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Selbstverwirklichung im Beruf | bpb.de

Selbstverwirklichung im Beruf Zur Geschichte eines Mythos

Jason Lemberg

/ 14 Minuten zu lesen

Ein Großteil der Menschen sucht Sinn und Erfüllung im Beruf. In den aktuellen Debatten um Arbeit erscheint das Thema Selbstverwirklichung oft als neues Phänomen, als naive Fantasie der Millennials und der Generation Z – aber auch als arbeitsmarktpolitischer Irrweg.

Das Ideal der beruflichen Selbstverwirklichung ist allgegenwärtig. Obschon über die damit verbundenen Verheißungen oft nur mit deutlichen Einschränkungen gesprochen wird – so müssten wichtige Kriterien hinsichtlich der beruflichen Qualifikation und der biografischen Grundvoraussetzungen erfüllt sein –, ändere dies nichts an der Macht der damit verbundenen Bilder, Vorstellungen und Fantasien. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der Menschen sehnt sich nach einer erfüllenden Arbeit, und sagte nicht schon Konfuzius: "Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten"?

Das starke Bedürfnis nach Sinn und Erfüllung in der Arbeit findet seinen Ausdruck in zahlreichen Zeitungsartikeln, (Online-)Ratgebern und Reportagen. Dabei kommt es zu bemerkenswerten Überschneidungen mit zentralen Aspekten der arbeitspolitischen Debatte. Das betrifft die Berufsvorstellungen der sogenannten Generation Z der heute 20- bis 25-Jährigen ebenso wie den Fachkräftemangel oder den Boom der Coaching-Szene. Welche Rolle spielt dabei das Konzept der Selbstverwirklichung?

Ein im März 2023 im "Südkurier" veröffentlichter Artikel gibt sieben Tipps für die Suche nach dem "Traumjob". Mit Blick auf die Motivation stellt die Autorin klar: "Den perfekten Job? Wollen doch eigentlich alle. Ganz besonders die Generation Z, die derzeit auf den Arbeitsmarkt strömt, strebt im Berufsleben nach Selbstverwirklichung." Konzepte aus der Psychologie, Umfrageergebnisse und Zahlen aus der Marktforschung werden vorgestellt. Demnach gehe es um Selbsterkenntnis. Dabei helfe unter anderem das Gespräch mit Expert:innen. Es scheint, dass die Sinnsuche im Berufsleben vor allem junge Menschen betrifft.

Dieser Eindruck verstärkt sich nach der Lektüre eines Artikels auf der Internetseite des Südwestrundfunks. Unter der Überschrift "Work smarter not harder" wird nach der Arbeitseinstellung von Berufseinsteiger:innen gefragt. Das Streben nach Selbstverwirklichung führe immer wieder zu Irritationen, heißt es dort. So würde jungen Menschen mitunter vorgeworfen, faul oder unverschämt zu sein. Hierbei handele es sich aber um ein generationelles Missverständnis: "Es sind einfach andere Dinge, die die Gen Z motivieren. Umfragen zeigen beispielsweise, dass die Höhe des Gehalts und der Status ihnen nicht wichtig sind. Stattdessen geht es um Selbstverwirklichung, Spaß am Job, ein gutes Arbeitsklima sowie ein passendes Umfeld."

Auch wenn die Autorin betont, dass dies keineswegs Rückschlüsse auf die Leistungsbereitschaft der jungen Menschen zulässt, scheint die vermeintliche Unlust einer ganzen Generation Ärger und auch Ängste auszulösen. Von einem Generationenkonflikt ist die Rede: Der Vorwurf der Faulheit steht im Raum. In einer Reportage von Radio Bremen unter dem Titel "Kein Bock auf Arbeit? Die Work-Life-Balance der Gen Z" wird ein Sinneswandel festgestellt. Die berichtende Reporterin gesteht dabei, dass sie ebenfalls gerne weniger arbeiten würde. Allerdings führe dieser Wunsch zur Anschlussfrage: "Müssten wir nicht heute eher mehr arbeiten, um den Fachkräftemangel auszugleichen?"

Das Ideal der Selbstverwirklichung erscheint in der aktuellen Berichterstattung sowohl als neue Einstellung zur Arbeit, als naive Fantasie als auch als arbeitsmarktpolitischer Irrweg. Diese Vielfalt ist auffällig und erklärungsbedürftig. Die abwegige Gegenüberstellung der vermeintlichen Sinnsuche junger Menschen und des Fachkräftemangels lenkt dabei von konkreten Problemen der Arbeitswelt ab.

Dass die berufliche Sinnsuche weder ein neues noch ein Phänomen junger Menschen ist, zeigt der Coaching-Markt. Mit immer größeren Zuwachsraten, die nicht zuletzt auf sehr niederschwellige Online-Angebote zurückzuführen sind, hat sich berufliches Coaching über alle Unternehmenshierarchien ausgebreitet. Expert:innen führen den zunehmenden Bedarf auf die Überforderung mit den aktuellen Entwicklungen der Arbeitswelt zurück. In jedem Fall verspricht der Markt hohe Wachstumsraten.

Offensichtlich ist die Suche nach Sinn weitverbreitet und kein Generationenphänomen. Auch die in der aktuellen Debatte immer wieder anzutreffende Gegenüberstellung von "faulen Berufseinsteiger:innen" einerseits und "fleißigen Routiniers" andererseits führt in die Irre. Sie verstellt den Blick auf arbeitswissenschaftliche Konzepte, die längst Praxis geworden sind. Denn das Streben vieler Menschen nach Sinn und Erfüllung ist von Unternehmen längst als produktiver Faktor erkannt worden. Unter dem Stichwort "Job Enrichment" werden seit Jahren Modelle der wohldosierten Übertragung von "Freiheit" und Verantwortung erprobt, die Beschäftigte zufriedener machen sollen.

Selbstverwirklichung als zeithistorischer Untersuchungsgegenstand

Bereits in den 1960er Jahren propagierte der US-amerikanische Psychologe und Arbeitswissenschaftler Frederick Herzberg seine Vorstellungen von glücklicher Arbeit: Demnach sind Arbeiter:innen produktiver, wenn sie eigenverantwortlich mit komplexen Tätigkeiten betraut werden. Aus dieser Annahme abgeleitete Modelle wurden von US-amerikanischen und bald auch deutschen Unternehmen getestet und für wirksam befunden.

Der Wandel der Arbeitswelt hatte einen besonderen wirtschaftlichen Hintergrund. Ab Mitte der 1970er Jahre zwang die Globalisierung die Unternehmen zu Kosteneinsparungen. Indem den Arbeiter:innen komplexere Tätigkeiten zugewiesen wurden, konnten Arbeitsplätze eingespart und durch die Übertragung von mehr Verantwortung Kontrollinstanzen abgebaut werden. Das sogenannte Job Enrichment sollte auch bei monotonen Tätigkeiten für Zufriedenheit sorgen: Verspätungen, Ungenauigkeiten, Krankenstände oder gar (stille) Kündigungen sollten so vermieden werden.

Das scheinbar unaufhaltsame Streben nach Freude an der Arbeit ist also weniger auf gelungene Selbstermächtigung als vielmehr auf wissenschaftlich fundierte und systematisch betriebene Beeinflussung zurückzuführen. Nicht Konfuzius, sondern unternehmerische Raffinesse stand demnach Pate bei der Durchsetzung eines Paradigmas der Arbeitsfreude. Wenn der Südwestrundfunk von "Selbstverwirklichung" und "Spaß am Job" spricht, bringt er die Motivationstheorie von Frederick Herzberg auf den Punkt. Obwohl dies bereits in den 1970er Jahren von Harry Bravermann nachgewiesen wurde und die Historikerin Sabine Donauer jüngst in einer Dissertation die entsprechende Dynamik herausgearbeitet hat, scheint der Zusammenhang von Freiheit und Selbstverwirklichung einerseits und Leistung und Ausbeutung andererseits nach wie vor zu irritieren.

Das sagt auch etwas über die Geschichtswissenschaft aus. Denn die Geschichte der Arbeit wurde lange Zeit als Geschichte der Strukturen und Organisationen der weißen Arbeiterschaft geschrieben. Untersuchungen, die über das Jahr 1945 hinausgingen, waren selten. Dieses Feld wurde den Sozialwissenschaften überlassen, in denen das Spannungsverhältnis von Arbeitsfreude und Ausbeutung genauer untersucht wurde. Ulrich Bröcklings Arbeiten zum "unternehmerischen Selbst" sowie Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Untersuchungen zum modernen Kapitalismus haben zentrale Schauplätze der neuen Arbeitswelt analysiert.

Angesichts dieses sozialwissenschaftlichen Vorrangs ist die Bedeutung jener geschichtswissenschaftlichen Studien besonders hervorzuheben, die sich in jüngster Zeit unter dem Stichwort der "Humanisierung der Arbeit" sowie dem des "Wertewandels" der Arbeiter:innengeschichte widmen. Teils in Übereinstimmung, teils in kritischer, aber produktiver Auseinandersetzung mit dem zeithistorischen Konzept des "Strukturbruchs", das ab 1970 einen politisch und sozial folgenreichen Niedergang traditioneller Industrien konstatiert, untersuchen sie die Bedeutung arbeitspolitischer Debatten, Initiativen und Programme in der Bundesrepublik. Dabei fällt allerdings eine gewisse Distanz – teilweise sogar Ablehnung – gegenüber sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf. Neben diesen interdisziplinären Verständigungsschwierigkeiten konzentriert sich die Forschung bisher vor allem auf das Management. Während für dessen Entwicklung bereits Monografien vorliegen, ist die Perspektive der Arbeiter:innen seit 1970 noch nicht hinreichend ausgeleuchtet worden.

Im Folgenden sollen daher Vorstellungen beruflicher Selbstverwirklichung als zeithistorischer Untersuchungsgegenstand angesprochen werden. Vor dem Hintergrund der unternehmerischen Vorkehrungen seit den späten 1960er Jahren und angesichts der aktuellen Debatte um Entschleunigung – insbesondere seit der Corona-Pandemie – erscheint eine diesbezügliche Historisierung überfällig. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Welche Aktualität, Akzeptanz und Attraktivität konnte die Idee der Selbstverwirklichung in der sich wandelnden Arbeitsgesellschaft entfalten? Wie erklären sich die Dynamik, die Anpassungsfähigkeit und letztlich die Langlebigkeit der damit verbundenen Vorstellungen – gerade angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte? Um diesen Fragen nachzugehen, ist es aufschlussreich, sich die Ratgeberliteratur und vor allem Stellenanzeigen im Wandel der Zeit näher anzuschauen.

Selbstverwirklichungsszenarien

Ratgeberliteratur

Das Genre der Ratgeberliteratur wurde bereits auf seinen kulturwissenschaftlichen Wert hin untersucht. So wurde schon in den 1980er Jahren auf ihre Eignung zur Rekonstruktion von Träumen und Idealen hingewiesen. Damals diskutierte die Amerikanistin Birgitta Koch-Linde die sogenannte Success-Literatur der USA der 1970er und 1980er Jahre. Mithilfe von Ratgebern lieferte sie eine kulturwissenschaftliche Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft in der Hochzeit des Neoliberalismus.

Einen anderen Ansatz verfolgte die Soziologin Stefanie Duttweiler in ihrer 2007 veröffentlichten Dissertation. Sie analysierte einen Bestand von 100 Büchern, die zwischen Ende der 1990er Jahre und 2004 erschienen sind und den Anspruch erheben, Ratschläge zum Glücklichwerden bereitzuhalten. In Anlehnung an Boltanski, Chiapello und Bröckling untersuchte die Autorin die in den Ratgebern angewandten Techniken und zeigte, dass die vorgestellten Glückskonzepte und Anleitungen sowohl hinsichtlich eines persönlichen Anspruchs ("ich möchte glücklich sein") als auch eines gesellschaftlichen Befehls ("sei glücklich!") gelesen werden können.

Zwar geben, so Duttweiler, die Glücksratgeber vor, sich auf private Belange zu beziehen, doch die vorgeschlagenen Methoden sind als neoliberale Techniken der Selbstoptimierung zu lesen. Diese seien durch den modernen "Arbeitskraftunternehmer", der sich durch die Bereitschaft auszeichnet, sein professionelles sowie sein privates Leben weitgehend zu verschmelzen, zu beherrschen. Man kann davon ausgehen, dass eine solche Lektüre einerseits die Bereitschaft verstärkte, Vorstellungen von Selbstverwirklichung im Beruf zu entwickeln, andererseits die Form, Priorität und Reichweite solcher Arbeitsträume beeinflusste.

Anknüpfend an die Studien von Koch-Linde und Duttweiler könnten diese Ansprüche, Sehnsüchte und Bilder sowie die ihnen zugrundeliegenden Anleitungen, Belehrungen und Befehle im historischen Wandel untersucht werden: Welche Strategien werden präsentiert? Welches Selbst- und Fremdbild wird dadurch suggeriert?

Stellenanzeigen

Eine zweite Möglichkeit, den Vorstellungen von beruflicher Selbstverwirklichung auf die Spur zu kommen, sind Ausschreibungstexte: Welche Ideale von Arbeit werden in Anzeigen kommuniziert? Zwar handelt es sich dabei um einen indirekten Zugang – also um unternehmerische Vorstellungen von Selbstverwirklichungsidealen. Diese Quelle bietet jedoch den Vorteil der leichten Verfügbarkeit – für zahlreiche Berufsfelder, über den gesamten Untersuchungszeitraum und in Medien unterschiedlicher Reichweite.

Sylvia Bendel hat sich bereits in den 1990er Jahren mit Stellenanzeigen beschäftigt. Die Sprachwissenschaftlerin wertete über 20000 Inserate aus Schweizer Zeitungen seit den 1950er Jahren maschinell nach besonders häufig verwendeten Begriffen aus. Dabei stellte sie eine zunehmende Professionalisierung der Texte fest. Unternehmen nutzten die Personalsuche auch zur Firmenwerbung. Gleichzeitig mit der rhetorischen Aufwertung stellte Bendel einen grundsätzlichen Wandel in der Haltung gegenüber den Adressat:innen fest: Potenzielle Arbeiter:innen wurden immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. Demnach drehten sich die Ausschreibungen in den vergangenen Jahrzehnten offenbar verstärkt um deren Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche. Dazu passt die zunehmend höflichere Formulierung der Anfragen – Kandidat:innen wurden "gebeten", sich zu bewerben, ab den 1970er Jahren wurde ein "persönliches Gespräch" in Aussicht gestellt. Die Unternehmen vermittelten ein Interesse am "Kennenlernen" potenzieller Mitarbeiter:innen. Über allem stand der Appell an das "Lustgefühl". Denn obwohl die Anzeigen immer länger, die Beschreibungen immer präziser wurden, sollte durch den Text das Bild der Freiheit, die Erwartung von beruflichem "Freiraum", von Gestaltungsmöglichkeiten suggeriert werden. Das Geforderte sollte das Gewünschte, das Notwendige das Erhoffte sein. Bendel zufolge würden die "realen Machtverhältnisse" hier "verschleiert".

Während früher die Suche nach "fleißigen" Arbeitskräften im Vordergrund stand, sind heute "dynamische" Mitarbeiter:innen gefragt. Bendels quantitative Analyse zeigt eine regelrechte Konjunktur der Freude. Auch Begriffe wie "Bereitschaft", "Faszination" und "Wille" nahmen in den Anzeigen drastisch zu. In Anlehnung an Bravermann wäre vor diesem Hintergrund nach der Zunahme immaterieller Werte zu fragen: Begeisterung, Spannung, Motivation, Flexibilität. Welchen Stellenwert nehmen solche Positionen ein, die dazu geeignet sind, Vorstellungen von selbstbestimmter Entfaltung im Berufsleben zu befördern?

Welche Rolle solche Motive spielen, soll nachfolgend analysiert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Aufladen mit scheinbaren Sinngehalten bei niedrig dotierten Stellen auffälliger und damit leichter nachzuvollziehen ist als bei solchen, die dem Stelleninhaber wegen der größeren Komplexität und Eigenverantwortung von jeher mehr Freiraum eingestehen mussten. Aus diesem Grund wurden in einer Auswahl Positionen mit Bezug zum Verkauf im Angestelltenverhältnis erhoben, wie sie zwischen 1970 und 2010 in Regionalzeitungen ausgeschrieben wurden. Es wurden alle Verkaufsanzeigen in der jeweils ersten Samstagsausgabe der Monate Juni der Jahre 1970, 1980, 1990, 2000 und 2010 der "Frankfurter Neuen Presse" erfasst und eine exemplarische Auswahl einer Feinanalyse unterzogen.

Das Erscheinungsbild des Stellenmarktes ändert sich in dieser Zeit kaum. Stets bestimmen mehr oder weniger gleichförmige Kacheln das Bild. Die meisten Anzeigen bestehen dabei nur aus Text. Seltener sind Logos, Wappen oder Fotos integriert. Strukturiert werden die Anzeigen durch Titel, Untertitel und durch die Hervorhebung der gesuchten Stellen. Die Texte beschränkten sich 1970 zunächst auf die eigentliche Ausschreibung. Der Stil kann als selbstbewusst und locker, manchmal fast frech beschrieben werden.

So warb der Versandhändler Neckermann unter der Überschrift "Erfolgreich sein": "Können Sie mit Geld umgehen? Mit viel Geld! Für eine verantwortungsvolle Position innerhalb der Hauptkasse unserer Zentrale in Frankfurt suchen wir einen Mitarbeiter mit guten kaufmännischen und buchhalterischen Kenntnissen. Neben guter Bezahlung bieten wir viele andere Vorteile eines Großunternehmens. Hierüber und über die Möglichkeiten des Weiterkommens informieren wir Sie gern." Das Unternehmen schlägt einen durchaus konkreten Handel vor. Ein ähnlicher Tonfall findet sich in einer weiteren Anzeige: "Wir suchen also ‚fertige‘ Mitarbeiter, solche, die wir nicht erst lange ‚aufbauen‘ müssen, die bereits Branchenerfahrung und Produktkenntnisse haben. Entsprechend wird Ihr Verdienst sein."

In der hier untersuchten Auswahl vergrößert sich der vermittelte Gestaltungsspielraum bis 1980 nicht wesentlich. Weder die Suche nach "freundliche[n] und leistungsstarke[n] Mitarbeiter/innen" noch die nach solchen "mit guten Schreibmaschinenkenntnissen" lassen auf eine besondere Aufladung mit Sinngehalt schließen. Lediglich das Angebot der "selbstständige[n] Betreuung eines ausgewählten Kundenkreises" deutet auf einen größeren Gestaltungsspielraum hin, der allerdings durch die folgende Aufzählung eingeschränkt wird: "Dazu gehören Telefonverkauf, Korrespondenz, Auftragsbearbeitung." Auch die Zusicherung einer "angemessene[n] Einarbeitung", die sich in ähnlicher Weise auch an anderer Stelle findet, vermittelt eher das Bild von Struktur und Kontrolle als von Offenheit und Selbstbestimmung.

Zehn Jahre später ist ein Nebeneinander von konkreten Angeboten und solchen, die zur Förderung von Verwirklichungsfantasien geeignet sind, erkennbar. So überrascht in der Stellenanzeige für eine Spielothek weniger der Wunsch nach einer Mitarbeiterin (sic!) mit "Laune, Charme & Schwung" als die offen formulierte Frage dahinter: "Haben Sie Spaß am Umgang mit Menschen?" Auch die im Gegenzug angebotenen "Interessante[n] Arbeitszeiten" bleiben vage. Gleichzeitig wird allerdings mit der Möglichkeit eines "Dauerarbeitsplatzes" geworben. Ein anderes Unternehmen wünscht sich "selbstständiges ziel- und ergebnisorientiertes Arbeiten" sowie "Einsatzbereitschaft und Durchsetzungsvermögen". Geboten wird "ein festes Arbeitsgebiet", aber auch: "sehr gute Entwicklungsmöglichkeiten".

Bis zum Jahr 2000 vollzieht sich ein grundlegender Wandel. Jetzt geht es um "hohe Einsatzbereitschaft, Flexibilität, Qualitätsbewußtsein und selbstständiges Arbeiten". Ein Autohaus mit dem Motto "Immer in Bewegung" sucht jemanden, der oder die als "Profi" die Arbeitsabläufe "optimieren" kann. Es sei eine "anspruchsvolle Aufgabe". Im Gegenzug wird mit Begriffen gearbeitet, die auf konkrete Werte schließen lassen: Es wird ein sicherer Arbeitsplatz in einem "Familienunternehmen" geboten. Andere Angaben betonen den Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter:innen, das "leistungsgerechte Gehalt" und den "vielseitige[n] Arbeitsplatz". Der Gesamteindruck wird durch den in Aussicht gestellten Start in eine "neue Zukunft" zusammengefasst.

Weitere zehn Jahre später lässt sich 2010 die Professionalisierung der Anzeigentexte unter der Überschrift "Exzellente Mitarbeiter sind so rar wie exzellenter Kaffee" eindrucksvoll nachvollziehen. Eine junge Frau schaut den Leser an, während sie ihren Kaffee genießt. Erst nach einer Einleitung, in der auf eine "Trilogie aus Kapseln, Maschinen und Nespresso-Club" hingewiesen wird, folgt die Stellenbeschreibung für die "Boutique". Schon die Lektüre der Anzeige wird zum Erlebnis. Dementsprechend lautet die erste Aufgabe: "Mit Leidenschaft beraten und verkaufen". Außerdem gilt es, für den "ausgezeichneten" Eindruck des Geschäfts zu sorgen. Gefordert werden neben einer Ausbildung unter anderem ein "offenes Wesen", "sichere[r] und gepflegte[r] Auftritt" sowie "Zuverlässigkeit und Flexibilität". Geboten werden "interessante Zukunftsperspektiven, vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten und attraktive Konditionen".

Das Unternehmen nutzt das Genre der Anzeige konsequent zur Selbstdarstellung. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Beschäftigten zu. Sie sollen nicht mehr für einen anonymen Großkonzern arbeiten, sondern in einer "Boutique" beraten und verkaufen wollen. Es geht jetzt sowohl um "Leidenschaft" als auch um "Flexibilität": Interesse, Vielfältigkeit und Attraktivität. Der gebotene Rahmen wird nicht durch die Nennung konkreter Leistungen belastet, bleibt offen und wirkt dadurch umso exklusiver: Hier wird passgenau nach Selbstverwirklicher:innen gesucht.

Die hier skizzierte Entwicklung setzt sich bis heute fort. Der Handel mit exklusiven, immateriellen Werten gehört ebenso dazu wie das emotionale Aufladen selbst nebensächlicher Verantwortlichkeiten. In der Zusammenschau wird deutlich: Anzeigen sind Werbung. Diese Feststellung mag trivial erscheinen, ist im Hinblick auf die hier interessierende Fragestellung aber von Bedeutung. In dem Maße, wie Unternehmen ihre Selbstdarstellung professionalisieren, produzieren sie immer vollkommenere Bilder von Arbeit. Bei weiteren Versuchen, Bilder und Träume von Arbeit zu entschlüsseln, sind diese werbetechnischen Fortschritte zu berücksichtigen.

Schluss

Seit 1970 nehmen atypische Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik zu. Auf deren erhebliches prekäres Potenzial ist bereits hingewiesen worden. Welchen Preis die Gesellschaft dafür politisch und sozial, jeder und jede Einzelne privat und gesundheitlich zu zahlen hat, wurde durch den erzwungenen Stillstand großer Teile des Arbeitslebens während der Corona-Pandemie deutlich. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Debatte über Arbeit eine besondere Aktualität erlangt hat. Sie wird jedoch durch grundlegende Missverständnisse erschwert. Wie sonst ist es zu erklären, dass der "superglückliche", sich in Selbstausbeutung verwirklichende "Malocher" derzeit gleichermaßen als karrieristisches Ideal, als unternehmerischer Geniestreich und als Verkörperung von Anmaßung und Faulheit gelten kann? In der aktuellen Berichterstattung überwiegt der Eindruck einer polarisierenden Projektion auf junge Menschen.

Die hier skizzierten Zugänge verstehen sich als Annäherungen zur Historisierung von Idealen und Träumen beruflicher Selbstverwirklichung. Die methodischen Schwierigkeiten – etwa im Hinblick auf sich wandelnde Begrifflichkeiten – sind offensichtlich. Dennoch kann die historische Analyse dazu dienen, die Kommunikation vorgestellter Arbeitsrealitäten besser zu verstehen. Dabei zeigt sich, dass der Austausch immaterieller Güter – Leidenschaft, Flexibilität, Freude – immer wichtiger wird. Die Bereitschaft zur weitgehenden Verschmelzung emotionaler, sozialer und beruflicher Ausdrucksformen wird vorausgesetzt. Wie sehr es sich bei diesem Prozess um einen aktiven oder einen antizipativen Vorgang handelt, bedarf weiterer Forschung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Catharina Schulz, Traumjob gesucht? Diese sieben Tipps helfen Dir, ihn zu finden, 12.3.2023, Externer Link: http://www.suedkurier.de/art416,11491616.

  2. Christina Sona, Was wir uns von der Arbeitseinstellung der Gen Z abschauen sollten, 21.3.2023, Externer Link: http://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/new-work-gen-z-arbeit-motivation-einstellung-rlp-100.html.

  3. Kein Bock auf Arbeit? Die Work-Life-Balance der Gen Z, 5.7.2023, Externer Link: http://www.ardmediathek.de/video/past-forward/kein-bock-auf-arbeit-die-work-life-balance-der-gen-z/ard/Y3JpZDovL3JhZGlvYnJlbWVuLmRlLzA1NWY0NTIxLTRiNTYtNDdhYi04NTFiLWY1NDgzZGIzMTQxOC9lcGlzb2RlL3VybjphcmQ6c2hvdzpiYWE0OTJhNTE2YTRmZDg5.

  4. Vgl. Carina Schwab, Orientierungslos. Sinnsuchende befeuern Coaching-Markt, 12.6.2023, Externer Link: https://orf.at/stories/3318509.

  5. Vgl. Sabine Donauer, Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt, Hamburg 2015, S. 58–64.

  6. Vgl. Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß, Frankfurt/M.–New York 1977, S. 37–40; Donauer (Anm. 5), 65 f.

  7. Vgl. Kim Christian Priemel, Heaps of Work. The Ways of Labour History, 23.1.2014, Externer Link: http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/fdl-136825.

  8. Vgl. Dietmar Süß/Winfried Süß, Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen und Perspektiven, in: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), "Nach dem Strukturbruch"? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011, S. 345–365, hier: S. 355.

  9. Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 20135; Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Stuttgart 2006.

  10. Vgl. Karsten Uhl/Stefan Müller/Nina Kleinöder (Hrsg.), "Humanisierung der Arbeit". Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2019.

  11. Vgl. Bernhard Dietz/Jörg Neuheiser (Hrsg.), Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt. Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017.

  12. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels "nach dem Boom", in: Andresen/Bitzegeio/Mittag (Anm. 8), S. 25–40.

  13. So wird der Übergang zu einem "neoliberalen" Zeitalter von Dietz und Neuheiser in die Nähe einer populären Darstellung gerückt: Vgl. Bernhard Dietz/Jörg Neuheiser, Diesseits und jenseits der Welt der Sozialwissenschaften. Zeitgeschichte als Geschichte normativer Konzepte und Konflikte in der Wirtschafts- und Arbeitswelt, in: dies. (Anm. 11), S. 7–30, hier: S. 7.

  14. Vgl. Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002; Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008.

  15. Vgl. Süß/Süß (Anm. 8), S. 355.

  16. Vgl. Birgitta Koch-Linde, Amerikanische Tagträume. Success und Self-Help-Literatur der USA, Frankfurt/M. 1984, S. 10.

  17. Vgl. Stefanie Duttweiler, Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz 2007.

  18. Vgl. Gerd-Günter Voß/Hans J. Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50/1998, S. 131–158.

  19. Vgl. Sylvia Bendel, Von der Stellenausschreibung zur Personalwerbung. Sprachliche Veränderungen in den Stelleninseraten und ihre Bedeutung, 1999, Externer Link: http://www.sbendel.ch/wp-content/uploads/2021/02/Stellenanzeigen_Sprachwandel.pdf.

  20. Vgl. ebd., S. 7 f.

  21. Vgl. ebd., S. 8–19.

  22. Vgl. ebd., S. 19.

  23. Vgl. ebd., S. 29.

  24. Anzeige Neckermann, FNP, 6.6.1970, S. 25.

  25. Anzeige Jean H. Nies, FNP, 6.6.1970, S. 26.

  26. Anzeige Inter Pares, FNP, 7.6.1980, S. 19.

  27. Anzeige Stadtwerke Oberursel, FNP, 7.6.1980, S. 19.

  28. Anzeige BASF, FNP, 7.6.1980, S. 20.

  29. Anzeige Spielothek Gauselmann-Gruppe, FNP, 2.6.1990, S. 21.

  30. Anzeige Xero Flor Begrünungen, FNP, 2.6.1990, S. 21.

  31. Anzeige Auto Bach, FNP, 3.6.2000, II RMM.

  32. Anzeige Nespresso, FNP, 5.6.2010, S. 3.

  33. Vgl. Jürgen Kocka, Arbeit im Kapitalismus. Lange Linien der historischen Entwicklung bis heute, in: ApuZ, 35–37/2015, S. 10–17, hier: S. 16.

  34. Vgl. Nicole Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen "Normalarbeitsverhältnis" zu prekärer Beschäftigung seit 1973, Berlin 2003, S. 51–54.

  35. Christiane Reymann, Superglückliche Malocher. Tischkicker und Ringe unter den Augen – arbeiten bei einer Internetfirma, in: Manfred Moldaschl/Gerd-Günter Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, München–Mering 2003², S. 312–316.

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