Unter Präsident Ebrahim Raisi steht die Islamische Republik Iran einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber. Dazu zählen neben einer ökologischen und wirtschaftlichen Dauerkrise auch ein anhaltender internationaler Konflikt um das iranische Atomprogramm, die niedrigste Wahlbeteiligung in ihrer Geschichte und die größten Massenproteste seit mehr als zehn Jahren. Dabei befindet sich Iran derzeit in einer kritischen Übergangsphase, in der die herrschaftspolitischen Weichen für die kommenden Jahrzehnte im Land gestellt werden sollen. Im Gegensatz zur innergesellschaftlichen Sphäre ist das Land außenpolitisch gestärkt aus der bisherigen Amtszeit von Raisi hervorgegangen. Die außenpolitischen Entwicklungen haben zu einem neuen Selbstverständnis Teherans auf globaler Ebene geführt, mit dem die iranische Führung innenpolitische Krisen zu kompensieren sucht.
Iran im Umbruch
Im Zentrum des zu erwartenden Machtwechsels steht das Amt des sogenannten Revolutionsführers – die höchste politische und religiöse Instanz im Staat. Seit über 30 Jahren bekleidet der Kleriker Ali Khamenei diese Position, dessen Herrschaft sich angesichts seines Alters von 84 Jahren dem Ende neigt. Einen reibungslosen Übergang in die Post-Khamenei-Ära zu gewährleisten, der die bestehende Ordnung nicht gefährdet, steht an erster Stelle der politischen Agenda.
In einer Ansprache anlässlich des 40. Jahrestags der Revolution von 1979 legte Khamenei 2019 seine persönliche Zukunftsvision für das Land vor. Mit der Verkündung des "zweiten Schritts der Revolution" (game dovome enqelab)
Bei der Vision einer islamischen Zivilisation handelt es sich um ein von Khamenei zur Jahrtausendwende skizziertes Zukunftskonzept, mit dem auf globaler Ebene das Ideal einer transnationalen islamischen Weltgesellschaft realisiert werden soll. Khameneis Vorstellung einer globalen Ordnung steht im Gegensatz zum traditionellen Westfälischen Modell, das auf souveränen Nationalstaaten basiert. Der iranische Ansatz orientiert sich nicht an staatlichen Grenzen, sondern an religiösen Überzeugungen. Ziel ist die Etablierung eines gesellschaftspolitischen Raums islamischer Souveränität, in dem muslimische Glaubensgrundsätze die Basis für internationale Normen und Standards bilden. Khamenei sieht die Islamische Republik hier als politisches Vorbild und zugleich als Führungsmacht.
Mit der Proklamation des "zweiten Schritts" hat die Islamische Republik offiziell die Phase der politischen Transition eingeleitet. Diese zielt ausschließlich auf den Wechsel der Machtverhältnisse innerhalb des politischen Systems, keineswegs auf einen Übergang der autoritären Ordnung zu einer demokratischen.
Gesellschaftliche Gegenwehr
Diese Machtbasis wird vonseiten der Gesellschaft immer stärker herausgefordert. Die Resilienz der autoritären Strukturen im Staat hat zu einer zunehmenden Resignation in der iranischen Bevölkerung gegenüber politischen Reformen geführt. Dabei war die Beteiligung an Wahlen trotz weitreichender Einschränkungen lange Zeit hoch. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen lag seit 1979 bei durchschnittlich 65,8 Prozent. Doch an den Parlamentswahlen von 2020 nahmen lediglich 42 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung teil, an den Präsidentschaftswahlen von 2021 weniger als 49 Prozent – ein historisches Tief.
Zum Sieger der jüngsten Wahlen wurde der Kleriker Ebrahim Raisi erklärt – berüchtigt als ehemaliges Mitglied einer Kommission, die Ende der 1980er Jahre Massenhinrichtungen politischer Gefangener zu verantworten hatte – ein völkerstrafrechtliches Verbrechen, das bis heute nicht aufgearbeitet wurde.
Die Präsidentschaftswahlen von 2021 unterschieden sich von bisherigen Wahlzyklen dagegen dadurch, dass nicht nur die bedeutendsten Reformkandidaten als Kandidaten ausgeschlossen wurden, sondern selbst bekannte Persönlichkeiten des konservativen Lagers, die Raisis Sieg hätten gefährden können. Der offenkundige Eingriff in den Wahlprozess war selbst gemessen an den Standards der Islamischen Republik weitreichend. Er ist Ausdruck der Umsetzung des "zweiten Schritts" der Revolution, mit dem Khamenei sämtliche politische Prozesse der Transitionsphase untergeordnet hat und auf eine weitgehende Homogenisierung der Elitenlandschaft setzt. Durch die Wahlsiege seit 2020, unter anderem bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, haben nunmehr loyale Hardliner alle wesentlichen Machtzentren im Land besetzt.
Vor diesem Hintergrund ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken. Dabei richtet sich der Unmut der Bevölkerung nicht nur gegen die bestehende Führung und die Hardliner, sondern gegen alle offiziellen politischen Lager im Land. Wiederholt haben Reformer und Pragmatisten Erwartungen der iranischen Wählerschaft selbst nach geringfügigem gesellschaftspolitischem Wandel enttäuscht. Auch unter ihren Präsidentschaften blieben Repression, Zensur, eingeschränkte Pressefreiheit, Diskriminierung von Minderheiten, systematische Unterdrückung von Frauen sowie Folter und Hinrichtungen bestehen.
Daneben leidet die Bevölkerung unter einer weitreichenden ökologischen Krise, darunter Wasserknappheit und hohe Luftverschmutzung,
Zu den bedeutendsten Massenprotesten der vergangenen Jahrzehnte ist der "Frau, Leben, Freiheit"-Aufstand vom September 2022 zu zählen, der mehr als ein halbes Jahr anhielt und vom Staat brutal niedergeschlagen wurde. Der Tod von Jina Mahsa Amini in Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei, die die junge iranische Kurdin wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Kleiderordnung festgenommen hatte, löste eine beispiellose Welle des Protests und der gesamtgesellschaftlichen Solidarität im Land aus. Menschen unterschiedlichen Alters, ethnischer Herkunft und aus verschiedenen sozialen Schichten gingen erstmals gemeinsam auf die Straße. An der Spitze dieses "feministischen Aufstands"
Außenpolitische Kompensation
Während die iranische Führung innenpolitisch anhaltendem Druck ausgesetzt ist, hat sie außenpolitisch Erfolge verbuchen können. Unter der Regierung Raisi hat Iran seine Nachbarschaft und den "Blick nach Osten" zu Prioritäten eines neuen außenpolitischen Ansatzes erklärt. Diese Fokussierung steht im Einklang mit dem, was Khamenei seit 2018 als politische Präferenzen definiert hat: die unmittelbare Nachbarschaft und den eurasischen Raum.
Außerhalb seiner unmittelbaren Nachbarschaft hat sich Teheran vor allem auf die Wiederbelebung seiner "Blick nach Osten"-Politik
Der iranische Entschluss geht Hand in Hand mit einem neuen Gefühl von Relevanz auf der internationalen Bühne. Die Wahrnehmung einer gestiegenen globalen Bedeutung ergibt sich unter anderem aus dem Beitritt des Landes zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im Juli 2023, der erst nach einem mehr als 15 Jahre dauernden Beitrittsprozess erreicht wurde, sowie aus dem Angebot, dem Verbund der BRICS-Staaten beizutreten. An der außenpolitischen Front ist es der Raisi-Regierung damit gelungen, der eigenen Basis einen dringend benötigten politischen Sieg zu präsentieren, nachdem landesweite Proteste monatelang das Land erschüttert hatten.
Teherans Ambitionen für eine post-westliche Ordnung
Die außenpolitischen Erfolge gehen mit einem neuen Selbstverständnis Teherans als globalem Akteur einher. Sie speisen sich vor allem aus drei politischen Entwicklungen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, Chinas Wandel von einem wirtschaftlichen zu einem politischen Akteur am Persischen Golf und dem brutalen Angriff, den die Hamas am 7. Oktober gegen Israel verübte.
Wie andere revisionistische Akteure lehnt auch Iran eine von den USA dominierte Weltordnung ab und teilt die Erwartung einer neuen multipolaren globalen Struktur mit aufstrebenden Regionalmächten. Teheran begrüßt daher den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten als Supermacht und setzt auf das Entstehen einer "post-westlichen Ordnung". Immer wieder betont Khamenei, dass diese neue Ordnung bereits im Entstehen begriffen und durch eine Verlagerung politischer, wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Macht vom Westen nach Asien gekennzeichnet sei.
Dabei hat Teheran in hohem Maße vom russischen Krieg gegen die Ukraine profitiert. Der Krieg hat nicht nur den Status der Islamischen Republik in den russisch-iranischen Beziehungen von einem leicht ins Abseits zu drängendem Juniorpartner zu einem dringend benötigten Lieferanten von Drohnen verändert, sondern auch eine globale Kluft zwischen Ost und West manifestiert, die Russland auf absehbare Zeit weitgehend von der westlichen Sphäre abkoppelt. Dadurch sind lang gehegte iranische Befürchtungen gegenüber Moskau gemindert worden, darunter mangelnde russische Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder der Umstand, jederzeit von Moskau als Verhandlungsmasse gegenüber den USA genutzt werden zu können.
Deren brutaler Überfall auf Israel wurde von der iranischen Führung als eine globale Demonstration der Stärke und Kapazität der "Achse des Widerstands" zelebriert, die nun durch die aktive Beteiligung der Huthi-Rebellen
Grenzen iranischer Machtprojektion
Während die iranische Führung ihren geopolitischen Aufstieg zelebriert, wandelt sie auf einem schmalen Grat. Zwar hat die Machtprojektion der "Achse des Widerstands" ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Zugleich war die selbsterklärte Widerstandsfront aber auch noch nie so verwundbar. Ein umfassender Krieg der gesamten Achse gegen Israel und seine Verbündeten könnte zu einem verheerenden Schlag gegen zumindest Teile der Front führen und damit Irans bedeutendstes Sicherheitsinstrument in der Region deutlich schwächen. Bislang setzt Teheran darauf, eine direkte militärische Konfrontation mit Israel und den USA zu vermeiden und weiterhin über andere Teile der Achse in die regionalen Entwicklungen einzugreifen. Sollte das Land dagegen direkt in einen militärischen Konflikt mit Israel eintreten, würde dies auch den "Blick nach Osten" erheblich beeinträchtigen. Weder Russland noch China haben ein Interesse daran, von Teheran in regionale Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Würde die Islamische Republik für Moskau und Beijing zu einem massiven Sicherheitsrisiko werden, dürften die Ambitionen Irans, in einem aufstrebenden Asien eine gestaltende Rolle zu spielen, schnell schwinden. Auch die zaghafte Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Golfstaaten könnte darunter leiden. Diese haben ihre diplomatischen Verbindungen zu Iran vor allem in der Erwartung ausgeweitet, Spannungen abzubauen und das Risiko einer militärischen Konfrontation zu minimieren.
Auch ohne einen umfassenden militärischen Konflikt dürften die iranischen Erwartungen an den Osten enttäuscht werden. Teherans außenpolitischer Ansatz ist mit zahlreichen Einschränkungen und Unwägbarkeiten behaftet, darunter wirtschaftliche Zwänge aufgrund von US-Sanktionen und die allgemeine Überzeichnung eines unaufhaltsamen Niedergangs des Westens.
Nicht zuletzt ist bislang offen, wie eine von Russland, China und Iran geprägte post-westliche Ordnung aussehen sollte. Die gemeinsame Ablehnung des bestehenden globalen Systems stellt noch keinen Konsens über die Ausgestaltung internationaler Strukturen, Institutionen oder Normen dar. Ungeachtet aller Differenzen hat Iran in der Vergangenheit aus pragmatischen Erwägungen eine engere Partnerschaft mit diesen Staaten angestrebt. Angesichts des sich wandelnden politischen Umfelds in Eurasien hat Teheran dabei die Bereitschaft gezeigt, über vorübergehende taktische Allianzen hinaus zu einer strategischen Zusammenarbeit überzugehen. Gleichzeitig hat die Staatsführung die innenpolitische Kritik an den tatsächlichen politischen Kosten strategischer Allianzen und den Auswirkungen auf die nationale Souveränität entweder ignoriert oder bereitwillig abgetan.
Ausblick
Die Islamische Republik befindet sich im Umbruch. Innenpolitisch liegt die Priorität der Führung auf einem geordneten Übergang in die Post-Khamenei-Ära. Außenpolitisch verfolgt Teheran vehement seinen revisionistischen Ansatz für eine post-westliche Ordnung. Gesellschaftliche Belange bleiben dabei außen vor. Auf die innergesellschaftlichen Herausforderungen reagiert die Islamische Republik vorwiegend mit größerer Repression und konsequenter Umsetzung des "zweiten Schritts" der Revolution. Dabei werden die republikanischen Elemente des politischen Systems, die sich unter anderem in gewählten Institutionen wie dem Parlament oder dem Präsidentenamt widerspiegeln, gegenüber nichtgewählten Institutionen wie den paramilitärischen Revolutionsgarden geschwächt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass Teheran selbst die eigenen autokratischen Regeln des Wahlprozesses in jüngster Zeit außer Kraft gesetzt hat. Damit ist der Staat auf eine Homogenisierung der bereits beschränkten politischen Sphäre eingestellt, die nunmehr in allen wesentlichen Machtzentren von Hardlinern dominiert wird. Diese sehen Gewalt und Repression nicht nur als legitimes Mittel, sondern als notwendiges Instrument an, um die Islamische Republik in die nächste Phase zu überführen.
Der Versuch, den Unmut der Bevölkerung mit weiterer Repression zu begegnen und berechtigte gesellschaftspolitische Anliegen zu diskreditieren, geht zugleich mit einer anhaltenden Fragilität der bestehenden Ordnung einher. Selbst wenn es dem Staat gelingt, Proteste wiederholt gewaltsam niederzuschlagen, bleibt der gesellschaftliche Unmut über die politische Ordnung und der Wille zu grundlegendem Wandel bestehen. Seit 2017 ist es immer wieder zu landesweiten Massenprotesten gekommen, die vom Staat bislang nur zeitweilig eingedämmt, jedoch nicht langfristig aufgelöst werden konnten.
Dass sich die iranische Führung dennoch gestärkt sieht, ist vor allem der außenpolitischen Sphäre geschuldet. Die politischen Entwicklungen in der Region gehen mit einem neuen Selbstverständnis der Islamischen Republik auf globaler Ebene einher. Teheran sieht sich außenpolitisch im Aufwind und als wesentlicher Treiber einer neuen post-westlichen Ordnung.
Russlands Krieg gegen die Ukraine, Chinas Vermittlungsbemühungen am Persischen Golf und der Überfall der Hamas auf Israel haben Teherans langjährige Vision einer künftigen Weltordnung in ein mittelfristiges Ziel verwandelt. Den derzeitigen Nahostkonflikt sieht die Islamische Republik als unumkehrbaren geopolitischen Wendepunkt in der Region. Vor diesem Hintergrund dürfte sie ihre revisionistische Agenda weniger risikoscheu im Hinblick auf eine militärische Konfrontation mit Israel oder den Vereinigten Staaten verfolgen. Dabei läuft sie Gefahr, nicht nur den innergesellschaftlichen Widerstand zu unterschätzen, sondern ihren eigenen außenpolitischen Handlungsspielraum überzubewerten. Obwohl Iran sich planvoll auf eine geordnete Transition vorbereitet und eine herausragende Rolle in einer von asiatischen Mächten geprägten neuen Weltordnung für sich beansprucht, ist die erfolgreiche Umsetzung daher alles andere als gewiss.