Seit Jahrzehnten setzt Russland in seiner Außenpolitik auf Einschüchterung, Erpressung und Krieg. Weder die wachsende wirtschaftliche Verflechtung mit Europa noch der Versuch einer diplomatischen Annäherung oder Appeasement-Politik haben dazu geführt, dass Russland zu einem friedlichen oder demokratischen Partner wurde. Im Gegenteil: Dass Russland nicht für seine Kriege zur Verantwortung gezogen wurde, etwa gegen Georgien 2008 oder die Ukraine 2014, hat den Weg zum Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 geebnet. Angesichts des aktuellen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, dem größten seit dem Zweiten Weltkrieg, steht die Welt am Scheideweg. Entweder wird die internationale Ordnung wiederhergestellt, indem der Aggressor gestoppt und zur Rechenschaft gezogen wird. Oder die Praxis des vorherigen Jahrhunderts, die Grenzen unabhängiger Staaten mit Gewalt zu verschieben, wird zur neuen Normalität.
Die Wiederherstellung eines nachhaltigen Friedens in Europa erfordert eine politische Neuausrichtung, da sich die bisherige Politik als ineffektiv erwiesen hat. Dazu gehört auch, sich über das De-facto-Vetorecht Russlands hinsichtlich einer Nato-Erweiterung hinwegzusetzen, das Russland nicht von einem Krieg abgeschreckt, sondern sogar dazu ermutigt hat. Die Aufnahme der Ukraine in die Nato war zu lange der politischen Maßgabe unterworfen, eine Provokation Russlands zu vermeiden, wodurch Ukraine wie Nato um ein für beide Seiten vorteilhaftes Bündnis gebracht wurden.
Neutralität und Appeasement ermutigen Aggressoren
Der Aufbau guter, belastbarer Beziehungen erfordert Anstrengungen auf beiden Seiten. Daran fehlte es vor der russischen Besetzung der Krim 2014 sowohl bei der Ukraine als auch der Nato. Die Schritte der Ukraine in Richtung Nato wurden im eigenen Land durch massive russische Propaganda untergraben. Gleichzeitig konzentrierten sich die Nato-Mitgliedstaaten auf die Einbindung der mitteleuropäischen und baltischen Staaten, wodurch die Ukraine an den Rand gedrängt wurde. Außerdem räumte man der Haltung Russlands Priorität ein.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste die unabhängig gewordene Ukraine ihren Platz im internationalen Sicherheitsgefüge finden. Einerseits suchte sie nach externen Sicherheitsgarantien, zu denen auch die Mitgliedschaft in verschiedenen Bündnissen und Organisationen gehörte. Auf Druck der USA und Russlands verpflichtete sich die Ukraine 1994, auf ihr Atomwaffenarsenal, das drittgrößte weltweit, zu verzichten.
Russland zögerte, die unabhängige Ukraine ziehen zu lassen. Für Spannungen sorgten etwa der Status der Krim und des Flottenstützpunkts Sewastopol, die Aufteilung der Schwarzmeerflotte und der Verlauf der Grenzen. Schon damals nutzte Russland politische und wirtschaftliche Druckmittel, Drohungen und Desinformation gegen die Ukraine.
1992 begann die Ukraine mit der Nato zusammenzuarbeiten. 1994 trat sie der Partnerschaft für den Frieden bei, 1997 wurde die Nato-Ukraine-Charta unterzeichnet.
Innenpolitisch wurde die ukrainische Gesellschaft durch eine aggressive Anti-Nato-Propaganda einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen. Ängste aus der Zeit nach dem Kalten Krieg wurden geschürt, zudem litt das Image der Nato unter den Attacken von Politikern wie Natalia Vitrenko oder Viktor Janukowitsch, die in russischer Abhängigkeit standen. 2006 kündigte die Kommunistische Partei die Bildung einer "Anti-Nato-Fraktion" im Parlament an, und die Partei von Viktor Medwedtschuk drängte auf ein Referendum. Die ukrainische Regierung tat wenig, um den Nutzen einer Nato-Mitgliedschaft zu vermitteln.
Die Nato wiederum konzentrierte sich in jener Zeit in erster Linie darauf, eine kalkulierbare Partnerschaft zu Russland aufzubauen. 2002 wurde der Nato-Russland-Rat eingerichtet,
Beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest blockierten die deutsche und die französische Regierung einen gemeinsamen Antrag des ukrainischen Präsidenten Juschtschenko, der Ministerpräsidentin Timoschenko und des Parlamentspräsidenten Jazenjuk für eine Aufnahme der Ukraine in den "Membership Action Plan" (MAP). Die Bündnispartner einigten sich schließlich nur auf die vage Formulierung, die Ukraine werde in Zukunft Mitglied des Bündnisses werden und der MAP sei der nächste Schritt auf dem Weg dorthin. In den folgenden Jahren hielt die Nato ihre Zusage jedoch nicht ein und schuf damit einen fruchtbaren Boden für die wachsende Skepsis gegenüber der Allianz in der Ukraine.
Darüber hinaus wurde der russische Einmarsch in Georgien 2008 vom Westen weitgehend fehlinterpretiert. Danach verstärkten sich dort die Bedenken, eine Annäherung an Georgien und auch an die Ukraine voranzutreiben, und man suchte nach Möglichkeiten, die Beziehungen zu Russland neu zu gestalten. Dazu gehörten der "Reset" der US-Regierung unter Obama 2009 sowie das strategische Konzept der Nato von 2010,
Die westlichen Partner verkannten den strategischen Wert der Ukraine und zogen es vor, das russische De-facto-Veto gegen die Nato-Erweiterung zu akzeptieren. Der Ukraine ein positives Bild von der Nato zu vermitteln und sie bei der demokratischen Umgestaltung zu unterstützen, hatte für den Westen keine Priorität. So verfestigte sich in der ukrainischen Bevölkerung die Vorstellung, Blockfreiheit sei ein Garant für Sicherheit. Daher gab es 2010 auch keinen großen Aufschrei in der ukrainischen Gesellschaft, als das Parlament während der Präsidentschaft Janukowitschs ein Gesetz verabschiedete, das den blockfreien Status der Ukraine festlegte.
Im Februar 2014 annektierte Russland dann die Krim, trotz der Neutralität der Ukraine und der geringen Unterstützung der Bevölkerung für einen Nato-Beitritt. Die sowohl von der Nato als auch von der Ukraine verfolgte Politik der Nichtprovokation und Beschwichtigung Russlands war damit auf ganzer Linie gescheitert.
Der russische Krieg gegen die Ukraine
Die Jahre 2014 bis 2022 markierten eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der Nato, die jedoch noch nicht zu einer echten Einbindung geführt hat.
Die öffentliche Meinung in der Ukraine hat sich aufgrund der militärischen Aggression Russlands verändert. Die Befürwortung einer Nato-Mitgliedschaft stieg 2014 im Vergleich zu 2013 von 18 Prozent auf 47,8 Prozent. Durch den Angriff auf die gesamte Ukraine 2022 erreichte dieser Wert sogar 83 Prozent.
Die Majdan-Proteste 2013 und 2014 ("Revolution der Würde") haben das Bewusstsein für Gerechtigkeit und Demokratisierung geschärft. Die Ukraine hat eine ehrgeizige Reformagenda auf den Weg gebracht, die unter anderem darauf abzielt, Korruption zu bekämpfen, Transparenz zu gewährleisten, den öffentlichen Dienst zu entschlacken und das Justiz- und Bankensystem zu reformieren. Im Februar 2019 beschloss das Parlament, die Integration der Ukraine in den Europäischen- und den Euro-Atlantischen Raum in der Verfassung zu verankern.
Die Nato hat ihre Unterstützung für die Ukraine durch ein umfassendes Hilfspaket (Comprehensive Assistance Package, CAP), mehrere Treuhandfonds und Initiativen zum Kapazitätsaufbau erheblich verstärkt.
Die Ukraine verfügte also über einen Plan für die militärische Zusammenarbeit mit der Nato, dazu kamen bilaterale Ausbildungsvereinbarungen mit den USA, dem Vereinigten Königreich, mit Kanada und Litauen. Sie nahm regelmäßig an gemeinsamen multilateralen Übungen teil und richtete diese aus. Dennoch weigerte man sich stets, der Ukraine letale Waffen zu liefern, mit der Begründung, man wolle eine Eskalation vermeiden. Das änderte sich erst 2018 mit der Entscheidung der USA, Javelin-Panzerabwehrraketen zu liefern.
Auf dem Gipfel von Vilnius 2023 hoben die Bündnispartner den MAP als Bedingung für die Nato-Mitgliedschaft auf, sprachen der Ukraine jedoch keine politische Einladung aus und versäumten es, den euroatlantischen Weg der Ukraine konkret zu definieren.
eine Wiederholung früherer Fehler können wir uns nicht leisten
Für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen der Ukraine und der Nato gibt es im Grunde nur zwei Szenarien: Beitritt oder Nicht-Beitritt.
Mit einer Aufnahme der Ukraine würde man Russland die Botschaft übermitteln, dass eine souveräne Nation frei entscheiden kann, wo sie hingehört, und dass Einflusssphären für immer der Vergangenheit angehören. Die Aufnahme wird sich auf das konzentrieren, was für die Nato und die Ukraine am besten ist, und künftige russische Aggressionsakte verhindern.
Für die Ukraine ist die Nato-Mitgliedschaft die einzige kosteneffiziente und nachhaltige Sicherheitsgarantie, die mit der von der ukrainischen Bevölkerung geforderten Stärkung der Demokratie und inneren Reformen einhergeht. Die Allianz verfügt zudem über geeignete Instrumente, um die Reform des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungssektors zu beschleunigen. Während der Beitrittsgespräche kann sie als treibende Kraft für Reformen in der Ukraine fungieren.
Angesichts der gewaltigen Herausforderungen beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg bietet eine Nato-Mitgliedschaft auch die einzige glaubwürdige Garantie für Investoren, sich mittel- und langfristig in der Ukraine zu engagieren. Denn wer würde in dem Wissen investieren, dass seine Fabriken bald wieder zerstört werden könnten?
Die Vorteile eines Beitritts der Ukraine für die Nato werden oft unterschätzt. Im strategischen Konzept der Nato von 2022 wird Russland als "die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner" bezeichnet.
Auch in den NATO-Mitgliedstaaten steht die Bevölkerung einer Aufnahme der Ukraine zunehmend aufgeschlossen gegenüber, obwohl der Meinungsumschwung nicht ganz so drastisch ausfällt wie in der Ukraine. Inzwischen haben bereits 25 Nato-Staaten Erklärungen unterzeichnet, in denen sie den künftigen Beitritt der Ukraine unterstützen.
Der Aufnahmeprozess könnte und sollte noch vor Kriegsende beginnen. Das Bündnis würde trotzdem nicht in die Kämpfe hineingezogen. Zwischen dem Antrag und der Vollmitgliedschaft liegt ein langer Weg, und die Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrags gilt nur für Mitglieder. Wenn die Ukraine schließlich Mitglied der Nato ist, wird sie die Möglichkeit haben, die Kontrolle über ihr Hoheitsgebiet zurückzuerlangen. Außerdem zeigt die westdeutsche Nachkriegserfahrung, dass die Nato – sofern sie den politischen Willen dazu hat, einen Weg findet, ein Land aufzunehmen. So konnte die Bundesrepublik 1955 der Allianz beitreten, obwohl sie sich mit der DDR weiterhin in einer territorialen Konfliktsituation befand.
Wenn die Nato die Annäherung an die Ukraine hinauszögert, sendet sie Russland ein Signal der Schwäche. Ironischerweise geben die Verbündeten mit ihrem Bemühen, eine Eskalation um jeden Preis zu vermeiden, grünes Licht für weitere Aggressionen nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen andere Staaten, die Russland als Teil seiner Einflusssphäre betrachtet. Einige von ihnen sind bereits Teil der Nato.
Eine Nicht-Aufnahme würde die Ukraine zwingen, nach anderen glaubwürdigen Abschreckungsoptionen zu suchen, die jedoch sehr umfangreich und kostspielig wären, etwa eine weitere Militarisierung der ukrainischen Gesellschaft oder die Installation eines Luftabwehrsystems für die gesamte Ukraine. Ein Teil dieser Kosten würde auch auf den Schultern der Bündnispartner lasten, deren eigene Verteidigungsausgaben ebenfalls steigen würden.
Das Fehlen wirksamer Sicherheitsgarantien wird Russlands langfristigem Ziel der Entvölkerung der Ukraine Vorschub leisten. Eineinhalb Jahre nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine liegt die Zahl der Geflüchteten nach Angaben des UNHCR bei über 6,29 Millionen Menschen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Frauen und Kinder. Laut UN planen 65 Prozent der Befragten, "eines Tages" in die Ukraine zurückzukehren.
Da die Ukraine über die größte kampferfahrene Armee in Europa verfügt, die Zustimmung der Bevölkerung zu einer Nato-Mitgliedschaft überwältigend ist und Reformen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf einem guten Weg sind, gibt es außer Angst keine wirklichen Argumente gegen den sofortigen Beginn eines Aufnahmeverfahrens der Ukraine. Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagte kürzlich: "Ich verstehe die Sorgen, dass unsere Unterstützung der Ukraine das Risiko einer Eskalation in sich birgt, aber das Risiko verblasst, verglichen damit, dass wir Putin erlauben, diesen Krieg zu gewinnen."
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim