Als Nigeria, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, Südafrika 2013 als die bis dahin größte Volkswirtschaft in Afrika überholte, wurde der Ölstaat schnell zum neuen Hoffnungsträger (v)erklärt. Doch mit dem Absturz des Ölpreises nur ein Jahr später und dem Einbruch der nigerianischen Wirtschaft wurde ebenso schnell deutlich, dass das mit rund 206 Millionen Menschen bevölkerungsreichste Land des Kontinents es seit Jahrzehnten versäumt hatte, seine fast komplett vom Öl abhängige Volkswirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen. Nirgendwo in Afrika klaffen Anspruch und Realität heute weiter auseinander als in Nigeria.
Wirtschaft am Boden
Seit seiner Entdeckung unter den Mangrovenwäldern der nigerianischen Südostküste vor über sechs Jahrzehnten hat das dort geförderte Rohöl die wirtschaftlichen Auf- und Abschwung-Phasen in Nigeria bestimmt. Noch immer sind die nigerianischen Staatseinnahmen fast zur Hälfte vom Öl abhängig, auf das mehr als 80 Prozent der nigerianischen Exporterlöse zurückzuführen sind.
Die Weltbank rechnet damit, dass das Realeinkommen pro Person bis 2023 auf den Stand der 1980er Jahre sinken wird.
Um ein weiteres Anwachsen der Armut zu verhindern, müsste die Wirtschaftsleistung Nigerias mindestens ebenso stark wachsen wie seine Bevölkerung, also pro Jahr um 3,2 Prozent: Mit durchschnittlich 5,3 Kindern pro Frau und insgesamt 7,5 Millionen Geburten im Jahr 2019 werden in Nigeria inzwischen mehr Babys geboren als in der gesamten Europäischen Union. Laut Greg Mills von der Johannesburger Brenthurst Foundation müsste Nigerias Wirtschaftswachstum, wie einst das Wirtschaftswachstum Chinas, über zwei Jahrzehnte Raten von 10 bis 15 Prozent erreichen. Doch die Realität ist eine ganz andere: 2020 schrumpfte Nigerias Wirtschaft sogar um mehr als drei Prozent und stürzte dabei in die schwerste Rezession in vier Jahrzehnten. Parallel dazu schrumpfte die für eine lebendige Demokratie so wichtige Mittelklasse, die in Nigeria kaum ein Zehntel der Gesamtbevölkerung stellt. Nach Einschätzung der Weltbank wird Nigerias Wirtschaft auch 2021 wieder mit viel zu geringen zwei Prozent weniger stark wachsen als seine Bevölkerung.
Gefährliche Abhängigkeit
Symptomatisch für die wirtschaftliche Situation Nigerias ist der Zustand seiner vier großen Raffinerien, die zuletzt kaum noch Benzin produzierten. Sie sind seit Jahren derart marode, dass das Land – immerhin weltweit auf Rang 13 der wichtigsten Ölproduzenten – auf teure Einfuhren von verarbeitetem Öl angewiesen ist. Der Hauptgrund liegt darin, dass die nigerianische Regierung die Ölkonzerne zwingt, ihr Benzin an der Zapfsäule für weniger Geld zu verkaufen, als sie auf dem internationalen Markt dafür erhalten würden. Dadurch ist die Verarbeitung des Rohöls für die Unternehmen nicht profitabel. Allerdings hat die Regierung den lange Zeit staatlich subventionierten Ölpreis zuletzt angehoben und die Abschaffung der Subventionen versprochen. Leere Staatskassen lassen allerdings auch keine andere Option. Auch dürfte durch das weltweit gestiegene Umweltbewusstsein das Gerangel der politischen Führung um die Öleinnahmen zu einem Spiel mit immer geringeren Gewinnen werden.
Nigeria hat die wachstumsstarken Rohstoffjahre nicht genutzt, um für weniger gute Zeiten vorzusorgen und Rücklagen zu bilden. Diesen Fehler haben viele andere rohstoffreiche Schwellenländer auch begangen, insbesondere in Afrika. Bis heute sind viele afrikanische Staaten vom Export eines einzigen Metalls oder Agrarrohstoffs abhängig: In Sambia ist es Kupfer, in Côte d’Ivoire Kakao, in Angola oder Nigeria Öl. Entsprechend instabil ist die wirtschaftliche Entwicklung: Während des weltweiten Rohstoffbooms zwischen 2000 und 2012, als sich die Preise verdreifachten, wuchsen Afrikas Volkswirtschaften im Schnitt um fünf Prozent. Doch mit dem Einbruch der Preise ging es auch wieder rasant bergab. Denn die Rohstoffeinnahmen wurden nicht etwa wachstumsfördernd verwendet, sondern wurden ausschlaggebend für Korruption und interne Konflikte – häufig ist die Rede vom sogenannten Ressourcenfluch.
Dass es auch anders geht, zeigt mit Botswana eines der einst ärmsten Länder des Kontinents. Insgesamt fördert der extrem dünn besiedelte südafrikanische Binnen- und Steppenstaat knapp 30 Prozent der weltweit produzierten Diamanten. Die Menschen erwirtschaften hier inzwischen etwa 15.000 US-Dollar pro Kopf im Jahr – dreimal mehr als noch vor zehn Jahren.
Nigeria steht, bevor es sich vom Öl lösen kann, vor einem langen, schmerzhaften Anpassungsprozess mit hohen Inflationsraten und politischer Unruhe. Nach den vielen verschenkten Jahren seit der Unabhängigkeit 1960 ist der Aufholbedarf gigantisch, vor allem bei der extrem unzuverlässigen Stromversorgung. Die Straßen sind oft in einem desolaten Zustand und die Häfen verstopft.
Gleichzeitig eröffnet das Stocken des Vorhabens neue Möglichkeiten: Aliko Dangote, der durch den Erfolg seines Zement-Unternehmens seit den 1980er Jahren laut der Zeitschrift "Forbes" zum reichsten Mann Afrikas geworden ist, will die Notwendigkeit der Einfuhr von Benzin und Diesel durch ein, wie er selbst sagt, "verrücktes Projekt" stoppen: Auf 2500 Hektar Sumpfland soll bis Ende 2021 eine 12 Milliarden US-Dollar teure Ölraffinerie in Betrieb genommen werden und als weltweit zweitgrößte Raffinerie rund 650.000 Barrel Rohöl am Tag zu Benzin verarbeiten. Hinzu kommen soll die Produktion von rund drei Millionen Tonnen Dünger pro Jahr sowie die Herstellung von Plastik. Das Vorhaben ist so gigantisch, dass es in der nicht eben zum Superlativ neigenden Tageszeitung "Financial Times" als "Afrikas Mondlandung" bezeichnet wurde.
Krisenherd Nigerdelta
Symptomatisch für die Lage in Nigeria ist auch der Zustand des Ökosystems rund um das heute kaum mehr zugängliche Nigerdelta. Von der Luft aus sehen die creeks, wie die unzähligen kleinen Wasserläufe hier heißen, wie ein gigantischer Schnittmusterbogen aus. Mal kreuzen und überschneiden sie sich, dann laufen sie nebeneinander her und verschwinden schließlich am fernen Horizont. Aus der Nähe betrachtet, überzieht ein klebriger Film Blätter und Wurzeln der Mangrovensümpfe – das Wasser ist mit Rohöl verseucht. Die Mündung von Afrikas drittgrößtem Strom ist nicht nur ein hochkomplexes Ökosystem von der Größe der Schweiz, sondern auch eine der reichsten Schatzkammern des afrikanischen Kontinents: Mehr als 25 Milliarden Barrel Öl sollen noch unter dem Boden lagern. Seit 1958 fördert der britisch-niederländische Konzern Shell in der Region Öl. Aus den kilometerlangen Pipelines gelangt Hunderte Male im Jahr Rohöl aus Lecks direkt ins Wasser und zerstört den empfindlichen Lebensraum.
Seit Jahrzehnten wird vor Gericht darüber gestritten, wer für diese enormen Umweltschäden verantwortlich ist – der nigerianische Staat, der multinationale Ölkonzern oder militante Einheimische? Ein Blick in die Gerichtsakten zeigt, dass vermutlich keiner der großen Akteure im Nigerdelta schuldlos ist. Manchmal sind technisches Versagen und mangelnde Investitionen in die Sicherheit der Pipelines seitens der Konzerne Grund für die Lecks, manchmal legen Milizen Sprengstoff an die Pipelines, um die Ölförderung zu sabotieren oder mit Anschlägen Lösegeld zu erpressen – zum einen aus Frustration darüber, dass die lokale Bevölkerung von den Segnungen des Öls weitestgehend ausgeschlossen bleibt; zum anderen um auf die gravierenden Missstände im Delta aufmerksam zu machen. Shell wirft seinerseits der nigerianischen Regierung vor, die ölreiche Region trotz hoher Steuer- und Lizenzeinnahmen durch die Ölgesellschaften nicht angemessen wirtschaftlich weiterzuentwickeln.
Hinzu kommen verschiedene illegale Praktiken im Ölgeschäft, die entscheidend zur Umweltzerstörung beitragen, etwa das weit verbreitete bunkering. Dabei handelt es sich um das illegale Anzapfen der durch das Delta laufenden Pipelines. Gegenwärtig verlieren die in Nigeria ansässigen Konzerne durch diese Praxis nach eigenen Angaben mehrere Zehntausend Barrel am Tag. Denn längst ist das bunkering zu einem Milliardengeschäft geworden, in das auch das organisierte Verbrechen verstrickt ist.
Die Lage im Nigerdelta hat sich zu einem Dauerkonflikt zugespitzt, der die Ölforderung zu einem unberechenbaren Umwelt- und Sicherheitsrisiko macht. Es ist ein explosives Gemisch aus Frust und Zorn, aus Zynismus und Gier, das die Region nahezu unregierbar macht. Wegen der permanenten Unruhe im Delta hat Nigeria seine Förderkapazität binnen zehn Jahren um rund ein Drittel auf 1,7 Millionen Barrel gesenkt. Dabei wollte das Land ursprünglich längst mehr als vier Millionen Barrel pro Tag produzieren. Doch dieses Ziel ist durch den zunehmenden Zerfall des Landes in weite Ferne gerückt, aber auch aufgrund des schrittweisen Rückzugs einiger Ölkonzerne. Viele Unternehmen fördern ihr Öl aus Sicherheitsgründen nur noch vor der Küste, auch wenn dies oft erheblich teurer ist. Seit 2005 ist die Produktion im Meer rapide angestiegen und macht inzwischen fast die Hälfte der nigerianischen Ölförderung aus. Erst Ende 2018 begann das Unternehmen Total mit der Produktion im Küsten-Ölfeld Egina, wo bis zu 200.000 Barrel pro Tag gefördert werden können. Gleichzeitig haben die Unternehmen ihre Konzessionen für die Ölförderung auf dem Festland an einheimische Unternehmen verkauft.
Wegweisende Gerichtsurteile
Die internationale Öffentlichkeit hat die Vorkommnisse im Nigerdelta bislang allenfalls am Rande wahrgenommen. 1995 kam es zu einer globalen Welle des Protests, als der damalige nigerianische Diktator Sani Abacha den Bürgerrechtler Ken Saro Wiwa und acht seiner Mitstreiter hinrichten ließ. Sie hatten Massenproteste gegen Shell und die von ihnen angeprangerte Ausbeutung ihrer Heimatregion organisiert. Bis heute klagen vier Witwen von damals Hingerichteten gegen das Unternehmen, das sie einer Beteiligung an den Hinrichtungen bezichtigen – einen Vorwurf, den Shell vehement zurückweist.
Anfang 2021 lenkten zwei Gerichtsurteile die internationale Aufmerksamkeit auf das Nigerdelta. Ende Januar entschied ein niederländisches Berufungsgericht, dass Shell beziehungsweise dessen nigerianisches Tochterunternehmen für zwei größere Öl-Lecks im Delta in den Jahren 2004 und 2005 verantwortlich sei und als Kompensation mehrere Kleinbauern mit einer noch nicht festgelegten Summe entschädigen müsse. Der Konzern habe eine Sorgfaltspflicht und müsse alte Ölleitungen mit Sensoren zur Entdeckung von Lecks ausstatten. Zwei Wochen später sprach das Oberste Gericht in Großbritannien rund 42.000 Mitgliedern der im Nigerdelta ansässigen Volksgruppen der Ogale und Bille das Recht zu, im Vereinigten Königreich Schadensersatzklage gegen Shell und dessen nigerianisches Tochterunternehmen wegen Umweltverschmutzung einzureichen. Sie waren diesen Schritt mit der Begründung gegangen, dass nigerianische Gerichte zu korrupt seien, während Shell selbst argumentiert hatte, der Fall müsse von einem Gericht vor Ort entschieden werden, wo der angebliche Schaden auch entstanden sei.
Die Urteile dürften den Weg für weitere Umweltklagen gegen international tätige Konzerne und deren Aktivitäten und Tochterfirmen im Ausland ebnen, die vor Gerichten an den jeweiligen Hauptsitzen der Unternehmen eingereicht werden. "In Not geratene Gruppen versuchen zusehends, mächtige Unternehmensakteure zur Rechenschaft zu ziehen", sagt Daniel Leader, Partner bei der Anwaltskanzlei Leigh Day, die die Ogale und Bille vertreten hat.
Ausblick
Sollte Shell seine Präsenz generell überdenken und sich womöglich zurückziehen, könnte Nigeria einen hohen Preis bezahlen. Scheitert der bevölkerungsreichste Staat Afrikas, droht nach Ansicht vieler Expertinnen und Experten ein Scheitern des Kontinents. Die Stoßwellen wären sicherlich auch in Europa zu spüren: Nach Ansicht von Gerard Heilig, dem langjährigen Leiter der UN Population Division, könnte der Auswanderungsdruck nach Europa in einem noch nie gesehenen Ausmaß steigen.
Noch bewegt sich der weitaus größte Teil der Migration von Nigerianerinnen und Nigerianern innerhalb ihres Landes. Viele zieht es in die Wirtschaftsmetropole Lagos, die von etwas mehr als einer halben Million Einwohnerinnen und Einwohner zur Zeit der Unabhängigkeit vor sechs Jahrzehnten auf mehr als 20 Millionen angewachsen ist. Bis 2050 werden bis zu 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner prognostiziert. Niemand weiß, wie eine solche Megacity regiert werden kann, zumal die hohen Ausgaben für den aufgeblähten Staatsapparat nur noch wenig Geld für überfällige Investitionen in die marode Infrastruktur des Landes erlauben.
Viele Nigerianerinnen und Nigerianer sind angesichts der Stagnation des Wartens überdrüssig und haben den Glauben an Besserung verloren. Zwischen 2014 und 2018 stieg der Anteil der Auswanderungswilligen von 36 auf 52 Prozent – einer der höchsten in Afrika.