte.
Durch diese zwei öffentlichen Stellungnahmen war die Bekanntheit der Maske und somit ihr symbolisches Kapital gestiegen. Nach der Benennung und Bedeutungszuschreibung als Darstellung der Iy’Oba wurde die Maske in der interessierten Öffentlichkeit nicht mehr als anonymes Objekt wahrgenommen, sondern als Repräsentantin einer konkreten Ahnengeschichte,
Die Entscheidung des Festac-Komitees und des nigerianischen Künstlers Erhabor Emokpae, die Elfenbeinmaske zum Symbol des "Festac ’77" zu machen, baute auf intensive Diskussionen um die Restitution von afrikanischen Kulturgütern auf. Diese spiegelten sich nicht nur in nationalen Printmedien wie "Nigeria Today", sondern auch bei Gelegenheiten wie dem panafrikanischen Festival in Algier 1969, auf dem ein Kulturmanifest mit einer Aussprache für die Restitution von Kulturgut verabschiedet wurde,
"Festac-Affäre"
Im Anschluss an die Entscheidung, die "Queen Idia Mask" als Symbol für das Festival zu verwenden, ersuchte die nigerianische Seite das British Museum, die Maske zurückzugeben oder als Leihgabe zur Verfügung zu stellen. Die Bemühungen reichten bis auf die politische Ebene internationaler Organisationen.
Nach dem Scheitern der Verhandlungen um eine Rück- oder Leihgabe der Maske beauftragte das nigerianische Bundesinformationsministerium Künstler:innen aus Benin City, eine Replik der Maske anzufertigen. Denn während der in internationalen Medien breit rezipierten Auseinandersetzungen mit dem British Museum hatte das abwesende Original der Elfenbeinmaske an Bekanntheit gewonnen und die Restitutionsdebatte eine breite Öffentlichkeit erreicht. Dadurch verstärkten sich Wahrnehmung und Prestige des kulturellen Erbes Nigerias – und erhöhte sich die Symbolkraft der Elfenbeinmaske.
So zitierte etwa die Tageszeitung "Nigerian Observer" im Nachgang der Verweigerung des British Museum, die Maske zurückzugeben, Oba Akenzua II mit einer Aufforderung an alle nigerianischen Journalist:innen und Zeitungen, sich dem "Feldzug" (crusade) zur Wiederbeschaffung aller nigerianischen Kunstwerke anzuschließen, die ausländische Museen schmückten.
Der ausführliche Artikel endete mit einer Beschreibung der Ereignisse um 1897 und der Plünderung und Verteilung der "Benin-Bronzen": "Die meisten von ihnen wurden in Auktionen zwischen dem British Museum, dem Pitt Rivers Museum, Farnham, Dorset und dem Museum für Völkerkunde, Berlin verteilt; und diese Museen gaben die ersten europäischen Publikationen über die Kunst von Benin heraus: allesamt gewichtige quasi-wissenschaftliche, akademische illustrierte Kataloge: teuer und von geringer Auflage."
Symbol einer Debatte
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"Goldene Repliken einer Elfenbeinmaske aus dem 16. Jahrhundert starren von Hunderten von Laternenpfählen und öffentlichen Gebäuden in Lagos, Nigeria. Ruhend in der glühenden Hitze der Stadt, mystisch, rätselhaft, sind diese Kopien der Maske – einst von den Königen von Benin getragen – offizielle Symbole des zweiten Weltfestivals für schwarze und afrikanische Kunst und Kultur."
Bis heute räsoniert der Klang der Präsenz der Maske im globalen Raum wie in einer "Echokammer".
Die Wahl der Elfenbeinmaske aus Benin als Symbol für das Festival, eingebettet in eine von Printmedien in Nigeria, aber auch global reichweitenstark begleiteten Debatte rund um das Ersuchen einer Rück- beziehungsweise Leihgabe, ließ die Maske zu einem zeitgenössischen Kollektivsymbol werden für sogenannte Raubkunst und die Diskurse um die Restitution von in der Kolonialzeit gestohlenen Kunst- und Kulturgegenständen.
Die vielfach kritisierte Kommodifizierung von Kultur im Rahmen des "Festac ’77", durch die Kultur als Ware ökonomisch verwertbar gemacht wurde, fand nicht nur im Rahmen eines "schnellen Kapitalismus" im Nationaltheater in Lagos statt,
"Benin-Bronzen" im 21. Jahrhundert
Was 1977 in der "Washington Post" als "wachsende internationale Bewegung um die Rückgabe von Kunstwerken, die während der Kolonialzeit aus den Herkunftsländern entwendet wurden," bezeichnet wurde, sollte rund um das "Festac ’77" bereits einen Höhepunkt gefunden haben – zumindest für das 20. Jahrhundert.
Spätestens seitdem dieser Bericht ein Jahr später veröffentlicht wurde,
So wie die goldenen Repliken der Elfenbeinmaske 1977 von Hunderten Lampenmasten und öffentlichen Gebäuden in Lagos auf die Menschen herunterstarrten,
Anfang 2021 verschaffte die künstlerische Intervention "Vermisst in Benin" des Künstlers Emeka Ogboh der Restitutionsfrage um die "Benin-Bronzen" eine darüber hinaus gehende Präsenz, die abermals den öffentlichen Raum einer Stadt einnahm. Vermisstenplakate überall in Dresden zeigten Bronzeköpfe und drückten wie 1977 das Logo des Festac in Lagos Ungeduld aus in der Frage um Restitution.
Ende April 2021 bekräftigten die betroffenen Museen, die Kulturminister:innen der Länder sowie das Auswärtige Amt auf Initiative von Kulturstaatsministerin Monika Grütters in einer gemeinsamen "Erklärung zum Umgang mit den in deutschen Museen und Einrichtungen befindlichen Benin-Bronzen" die "grundsätzliche Bereitschaft zu substantiellen Rückgaben".
Schluss
Das Recht der Namensgebung ist laut dem Sprachwissenschaftler Louis-Jean Calvet die linguistische Kehrseite des Rechts der Inbesitznahme.
Seit der Unabhängigkeit des Landes vom Vereinigten Königreich 1960 ist Benin City Teil Nigerias, und seither fordern die nigerianische Regierung wie auch der Königliche Hof von Benin City die "Benin-Bronzen" zurück. Erst seit Kurzem sind die Forderungen erfolgreich. Wenngleich noch nicht mit Blick auf die Queen Idia Mask, so wird fast täglich über geplante Rückgaben einzelner "Benin-Bronzen" berichtet – ein Ergebnis neu aufgeflammter Debatten um die Restitution von Kulturgütern, die in den 1960er und 1970er Jahren von nigerianischen Akteur:innen vorangetrieben wurde.