Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Irans neues Selbstverständnis | Naher Osten | bpb.de

Naher Osten Editorial „Alles außer Hetze ist sagbar“. Ein Gespräch über die Auswirkungen des Nahostkonflikts in Berliner Klassenzimmern Traumatisiert. Die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober - Essay Der Gazastreifen im Nahostkonflikt Vernetzt, fragmentiert. Terrororganisationen im iranischen Schattenreich Irans neues Selbstverständnis. Zwischen innenpolitischer Transition und außenpolitischem Aufstieg Der Nahe Osten zwischen Aufbruch und Staatszerfall. Ein Rückblick Im weltpolitischen Machtgefüge Der 7. Oktober als Wendepunkt? Neue Impulse für eine Friedenslösung - Essay

Irans neues Selbstverständnis Zwischen innenpolitischer Transition und außenpolitischem Aufstieg

Azadeh Zamirirad

/ 15 Minuten zu lesen

In der Islamischen Republik kündigt sich ein Generationswechsel an. In den vergangenen Jahren ist der Unmut in der Bevölkerung über verschiedene Missstände gewachsen. Das Regime setzt auf außenpolitische Machtdemonstration.

Unter Präsident Ebrahim Raisi steht die Islamische Republik Iran einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber. Dazu zählen neben einer ökologischen und wirtschaftlichen Dauerkrise auch ein anhaltender internationaler Konflikt um das iranische Atomprogramm, die niedrigste Wahlbeteiligung in ihrer Geschichte und die größten Massenproteste seit mehr als zehn Jahren. Dabei befindet sich Iran derzeit in einer kritischen Übergangsphase, in der die herrschaftspolitischen Weichen für die kommenden Jahrzehnte im Land gestellt werden sollen. Im Gegensatz zur innergesellschaftlichen Sphäre ist das Land außenpolitisch gestärkt aus der bisherigen Amtszeit von Raisi hervorgegangen. Die außenpolitischen Entwicklungen haben zu einem neuen Selbstverständnis Teherans auf globaler Ebene geführt, mit dem die iranische Führung innenpolitische Krisen zu kompensieren sucht.

Iran im Umbruch

Im Zentrum des zu erwartenden Machtwechsels steht das Amt des sogenannten Revolutionsführers – die höchste politische und religiöse Instanz im Staat. Seit über 30 Jahren bekleidet der Kleriker Ali Khamenei diese Position, dessen Herrschaft sich angesichts seines Alters von 84 Jahren dem Ende neigt. Einen reibungslosen Übergang in die Post-Khamenei-Ära zu gewährleisten, der die bestehende Ordnung nicht gefährdet, steht an erster Stelle der politischen Agenda.

In einer Ansprache anlässlich des 40. Jahrestags der Revolution von 1979 legte Khamenei 2019 seine persönliche Zukunftsvision für das Land vor. Mit der Verkündung des "zweiten Schritts der Revolution" (game dovome enqelab) rückte Khamenei die iranische Jugend ins Zentrum. Der Fokus auf die Jugend ergibt sich aus dem demografischen Wandel im Land, aus der massiven Kluft zwischen Gesellschaft und Staat sowie aus der Überalterung der Eliten in der Politik und im Klerus. Eine neue Generation an "Revolutionären" soll die Islamische Republik als politisches Projekt nicht nur künftig wahren, sondern zugleich die nächste Phase in der Entwicklung des Staats einleiten – verbunden mit dem Anspruch, die Weichen für eine neue "islamische Zivilisation" (tamadone eslami) zu legen.

Bei der Vision einer islamischen Zivilisation handelt es sich um ein von Khamenei zur Jahrtausendwende skizziertes Zukunftskonzept, mit dem auf globaler Ebene das Ideal einer transnationalen islamischen Weltgesellschaft realisiert werden soll. Khameneis Vorstellung einer globalen Ordnung steht im Gegensatz zum traditionellen Westfälischen Modell, das auf souveränen Nationalstaaten basiert. Der iranische Ansatz orientiert sich nicht an staatlichen Grenzen, sondern an religiösen Überzeugungen. Ziel ist die Etablierung eines gesellschaftspolitischen Raums islamischer Souveränität, in dem muslimische Glaubensgrundsätze die Basis für internationale Normen und Standards bilden. Khamenei sieht die Islamische Republik hier als politisches Vorbild und zugleich als Führungsmacht.

Mit der Proklamation des "zweiten Schritts" hat die Islamische Republik offiziell die Phase der politischen Transition eingeleitet. Diese zielt ausschließlich auf den Wechsel der Machtverhältnisse innerhalb des politischen Systems, keineswegs auf einen Übergang der autoritären Ordnung zu einer demokratischen. Dabei gibt der "zweite Schritt" keine Hinweise darauf, wer die Führung des Staats in Zukunft übernehmen könnte. Das Ausklammern dieser Frage ist dem "Nachfolgedilemma" in autokratischen Systemen geschuldet: Das Benennen eines Nachfolgers kann die Führungsposition Khameneis schwächen, das Unterlassen interne Machtkämpfe jedoch verschärfen. Beide Szenarien bergen Risiken für die bestehende Ordnung. Denn das iranische System ist durch ausgeprägte Gruppenkonflikte und konkurrierende Machtzentren charakterisiert. Trotz seiner herausragenden konstitutionellen Stellung ist daher auch der Revolutionsführer auf Rückkopplungsmechanismen mit den Eliten und Aushandlungsprozesse angewiesen, um die eigene Machtbasis zu sichern.

Gesellschaftliche Gegenwehr

Diese Machtbasis wird vonseiten der Gesellschaft immer stärker herausgefordert. Die Resilienz der autoritären Strukturen im Staat hat zu einer zunehmenden Resignation in der iranischen Bevölkerung gegenüber politischen Reformen geführt. Dabei war die Beteiligung an Wahlen trotz weitreichender Einschränkungen lange Zeit hoch. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen lag seit 1979 bei durchschnittlich 65,8 Prozent. Doch an den Parlamentswahlen von 2020 nahmen lediglich 42 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung teil, an den Präsidentschaftswahlen von 2021 weniger als 49 Prozent – ein historisches Tief.

Zum Sieger der jüngsten Wahlen wurde der Kleriker Ebrahim Raisi erklärt – berüchtigt als ehemaliges Mitglied einer Kommission, die Ende der 1980er Jahre Massenhinrichtungen politischer Gefangener zu verantworten hatte – ein völkerstrafrechtliches Verbrechen, das bis heute nicht aufgearbeitet wurde. Die Umstände seiner Wahl waren für die Islamische Republik ungewöhnlich. Freie oder faire Wahlen gemäß demokratischen Standards existieren nicht, doch lange Zeit wurde ein Spektrum an systemtreuen Gruppen zugelassen, die gegeneinander antraten. Dadurch haben in der Islamischen Republik in den mehr als 40 Jahren ihres Bestehens unterschiedliche Lager die Regierung gestellt, darunter neben Hardlinern auch sogenannte Reformer und Pragmatisten.

Die Präsidentschaftswahlen von 2021 unterschieden sich von bisherigen Wahlzyklen dagegen dadurch, dass nicht nur die bedeutendsten Reformkandidaten als Kandidaten ausgeschlossen wurden, sondern selbst bekannte Persönlichkeiten des konservativen Lagers, die Raisis Sieg hätten gefährden können. Der offenkundige Eingriff in den Wahlprozess war selbst gemessen an den Standards der Islamischen Republik weitreichend. Er ist Ausdruck der Umsetzung des "zweiten Schritts" der Revolution, mit dem Khamenei sämtliche politische Prozesse der Transitionsphase untergeordnet hat und auf eine weitgehende Homogenisierung der Elitenlandschaft setzt. Durch die Wahlsiege seit 2020, unter anderem bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, haben nunmehr loyale Hardliner alle wesentlichen Machtzentren im Land besetzt.

Vor diesem Hintergrund ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken. Dabei richtet sich der Unmut der Bevölkerung nicht nur gegen die bestehende Führung und die Hardliner, sondern gegen alle offiziellen politischen Lager im Land. Wiederholt haben Reformer und Pragmatisten Erwartungen der iranischen Wählerschaft selbst nach geringfügigem gesellschaftspolitischem Wandel enttäuscht. Auch unter ihren Präsidentschaften blieben Repression, Zensur, eingeschränkte Pressefreiheit, Diskriminierung von Minderheiten, systematische Unterdrückung von Frauen sowie Folter und Hinrichtungen bestehen.

Daneben leidet die Bevölkerung unter einer weitreichenden ökologischen Krise, darunter Wasserknappheit und hohe Luftverschmutzung, und unter der anhaltenden wirtschaftlichen Misere. Langjähriges Missmanagement, verbreitete Korruption und ein ineffizienter Staatsapparat zählen zu den Hauptproblemen der iranischen Wirtschaft. Darüber hinaus haben nicht-rechenschaftspflichtige Akteure wie die paramilitärischen Revolutionsgarden in den vergangenen Jahrzehnten sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Sphäre weitreichend der eigenen Kontrolle unterstellt. Internationale Sanktionen, die aufgrund des iranischen Atomprogramms verhängt wurden, haben die angespannte Wirtschaftslage weiter verschärft. Für den zunehmenden Unmut in der Bevölkerung sind aber vor allem die staatliche Gewalt und Freiheitseinschränkungen verantwortlich. Seit 2017 wurde die Repression mehrfach landesweit angeprangert und die gesamte politische Ordnung offen infrage gestellt.

Zu den bedeutendsten Massenprotesten der vergangenen Jahrzehnte ist der "Frau, Leben, Freiheit"-Aufstand vom September 2022 zu zählen, der mehr als ein halbes Jahr anhielt und vom Staat brutal niedergeschlagen wurde. Der Tod von Jina Mahsa Amini in Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei, die die junge iranische Kurdin wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Kleiderordnung festgenommen hatte, löste eine beispiellose Welle des Protests und der gesamtgesellschaftlichen Solidarität im Land aus. Menschen unterschiedlichen Alters, ethnischer Herkunft und aus verschiedenen sozialen Schichten gingen erstmals gemeinsam auf die Straße. An der Spitze dieses "feministischen Aufstands" standen von Anfang an iranische Frauen. Dabei richteten sich die Proteste jedoch nicht allein gegen die Kopftuchpflicht. Im Zentrum stand die Forderung, das gesamte System abzuschaffen.

Außenpolitische Kompensation

Während die iranische Führung innenpolitisch anhaltendem Druck ausgesetzt ist, hat sie außenpolitisch Erfolge verbuchen können. Unter der Regierung Raisi hat Iran seine Nachbarschaft und den "Blick nach Osten" zu Prioritäten eines neuen außenpolitischen Ansatzes erklärt. Diese Fokussierung steht im Einklang mit dem, was Khamenei seit 2018 als politische Präferenzen definiert hat: die unmittelbare Nachbarschaft und den eurasischen Raum. In ihrer Nachbarschaftspolitik hat sich die Regierung Raisi weitgehend auf die Deeskalation mit den arabischen Golfstaaten konzentriert, die in einem Normalisierungsabkommen mit Saudi-Arabien im März 2023 gipfelte. Das Abkommen wurde unter Vermittlung Chinas zum Abschluss geführt. Hierdurch wurden die seit 2016 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zwischen Teheran und Riad wieder aufgenommen. Die iranischen Deeskalationsversuche rund um den Persischen Golf zielen darauf ab, den Schwerpunkt der Nachbarschaftspolitik auf wirtschaftliche Integration zu verlagern und gleichzeitig den eigenen Sicherheitsbedenken hinsichtlich einer saudisch-israelischen Normalisierungsvereinbarung Rechnung zu tragen. Letztere stellt für Teheran keine unmittelbare Bedrohung mehr dar, seit die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel und damit einen Krieg auslöste, der die Chancen auf eine Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel vorerst zunichte gemacht hat.

Außerhalb seiner unmittelbaren Nachbarschaft hat sich Teheran vor allem auf die Wiederbelebung seiner "Blick nach Osten"-Politik konzentriert. Im Gegensatz zu früheren Amtszeiten iranischer Präsidenten gibt es zu Irans derzeitiger Ostpolitik keine tragfähige Alternative: Da der Konflikt mit den USA und der EU um das iranische Atomprogramm weiter anhält, gibt es derzeit keine Option, eine Annäherung an den Osten mit verbesserten Beziehungen zum Westen in Einklang zu bringen. Dabei hat die Regierung Raisi den "Blick nach Osten" aber über den Rahmen hinaus verschoben, der unter den politischen Entscheidungsträgern lange Zeit als zweckmäßig galt. Dies wurde deutlich, als Teheran 2022 erstmals Kampf- und Aufklärungsdrohnen an Moskau lieferte – eine Entscheidung, die in Iran sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in Teilen der politischen Eliten erhebliche Kritik hervorrief.

Der iranische Entschluss geht Hand in Hand mit einem neuen Gefühl von Relevanz auf der internationalen Bühne. Die Wahrnehmung einer gestiegenen globalen Bedeutung ergibt sich unter anderem aus dem Beitritt des Landes zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im Juli 2023, der erst nach einem mehr als 15 Jahre dauernden Beitrittsprozess erreicht wurde, sowie aus dem Angebot, dem Verbund der BRICS-Staaten beizutreten. An der außenpolitischen Front ist es der Raisi-Regierung damit gelungen, der eigenen Basis einen dringend benötigten politischen Sieg zu präsentieren, nachdem landesweite Proteste monatelang das Land erschüttert hatten.

Teherans Ambitionen für eine post-westliche Ordnung

Die außenpolitischen Erfolge gehen mit einem neuen Selbstverständnis Teherans als globalem Akteur einher. Sie speisen sich vor allem aus drei politischen Entwicklungen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, Chinas Wandel von einem wirtschaftlichen zu einem politischen Akteur am Persischen Golf und dem brutalen Angriff, den die Hamas am 7. Oktober gegen Israel verübte.

Wie andere revisionistische Akteure lehnt auch Iran eine von den USA dominierte Weltordnung ab und teilt die Erwartung einer neuen multipolaren globalen Struktur mit aufstrebenden Regionalmächten. Teheran begrüßt daher den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten als Supermacht und setzt auf das Entstehen einer "post-westlichen Ordnung". Immer wieder betont Khamenei, dass diese neue Ordnung bereits im Entstehen begriffen und durch eine Verlagerung politischer, wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Macht vom Westen nach Asien gekennzeichnet sei. Diese Charakterisierung ist eine von vier Kernindikatoren, die Khamenei im Laufe der Jahre als Merkmale für den Übergang postuliert hat: Erstens die Verlagerung des globalen Gravitationszentrums nach Asien, zweitens der Niedergang der Vereinigten Staaten, Israels und Europas, drittens der Aufstieg regionaler und neuer globaler Mächte und viertens die geopolitische Expansion der "Achse des Widerstands". Die sogenannte Achse umfasst das weit gespannte Netzwerk an nicht-staatlichen und substaatlichen Verbündeten Irans, die von der Hizbullah im Libanon über die Hamas in Gaza und einer Reihe von irakischen und syrischen Milizen bis zu den sogenannten Huthi-Rebellen im Jemen reichen.

Dabei hat Teheran in hohem Maße vom russischen Krieg gegen die Ukraine profitiert. Der Krieg hat nicht nur den Status der Islamischen Republik in den russisch-iranischen Beziehungen von einem leicht ins Abseits zu drängendem Juniorpartner zu einem dringend benötigten Lieferanten von Drohnen verändert, sondern auch eine globale Kluft zwischen Ost und West manifestiert, die Russland auf absehbare Zeit weitgehend von der westlichen Sphäre abkoppelt. Dadurch sind lang gehegte iranische Befürchtungen gegenüber Moskau gemindert worden, darunter mangelnde russische Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder der Umstand, jederzeit von Moskau als Verhandlungsmasse gegenüber den USA genutzt werden zu können. Dass Beijing als Vermittler und damit als politischer Akteur am Persischen Golf in Erscheinung getreten ist, stellt zudem aus iranischer Sicht den Auftakt für ein größeres chinesisches Engagement in der Region dar. Damit beruht der "Blick nach Osten" nicht länger nur auf einer vagen, langfristigen Vision für eine post-westliche Ordnung. Teheran sieht schon jetzt die Konturen einer multipolaren Welt entlang neuer Mächte und globaler Blöcke, die mit nie dagewesenen Möglichkeiten für engere Partnerschaften in der östlichen Hemisphäre einhergehen. Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch Teherans Einschätzung der schwindenden Macht der Vereinigten Staaten und Europas, die in einen kostspieligen Krieg in der Ukraine verwickelt sind, sowie die vermeintliche Schwächung Israels nach den Anschlägen der Hamas.

Deren brutaler Überfall auf Israel wurde von der iranischen Führung als eine globale Demonstration der Stärke und Kapazität der "Achse des Widerstands" zelebriert, die nun durch die aktive Beteiligung der Huthi-Rebellen am "Widerstand" (moghavemat) gegenüber dem israelischen Staat erweitert wurde. Der Angriff, den Khamenei als "irreparable" (qeire qabele tarmin) Niederlage bezeichnete, hat die iranische Wahrnehmung eines geopolitischen Wendepunkts in der Region zementiert, die Auswirkungen auf die gesamte internationale Ordnung habe. Mit dem Überfall und den seither erfolgten Angriffen auf israelische und amerikanische Ziele in der Region, insbesondere im Golf von Aden, wurden die militärischen Kapazitäten der Achse deutlich. Vor diesem Hintergrund sind aus iranischer Sicht alle vier von Khamenei definierten Indikatoren eines globalen Wandels bereits erkennbar. Nach den Vorstellungen Teherans werden die politischen Entwicklungen in Eurasien und im Nahen Osten es der Islamischen Republik ermöglichen, über lose Bündnisse hinauszugehen und ein engeres Netzwerk an Strukturen, gemeinsamen Interessen und Abhängigkeiten in der Nachbarschaft und in Asien zu schaffen.

Grenzen iranischer Machtprojektion

Während die iranische Führung ihren geopolitischen Aufstieg zelebriert, wandelt sie auf einem schmalen Grat. Zwar hat die Machtprojektion der "Achse des Widerstands" ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Zugleich war die selbsterklärte Widerstandsfront aber auch noch nie so verwundbar. Ein umfassender Krieg der gesamten Achse gegen Israel und seine Verbündeten könnte zu einem verheerenden Schlag gegen zumindest Teile der Front führen und damit Irans bedeutendstes Sicherheitsinstrument in der Region deutlich schwächen. Bislang setzt Teheran darauf, eine direkte militärische Konfrontation mit Israel und den USA zu vermeiden und weiterhin über andere Teile der Achse in die regionalen Entwicklungen einzugreifen. Sollte das Land dagegen direkt in einen militärischen Konflikt mit Israel eintreten, würde dies auch den "Blick nach Osten" erheblich beeinträchtigen. Weder Russland noch China haben ein Interesse daran, von Teheran in regionale Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Würde die Islamische Republik für Moskau und Beijing zu einem massiven Sicherheitsrisiko werden, dürften die Ambitionen Irans, in einem aufstrebenden Asien eine gestaltende Rolle zu spielen, schnell schwinden. Auch die zaghafte Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Golfstaaten könnte darunter leiden. Diese haben ihre diplomatischen Verbindungen zu Iran vor allem in der Erwartung ausgeweitet, Spannungen abzubauen und das Risiko einer militärischen Konfrontation zu minimieren.

Auch ohne einen umfassenden militärischen Konflikt dürften die iranischen Erwartungen an den Osten enttäuscht werden. Teherans außenpolitischer Ansatz ist mit zahlreichen Einschränkungen und Unwägbarkeiten behaftet, darunter wirtschaftliche Zwänge aufgrund von US-Sanktionen und die allgemeine Überzeichnung eines unaufhaltsamen Niedergangs des Westens. Dass Iran westlichen Akteuren den Rücken gekehrt hat, wirkt sich zudem schon jetzt auf den "Blick nach Osten" aus, denn hierdurch wurden auch die Möglichkeiten eingeschränkt, die wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zu östlichen Partnern auszubauen. Es hat sich gezeigt, dass auch Länder wie China oder Indien im Zweifelsfall dem Sanktionsdruck der USA nachkommen. Im Zuge der Politik des maximalen Drucks unter US-Präsident Donald Trump musste China beispielsweise seine Einfuhren von iranischem Rohöl um die Hälfte reduzieren, und Indien stellte seine Ölimporte aus Iran komplett ein.

Nicht zuletzt ist bislang offen, wie eine von Russland, China und Iran geprägte post-westliche Ordnung aussehen sollte. Die gemeinsame Ablehnung des bestehenden globalen Systems stellt noch keinen Konsens über die Ausgestaltung internationaler Strukturen, Institutionen oder Normen dar. Ungeachtet aller Differenzen hat Iran in der Vergangenheit aus pragmatischen Erwägungen eine engere Partnerschaft mit diesen Staaten angestrebt. Angesichts des sich wandelnden politischen Umfelds in Eurasien hat Teheran dabei die Bereitschaft gezeigt, über vorübergehende taktische Allianzen hinaus zu einer strategischen Zusammenarbeit überzugehen. Gleichzeitig hat die Staatsführung die innenpolitische Kritik an den tatsächlichen politischen Kosten strategischer Allianzen und den Auswirkungen auf die nationale Souveränität entweder ignoriert oder bereitwillig abgetan.

Ausblick

Die Islamische Republik befindet sich im Umbruch. Innenpolitisch liegt die Priorität der Führung auf einem geordneten Übergang in die Post-Khamenei-Ära. Außenpolitisch verfolgt Teheran vehement seinen revisionistischen Ansatz für eine post-westliche Ordnung. Gesellschaftliche Belange bleiben dabei außen vor. Auf die innergesellschaftlichen Herausforderungen reagiert die Islamische Republik vorwiegend mit größerer Repression und konsequenter Umsetzung des "zweiten Schritts" der Revolution. Dabei werden die republikanischen Elemente des politischen Systems, die sich unter anderem in gewählten Institutionen wie dem Parlament oder dem Präsidentenamt widerspiegeln, gegenüber nichtgewählten Institutionen wie den paramilitärischen Revolutionsgarden geschwächt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass Teheran selbst die eigenen autokratischen Regeln des Wahlprozesses in jüngster Zeit außer Kraft gesetzt hat. Damit ist der Staat auf eine Homogenisierung der bereits beschränkten politischen Sphäre eingestellt, die nunmehr in allen wesentlichen Machtzentren von Hardlinern dominiert wird. Diese sehen Gewalt und Repression nicht nur als legitimes Mittel, sondern als notwendiges Instrument an, um die Islamische Republik in die nächste Phase zu überführen.

Der Versuch, den Unmut der Bevölkerung mit weiterer Repression zu begegnen und berechtigte gesellschaftspolitische Anliegen zu diskreditieren, geht zugleich mit einer anhaltenden Fragilität der bestehenden Ordnung einher. Selbst wenn es dem Staat gelingt, Proteste wiederholt gewaltsam niederzuschlagen, bleibt der gesellschaftliche Unmut über die politische Ordnung und der Wille zu grundlegendem Wandel bestehen. Seit 2017 ist es immer wieder zu landesweiten Massenprotesten gekommen, die vom Staat bislang nur zeitweilig eingedämmt, jedoch nicht langfristig aufgelöst werden konnten.

Dass sich die iranische Führung dennoch gestärkt sieht, ist vor allem der außenpolitischen Sphäre geschuldet. Die politischen Entwicklungen in der Region gehen mit einem neuen Selbstverständnis der Islamischen Republik auf globaler Ebene einher. Teheran sieht sich außenpolitisch im Aufwind und als wesentlicher Treiber einer neuen post-westlichen Ordnung.

Russlands Krieg gegen die Ukraine, Chinas Vermittlungsbemühungen am Persischen Golf und der Überfall der Hamas auf Israel haben Teherans langjährige Vision einer künftigen Weltordnung in ein mittelfristiges Ziel verwandelt. Den derzeitigen Nahostkonflikt sieht die Islamische Republik als unumkehrbaren geopolitischen Wendepunkt in der Region. Vor diesem Hintergrund dürfte sie ihre revisionistische Agenda weniger risikoscheu im Hinblick auf eine militärische Konfrontation mit Israel oder den Vereinigten Staaten verfolgen. Dabei läuft sie Gefahr, nicht nur den innergesellschaftlichen Widerstand zu unterschätzen, sondern ihren eigenen außenpolitischen Handlungsspielraum überzubewerten. Obwohl Iran sich planvoll auf eine geordnete Transition vorbereitet und eine herausragende Rolle in einer von asiatischen Mächten geprägten neuen Weltordnung für sich beansprucht, ist die erfolgreiche Umsetzung daher alles andere als gewiss.

ist Irananalystin und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, wo sie sich mit der Funktionsweise autoritärer Regime, Elitenwandel und iranischer Außen- und Sicherheitspolitik befasst. Sie berät unter anderem die Bundesregierung, den Bundestag und Institutionen der EU.