"Deutschland kommt jetzt die wesentliche Aufgabe zu, als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung zu übernehmen, indem wir in unsere Streitkräfte investieren, die europäische Rüstungsindustrie stärken, unsere militärische Präsenz an der Nato-Ostflanke erhöhen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden und ausrüsten," führte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Dezember 2022 in dem außenpolitischen Magazin "Foreign Affairs" aus.
Im Februar 2022 hatte der großangelegte Militärangriff Russlands gegen die Ukraine die Welt erschüttert. Seitdem ist die sicherheitspolitische Ordnung der Post-1989-Ära ins Wanken geraten, und kurz vor dem 75. Geburtstag der Nato scheint eine Neugestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur unumgänglich. Deutschland hat mit seiner "Zeitenwende" einen Prozess zur Neuausrichtung seiner Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet und muss nun, als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land der EU, eine europäische Führungsrolle übernehmen – eine Führungsrolle wie sie seit Jahren sowohl von europäischen als auch transatlantischen Partnern eingefordert wird.
Die Bundesregierung kündigte an, deutlich mehr in Verteidigung zu investieren. Nicht nur wolle sie in Zukunft das von der Nato festgelegte Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in Verteidigungsausgaben erreichen.
Laut Olaf Scholz werden für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen die transatlantischen Beziehungen "zentral" sein. In seinem "Foreign Affairs"-Beitrag betonte er, dass das transatlantische Bündnis nach der großangelegten russischen Invasion der Ukraine "stärker als je zuvor" sei. Dies findet sich auch in der neuen Sicherheitsstrategie, die die Bundesregierung im Sommer 2023 vorgelegt hat.
Nach vier schwierigen Jahren während der US-Präsidentschaft von Donald Trump, die durch zahlreiche Konflikte geprägt waren, erlaubte die Wahl von Joe Biden einen Neustart in den transatlantischen Beziehungen. Während des Besuchs von Olaf Scholz in Washington, D.C. Anfang März 2023 bedankte sich Biden für die "profunde" Unterstützung Deutschlands in der Ukraine-Frage: "Ich möchte Ihnen für Ihre starke und beständige Führung danken. Ich meine das aufrichtig. Sie hat einen großen Unterschied gemacht."
Doch sind die transatlantischen Beziehungen wirklich so stark, wie sie der Bundeskanzler beschreibt? Ist die Zeitenwende aus US-amerikanischer Sicht ausreichend, und kommt sie rechtzeitig und schnell genug?
Von Obama über Trump zu Biden
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen zeichnen sich seit Jahrzehnten durch ein starkes Fundament gemeinsamer Werte, Traditionen, Interessen und Ziele aus. Gleichwohl sind die Beziehungen nie frei von Konflikten. Während ihrer 16-jährigen Amtszeit, die vier US-Präsidenten umspannte – George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden – musste Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrere Krisen und Konflikte meistern.
Dabei zeichnete sich Merkels Führung durch eine gewisse Kontinuität und pragmatische Herangehensweise an die transatlantischen Beziehungen aus. Sie befürwortete konsequent einen multilateralen Ansatz in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: Sie setzte sich für vertiefte Integration innerhalb der EU und der Nato ein und förderte die Zusammenarbeit in multilateralen Organisationen wie den Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Merkel spielte auch eine wichtige Rolle in informellen internationalen Foren wie der G7, G20 oder dem Normandie-Format zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine.
Mit dieser klaren multilateralen Haltung grenzte sie sich mitunter von anderen westlichen Staatschefs ab. Zum Beispiel verteidigte sie 2019 die Nato nachdrücklich gegen verbale Attacken des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dieser hatte die Organisation kurz vor ihrem 70. Geburtstag als "hirntot" bezeichnet und den USA vorgeworfen, kein verlässlicher Partner mehr für Europa zu sein. Merkel reagierte darauf, indem sie die transatlantische Partnerschaft als "unabdingbar" für die Sicherheit Europas bezeichnete.
Präsident Obama (2009–2017)
Während der Präsidentschaft von Barack Obama arbeiteten die transatlantischen Partner eng zusammen, um die Nato an neue Sicherheitsbedrohungen anzupassen. Dazu gehörten Bereiche wie Cybersecurity, Terrorismusbekämpfung und Rüstungskontrolle.
Allerdings gab es auch immer wieder Spannungen zwischen den beiden Ländern. Im Zuge der Abhöraffäre um den US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) 2013 ging viel Vertrauen im deutsch-amerikanischen Verhältnis verloren. Nach Russlands Invasion der Krim und der Ostukraine 2014 befürworteten die USA härtere Sanktionen gegen Russland und warnten vor einer zu großen Abhängigkeit von Russland in Energiefragen. Deutschland war aufgrund seiner engen Beziehungen mit Russland hingegen über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sanktionen besorgt.
Ein stetiger Zankapfel waren die Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Staaten – insbesondere Deutschlands. Obama drängte wiederholt darauf, dass die Mitglieder der Allianz ihre Verteidigungsausgaben erhöhen und das Ziel von zwei Prozent des BIP erreichen. Ein weiteres wichtiges Thema war der Afghanistan-Konflikt. Deutschland beteiligte sich seit 2003 an der Nato-geführten ISAF-Mission (International Security Assistance Force). In der deutschen Öffentlichkeit war der Einsatz umstritten. 2014 hielten lediglich 35 Prozent der Bevölkerung das deutsche Engagement für "sinnvoll", während nur 27 Prozent der Aussage zustimmten, dass der Aufwand für den Einsatz gerechtfertigt sei.
Präsident Trump (2017–2021)
Während der Präsidentschaft von Donald Trump kühlten sich die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland spürbar ab. 2018 verhängte Trump Sonderzölle auf Stahl und Aluminium aus Europa mit dem Argument, dass diese eine Bedrohung für die nationale Sicherheit Amerikas darstellten. Die Europäische Union reagierte ihrerseits mit Zöllen auf US-Waren.
Schon vor seinem Amtsantritt äußerte sich Trump kritisch gegenüber der Nato. So bezeichnete er das Bündnis beispielsweise als "obsolet".
Auch die Ankündigung, US-Truppen aus Deutschland abzuziehen und einen Teil von ihnen nach Polen zu verlegen, war ein brisantes Thema, das das langfristige Engagement der USA für die Sicherheit Europas infrage stellte.
Präsident Biden (seit 2021)
Gleich nach Amtsantritt arbeitete Präsident Biden intensiv daran, die Beziehungen zwischen den USA und ihren internationalen Partnern zu stärken. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2021 bekannte er sich zur Nato und den transatlantischen Beziehungen. Die USA stünden zum Bündnis und zur Beistandspflicht in Artikel 5.
Ein wichtiges Thema für Biden, das bereits während der Amtszeit von Trump an Bedeutung für die transatlantischen Beziehungen gewonnen hatte, ist China. Obwohl Biden in vielen Bereichen eine Abkehr von der Außenpolitik seines Vorgängers vollzog, setzte er den Konfrontationskurs mit der Volksrepublik fort, gerade auch in Fragen von Menschenrechten und Sicherheit.
Zweifel an der Verlässlichkeit der USA als Bündnispartner entstanden im Rahmen der Gründung des trilateralen Militärbündnisses zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA 2021 (AUKUS). Frankreich, das Australien mit Diesel-U-Booten beliefern sollte, wurde von den USA und dem Vereinigten Königreich überboten, die nun ihrerseits das pazifische Land mit nuklearbetrieben U-Booten beliefern. Frankreich entstand dadurch ein Schaden in Milliardenhöhe. Der chaotische Abzug der US-Truppen aus Afghanistan markierte einen weiteren Rückschlag in den transatlantischen Beziehungen. Europäische Verbündete äußerten Besorgnis über die einseitigen Entscheidungen der USA.
Transatlantische Beziehungen in der Zeitenwende
Seit dem Beginn der großangelegten russischen Invasion ist die Ukraine in den Mittelpunkt der sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland gerückt. Die USA haben zweifellos eine herausragende Rolle in der Unterstützung des Landes eingenommen und sind mit insgesamt zugesagten 113 Milliarden US-Dollar der größte Einzelunterstützer der Ukraine.
Deutschland befand sich zu Beginn der großangelegten russischen Invasion in einer komplexen Lage. Aufgrund der Sorge vor einer Eskalation und der Ausbreitung des Kriegs zögerte die Bundesrepublik anfänglich, die Ukraine mit schweren Waffen zu unterstützen. Erst unter internationalen Druck entschied sie sich, militärische Güter zu liefern. Deutschland hat im Verlauf des Jahres 2022 seine Position entscheidend angepasst und eine wesentliche Rolle bei der Unterstützung der Ukraine eingenommen. Neben humanitärer Hilfe stattete Deutschland die Ukraine auch mit schwerer Ausrüstung aus, darunter Raketenwerfer, selbstfahrende Haubitzen, Flugabwehrgeschütze, gepanzerte Fahrzeuge, Luftverteidigungssysteme und schließlich auch Kampfpanzer. Deutsche Bundeswehr-Standorte dienten darüber hinaus als Orte für die Ausbildung ukrainischer Soldaten. Gleichzeitig ergriff Deutschland eine Vielzahl von Maßnahmen, um seine Energieabhängigkeit von Russland zu reduzieren.
Die transatlantische Dimension der deutschen Waffenlieferungen wurde besonders bei der Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern im Januar 2023 deutlich. Deutschland stimmte der Lieferung seiner Leopard-2-Panzer nur unter der Bedingung zu, dass die USA gleichzeitig M1-Abrams-Panzer an die Ukraine liefern würden. Obwohl dies anfangs Unstimmigkeiten in der Nato und den USA auslöste, lenkte die US-Seite schließlich ein, und Deutschland lieferte Leopard-Panzer an die Ukraine.
Wie die Deutsche Zeitenwende in den USA ankommt
Seit der Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz schaut die Welt auf Deutschland und beobachtet genau, ob die Bundesregierung ihrem Anspruch, mehr Verantwortung innerhalb der Nato zu übernehmen, gerecht wird.
Amy Gutmann, die US-Botschafterin in Deutschland, lobte in einer Rede die Entscheidung Deutschlands, seine Streitkräfte zu stärken, als "kühn und historisch".
Nicht alle in den USA teilen jedoch diese Meinung. Der republikanische Senator J.D. Vance aus Ohio, der dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump politisch nahesteht, kritisierte beispielsweise Deutschlands Engagement und bezeichnete es als unzureichend. Er nannte die deutsche Energiepolitik der vergangenen Jahre "idiotisch" und bezeichnete die Verteidigungspolitik als schwach und als Belastung für US-Steuerzahler.
Diese unterschiedlichen Einschätzungen verweisen auf eine wachsende Kluft innerhalb der US-Außenpolitik. Sie sind Ausdruck einer zunehmenden Frustration einiger Republikaner über die Rollenverteilung innerhalb der Nato im Allgemeinen und mit dem sicherheitspolitischen Engagement von Deutschland und einigen anderen europäischen Partnern im Speziellen. Die unterschiedlichen Ansichten der Demokraten und Republikaner spiegeln darüber hinaus auch die unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle der USA in der Weltpolitik wider. Während die Demokraten unter Präsident Biden weiterhin an einem internationalistischen Ansatz festhalten, hat die Republikanische Partei unter dem Druck des sogenannten MAGA-Flügels ("Make America Great Again") von Ex-Präsident Trump einen eher isolationistischen Kurs eingeschlagen.
Auch in der US-Bevölkerung wird diese Spaltung deutlich. Laut Umfragen des Pew Research Centers sind 60 Prozent der Demokraten der Meinung, dass es für die Zukunft des Landes am besten ist, sich weiterhin in der Weltpolitik zu engagieren. Bei den Republikanern vertritt eine überwältigende Mehrheit von 71 Prozent die Meinung, dass sich die USA stärker auf inländische Angelegenheiten konzentrieren sollten. Die meisten Amerikaner haben eine positive Einstellung zur Nato: 62 Prozent äußerten sich positiv, während 35 Prozent eine negative Meinung über die Organisation haben. Auch hier gibt es allerdings Unterschiede entlang von Parteilinien: Bei Demokraten und den Demokraten nahestehenden Wählern liegt der Anteil bei 76 Prozent, bei Republikanern und der "Grand Old Party" nahestehenden Personen nur bei 49 Prozent.
Die US-Wahlen und das "danach"
Die transatlantischen Beziehungen sind zurzeit so gut wie seit Jahren nicht mehr. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Nato wiederbelebt. Von "hirntot", inneren Zerwürfnissen oder einer Erosion ist keine Rede mehr. Ob sich dieser positive Trend jedoch fortsetzt, bleibt abzuwarten.
Jenseits des Atlantiks wird dies nicht zuletzt vom Ausgang der nächsten Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2024 abhängen. Bei den Demokraten gilt die Nominierung des amtierenden Präsidenten Joe Biden als so gut wie sicher. Sollte er das Rennen um das Weiße Haus gewinnen, würde dies mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gewisse Kontinuität in der US-Politik bedeuten. Biden dürfte sich auch in einer zweiten Amtszeit für eine Festigung der Beziehungen zwischen den USA und Europa einsetzen und multilaterale Ansätze zur Konfliktlösung priorisieren. Die Fortsetzung der Hilfslieferungen an die Ukraine wäre unter ihm deutlich wahrscheinlicher als unter einem republikanischen Präsidenten. Allerdings wird auch Biden stärker unter Druck geraten, je länger der Krieg andauert. Entsprechend lauter dürften die Forderungen an die Bündnispartner – gerade auch Deutschland – werden, sich noch stärker an der sicherheitspolitischen Lastenverteilung zu beteiligen und ihre Verteidigungsausgaben zu steigern. Zudem dürfte auch unter einer zweiten Biden-Administration der Blick immer mehr nach Asien gerichtet sein. Die EU wird ein wichtiger Partner bleiben – aber nicht der einzige, um neue sicherheitspolitische Bedrohungen zu meistern.
Der Sieg eines Republikanischen Kandidaten – insbesondere, wenn es sich um eine Rückkehr von Trump handeln würde – könnte dahingegen erhebliche Veränderungen in der US-Politik zur Folge haben. Nicht nur Trump, sondern auch andere Republikanische Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur haben sich kritisch zur Nato geäußert. So beispielsweise der Unternehmer Vivek Ramaswamy, der den Nato-Beitritt der Ukraine ablehnt und dem Militärbündnis eine "internationalistische Agenda" vorwirft.
Deutschland dürfte, unabhängig vom Ergebnis der US-Wahlen, weiterhin bestrebt sein, seine Rolle in der Nato zu stärken und seine nationalen Sicherheitsfähigkeiten auszubauen. Umfragen deuten auf eine gewisse Unterstützung in der deutschen Bevölkerung hin. So gibt eine Mehrheit von 54 Prozent an, Vertrauen in die Nato zu haben.
Sicher ist: die transatlantische Partnerschaft wird auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit und Stabilität in Europa und der Welt sein. Deutschland und die USA werden zwangsläufig eng zusammenarbeiten müssen, um gemeinsame Herausforderungen wie Russlands Invasion in der Ukraine, den Aufstieg der Volksrepublik China und den globalen Klimawandel zu meistern. Die Zukunft der deutsch-amerikanischen Beziehungen und der Nato wird von der Fähigkeit beider Seiten abhängen, gemeinsame Interessen und Ziele zu definieren und in konkrete bi- und multilaterale Zusammenarbeit zu übersetzen. Dabei müssen trotz eventueller politischer Differenzen auch neue Formen der Kooperation entwickelt werden. Potenzial dafür bieten beispielsweise die Bereiche Cybersicherheit, Konfliktprävention und Krisenmanagement.