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Vernetzt, fragmentiert Terrororganisationen im iranischen Schattenreich

Christoph Ehrhardt

/ 16 Minuten zu lesen

Über viele Jahre hat Iran ein Netz loyaler bewaffneter Gruppen in der arabischen Nach-barschaft geknüpft. Mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza wird dieses Netzwerk auf die Probe gestellt.

Als sich Hassan Nasrallah am 3. Januar 2024 in einer Ansprache an die Öffentlichkeit wandte, ging im Libanon wieder einmal die Angst vor einem großen Krieg um. Seit Monaten war das libanesisch-israelische Grenzgebiet schon Schauplatz täglicher Gefechte. Die von Nasrallah angeführte Hizbullah hatte einen Tag nach dem terroristischen Großangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 Ziele jenseits der Grenze unter Beschuss genommen. Sie wollte die israelischen Streitkräfte ablenken und damit die palästinensischen Islamisten unterstützen, mit denen sie verbündet ist. Die Konfrontation war eigentlich auf einen Streifen entlang der israelisch-libanesischen Grenzen begrenzt. Doch am Abend vor Nasrallahs Ansprache hatte Israel die Kampfzone ausgeweitet. Die südlichen Vorstädte von Beirut, in denen die Hizbullah das Sagen hat, waren von einem Militärschlag erschüttert worden, wie es ihn lange nicht mehr gegeben hatte. Saleh al-Arouri, ein wichtiger Führungskader der Hamas, war durch einen Präzisionsangriff aus der Luft getötet worden. Und Nasrallah hatte nur wenige Monate zuvor deutlich gemacht, dass ein solcher Angriff eine rote Linie überschreiten würde.

Der Hizbullah-Generalsekretär rief keinen großen Krieg mit dem Erzfeind aus. Doch Nasrallahs Rede machte deutlich, dass der Krieg im Gazastreifen längst auf die Region übergegriffen hatte. Ein regionaler "Flächenbrand", vor dem die internationale Diplomatie wieder und wieder gewarnt hatte, brach danach nicht aus. Doch die Worte Nasrallahs zeigten deutlich, dass die Region längst von einem Schwelbrand erfasst worden war: Er beschrieb, wie die palästinensischen "Brüder" den Terrorangriff vom 7. Oktober vorbereitet und initiiert hatten, wie seine Organisation danach "den Kampf aufnahm", wie dann die "Brüder" des irakischen "Widerstands" – gemeint waren schiitische Milizen – US-Militärstützpunkte im Irak und in Syrien mit Drohnen und Raketen angriffen und wie daraufhin die jemenitischen Huthi-Rebellen den Schiffsverkehr im Roten Meer attackierten.

Die Spur von all diesen Konflikt-Schauplätzen am Golf und in der Levante führt nach Teheran. Dort laufen die Fäden zusammen, von dort erhalten Milizen oder Terrororganisationen in der Region Geld, Waffen und andere Unterstützung. Mit dem Krieg im Gazastreifen ist eine vom Regime in Teheran angeführte Allianz aktiviert worden, die sich selbst als "Achse des Widerstands" bezeichnet.

Die Gruppen dieser Allianz haben verschiedene Interessen in der Heimat. Nicht alle teilen den Fundamentalismus des iranischen Regimes oder sind loyal gegenüber dessen Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei und dem Herrschaftssystem der Islamischen Republik, der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten (velayate faqih). Die Gruppen sind unterschiedlich stark von Iran abhängig und lassen sich unterschiedlich stark von den Revolutionswächtern lenken. Aber sie alle haben gemeinsame Feinde: Israel und die Vereinigten Staaten. Israel wollen sie von der Landkarte tilgen, die Vereinigten Staaten aus der Region vertreiben. Ideologisch verbrämt wird der Hass auf den jüdischen Staat und seinen westlichen Verbündeten mit der arabischen Vokabel muqawama (Widerstand).

Die zentrale Rolle, die die Islamische Republik im Hintergrund spielt, wurde im Anlass der Nasrallah-Rede deutlich. Er sprach zum Todestag von Qassem Soleimani, jenes berüchtigten iranischen Generals aus den Reihen der Revolutionsgarden, der am 2. Januar 2020 auf dem Flughafengelände der irakischen Hauptstadt Bagdad durch einen amerikanischen Drohnenangriff getötet wurde. Soleimani war Befehlshaber der Quds-Einheit, einer Eliteeinheit, die für Einsätze im Ausland zuständig ist. Er gilt als der Architekt der Schattenarmee von bewaffneten Gruppen, die Iran in jahrzehntelanger, raffinierter, geduldiger und skrupelloser Weise aufgebaut hat. Sein Abbild prangt auf riesigen sonnengebleichten Transparenten auf Straßen im Reich der Hizbullah im Süden Beiruts oder auf Werbetafeln in Bagdad. Aus den Reihen seiner Verbündeten wird er als charismatischer Mann beschrieben, dessen Aura auch über seinen Tod hinaus nachwirke. "Er ist ein Symbol", sagte ein Kommandeur aus einer mit Iran verbündeten irakischen Miliz im Februar 2024. Die Führungspersönlichkeiten des von ihm errichteten Schattenreichs reisen zu Beratungen durch die Region, sie inszenieren ihre Treffen wie Staatsbesuche. Bündnisse werden auch mit Eheschließungen gefestigt. Zeynab Soleimani, die Tochter des iranischen Generals, heiratete im Sommer 2020 den Sohn eines hohen Hizbullah-Kaders. Den Hizbullah-Führer Nasrallah sprach sie als "Onkel" an.

Werkzeuge für hybride Kriegführung

Für Iran sind die Milizen und Terrorgruppen der "Achse des Widerstands" wertvolle Werkzeuge. Nach den Erfahrungen des verheerenden irakisch-iranischen Kriegs von 1981 bis 1988 schreckt die Islamische Republik davor zurück, einen direkten konventionellen Waffengang mit einem überlegenen Gegner zu wagen. Teheran hat sich auf eine hybride Kriegsführung verlegt, schickt lieber nichtstaatliche bewaffnete Gruppen in den Kampf als die eigenen Streitkräfte. Das Regime will sich immer die Möglichkeit offenhalten, Täter- oder Drahtzieherschaft plausibel abstreiten zu können. Die "Achse des Widerstands" ist eine destruktive Allianz, die auf Destabilisierung angelegt ist. Schwache Staaten und Krisenregionen sind genau die Umgebungen, die Teheran sucht und braucht, wenn es bewaffnete Gruppen für seine Zwecke fördern will.

Effektiv wie wohl kein anderes Land der Region hat Iran die Konflikte ausgenutzt. Im Libanon schuf die Islamische Republik während des Bürgerkriegs das Kronjuwel ihres Schattenreichs: die Hizbullah, deren Elitetruppen und Raketen zu einer ernsthaften Bedrohung für Israel geworden sind. Berater aus ihren Reihen geben ihr militärisches Wissen aus Jahrzehnten des Kampfs gegen den jüdischen Staat an die Verbündeten der Region weiter. Im Nachbarland Irak nutzte Teheran das blutige Chaos nach der amerikanischen Invasion und dem Sturz Saddam Husseins 2003. Heute durchdringen loyale Verbündete und Erfüllungsgehilfen der Islamischen Republik den irakischen Staat und zunehmend auch seine Wirtschaft. In Syrien haben Iran und seine Verbündeten maßgeblich dabei geholfen, die Herrschaft von Teherans Verbündetem Baschar al-Assad zu sichern. Während der Schlacht um die nordsyrische Großstadt Aleppo hatten die Regimegegner Schwierigkeiten, den feindlichen Funk abzuhören, da an einigen Frontabschnitten südirakischer Akzent gesprochen worden sei, Persisch von iranischen Offizieren, sogar Dari von Vertretern afghanischer Schiitenmilizen und Urdu pakistanischer Milizionäre. Heute bedrohen irantreue Milizen auch von syrischem Boden aus Israel.

Landkorridor von Iran bis Israel

Mit der Hilfe irakischer und syrischer Milizen haben die iranischen Revolutionswächter einen Landkorridor geschaffen, durch den Raketentechnik und andere Waffen aus Iran über den Irak nach Syrien und Libanon geliefert werden, von wo sie Israel bedrohen. Damaskus, dessen Flughafen und Umgebung regelmäßig von israelischen Luftangriffen getroffen wird, ist eine wichtige Drehscheibe für klandestine iranische Raketenlieferungen. Syrische Gewährsleute in dem von Assad kontrollierten Rumpfstaat und Vertreter der Assad-Gegner berichten übereinstimmend, Iran arbeite außerdem daran, schiitische Bevölkerungsenklaven aufzubauen, um seinen Einfluss in Syrien dauerhaft zu sichern. Im Jemen-Konflikt konnte Iran durch die Unterstützung der schiitischen Huthi-Rebellen seinem regionalen Rivalen Saudi-Arabien schaden. Inzwischen sind die Huthi mit ihrem Raketen- und Drohnenarsenal, wie durch die Angriffe auf den Welthandel im Roten Meer deutlich geworden ist, ebenso ein Instrument der Machtprojektion.

Ein Angriff auf zentrale Öl-Anlagen in Abqaiq und Khurais in Saudi-Arabien ist ein gutes Beispiel dafür, wie Iran seine Schattenarmee nutzt. 2019 wurden diese von einem Schwarm von Drohnen und Raketen attackiert. Die Huthi-Rebellen reklamierten den Angriff für sich. Die US-Regierung zeigte mit dem Finger auf Teheran und erklärte, die Flugkörper seien aus dem Norden gekommen, nicht aus dem Süden, wo der Jemen liegt. Die iranische Führung stritt ab, etwas mit der Attacke zu tun zu haben, die von großem Nutzen war: Saudi-Arabien hatte seine Verwundbarkeit zu spüren bekommen. Der Großangriff von 2019 war ein wichtiger Grund, weshalb sich Riad später auf eine Entspannungsstrategie gegenüber Iran verlegte.

Schwierige Fernsteuerung

Das iranische Regime mag bei solchen Aktionen im Hintergrund die Strippen ziehen. Aber zugleich ist die "Achse des Widerstands" nicht so einfach fernzusteuern. Nasrallah machte in seiner Rede vom 3. Januar deutlich, dass seine Organisation und ihre Alliierten sich nicht als willfährige Erfüllungsgehilfen verstünden. "Niemand diktiert irgendetwas, und niemand befiehlt irgendjemandem, wir beraten uns, tauschen Meinungen aus, tauschen Ratschläge aus, profitieren von den Erfahrungen der anderen, aber jeder trifft die Entscheidung in seinem Land im Einklang mit der strategischen Vision und im Einklang mit den Interessen seines Volks und seines Lands", sagte er.

Doch natürlich hat das Wort Teherans Gewicht. In den inneren Angelegenheiten ihrer Länder sind die Grenzen für Irans arabische Bundesgenossen großzügiger gesteckt als in regionalen strategischen Fragen. Sollte Teheran es etwa für notwendig erachten, einen massiven Hizbullah-Angriff auf Israel anzuordnen, der einen umfassenden Krieg zur Folge hätte, müsste sich die libanesische Organisation bei aller Eigenständigkeit am Ende fügen.

Teherans Kronjuwel: Die Hizbullah

Hassan Nasrallah hat eine hervorgehobene Stellung in der "Achse des Widerstands". Er ist eine ihrer wichtigen Führungspersönlichkeiten, die über die Grenzen des Libanon hinauswirkt. Gleiches gilt für die Organisation, die er anführt. Die Hizbullah ist für Iran so etwas wie die erste Verteidigungslinie in einem möglichen Waffengang mit Israel. Sie ist zugleich Abschreckungsinstrument, Expeditionskorps und Beratungsmission. Die Organisation verfügt laut Schätzungen über ein Arsenal von mehr als 130.000 Raketen, einige davon sind präzise lenkbar und können jeden Winkel Israels erreichen. Laut Einschätzung westlicher Geheimdienste wäre der "Iron Dome", die israelische Raketenabwehr, nicht in der Lage, alle abzufangen, sollte es zu einem umfassenden Krieg kommen. In Propagandavideos droht die Schiitenorganisation immer wieder damit, die Städte Israels mit Raketenterror zu überziehen.

Die Raketen sind ein wichtiger Faktor im Abschreckungswettbewerb mit den – vor allem in der Luft – überlegenen israelischen Streitkräften. Doch auch am Boden ist die Hizbullah eine Herausforderung für die israelische Armee. Vor allem die Radwan-Brigaden, eine Elitetruppe, die sich seit etwa anderthalb Jahrzehnten auf einen Krieg einstellt, bereitet den israelischen Generälen laut Angaben westlicher Diplomaten Kopfzerbrechen. Kampferfahrung haben die Milizionäre und Kommandeure der Hizbullah in den vergangenen Jahren reichlich sammeln können. In Syrien war die libanesische Organisation im Auslandseinsatz, um die Herrschaft von Baschar al-Assad zu verteidigen. Im Irak unterstützte sie schiitische irantreue Milizen, im Jemen bildeten Militärberater die Huthi aus. Gerade letztere seien besonders wissbegierig gewesen, berichtete ein Hizbullah-Kommandeur im Oktober 2023, der in beiden Ländern aktiv war. Vertreter schiitischer Milizen im Irak beschrieben die Hizbullah als "großen Bruder".

Für Iran sind Nasrallah und die Hizbullah so etwas wie ein Juniorpartner, dessen Gewicht nach dem Tod von Soleimani noch einmal zugenommen hat. Teheran ist seitdem stärker von der Hizbullah abhängig, um die Aktivitäten der getreuen Gruppen in Syrien, im Irak oder im Gazastreifen zu managen und zu koordinieren. Mit keiner Gruppe der "Achse des Widerstands" sind Irans Beziehungen enger. Die Hizbullah ist als verlängerter Arm der Führung in Teheran nicht darauf angewiesen, sich Waffen auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen. Sie wird gezielt mit dem beliefert, was sie für ihre Kriegführung braucht und worüber Iran verfügt.

Die gemeinsame Geschichte reicht mehr als vierzig Jahre zurück. Teheran begann 1982 schiitische Kämpfer auszubilden, die im damals von Israel besetzten Südlibanon gegen das Militär des Erzfeinds kämpften, das 2000 entnervt abzog. Unter der Führung Nasrallahs, den Weggefährten als besonnenen Anführer beschreiben, behauptete sich die Hizbullah nicht nur in dem wochenlangen Krieg mit Israel von 2006. Die Terrororganisation etablierte sich als Akteur in der libanesischen Politik und wurde zu einem mächtigen Staat im Staate, der ein Parallel-Sozialsystem für die eigene Klientel unterhält. Die Hizbullah ist die militärisch stärkste Kraft im Libanon, wo nichts gegen ihren Willen geschehen kann. So ist Nasrallah mehr als nur ein Anführer einer radikalen Miliz und Vaterfigur der Anhängerschaft. Er ist zugleich ein libanesischer Politiker. Er tritt in der Kluft eines schiitischen Religionsgelehrten auf, mit einem schwarzen Turban, wie ihn ein Nachkomme des Propheten Mohammed trägt. Wenn Nasrallah der Anhängerschaft den Sieg über die Feinde in einer fernen Zukunft verspricht, wirkt er fast selbst wie ein Prophet. Die militaristischen und vermeintlich antiimperialistischen Propagandaveranstaltungen der Hizbullah sind immer auch religiös gefärbt.

Geteilte Loyalitäten im Irak

Auch im Irak ist in der Vorstellungswelt irantreuer Kämpfer der "Widerstand" zugleich religiöse Pflicht. Teheran unterstützte dort nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 Milizen, die Terroranschläge gegen die amerikanischen Besatzer verübten und deren Todesschwadronen in den innerirakischen Machtkämpfen mordeten. Im Krieg gegen den "Islamischen Staat" (IS) mehrten solche Gruppen ihr Ansehen als Kämpfer gegen die Dschihadisten. Im Juni 2014 hatte der einflussreiche irakische Großajatollah Ali al-Sistani seine Landsleute dazu aufgerufen, zu den Waffen zu greifen. So wurden die Paramilitärs der Volksmobilisierung (Al-Haschd al-schaabi) gegen den IS ausgehoben. Kampfstarke irantreue Milizen wie die Badr-Brigaden, Kataib Hizbullah, oder Asaib Ahl al-Haq, die es schon viel länger gab, schlossen sich den Kräften der Volksmobilisierung an – zumindest offiziell.

Nach dem Krieg gegen den IS wurden die Verbände der Volksmobilisierung in die staatlichen Sicherheitskräfte eingegliedert. Viele führende Funktionsträger der Paramilitärs blicken indes auf eine bewegte Vergangenheit im schiitischen Widerstand gegen die Amerikaner zurück. Einige saßen in amerikanischen Militärgefängnissen ein. In persönlichen Gesprächen umschiffen sie Fragen nach ihrer Loyalität. In den Büros ihrer Kommandeure sucht man das Porträt des irakischen Regierungschefs für gewöhnlich vergeblich, nicht aber das des iranischen Revolutionsführers. Die Doppelgesichtigkeit der Volksmobilisierung zeigte sich auch bei dem Drohnenangriff auf Qassem Soleimani. Mit ihm wurde ein enger irakischer Vertrauter des iranischen Generals getötet: ein Mann mit dem Kampfnamen Abu Mahdi al-Muhandis, der sowohl Anführer der Miliz Kataib Hizbullah war als auch Befehlshaber der Al-Haschd al-schaabi.

Die irantreuen Milizen haben ihre Rolle nicht nur in den staatlichen Sicherheitskräften ausgebaut. Ähnlich wie die Hizbullah im Libanon sind sie bestimmende Akteure der irakischen Innenpolitik. Sie haben sich wie ihre libanesischen Waffenbrüder gut in einem von Korruption zersetzten, konfessionalistischen System eingerichtet, das sie 2019 mit brutaler Gewalt gegen Massenproteste verteidigten. Gewährsleute sitzen in Ministerien und auch im irakischen Parlament. Sie arbeiten zudem am Aufbau eines eigenen Wirtschaftsimperiums. Wie die Hizbullah im Libanon haben auch die irakischen Gruppen des pan-schiitischen "Widerstands" eine nationale Agenda, die von den iranischen Direktiven abweichen kann. Und auch wenn ihre Vertreter in Interviews beschwören, man kämpfe Schulter an Schulter und mit einer Hand, gibt es Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten. Nicht alle Gruppen des irakischen Abschnitts der "Achse des Widerstands" schlossen sich vor dem Hintergrund des Gazakriegs dem bewaffneten Kampf gegen die amerikanischen Truppen in ihrem Land an. Die Gruppe Asaib Ahl al-Haq zum Beispiel, die sich zuvor auf den Ausbau ihres politischen Flügels konzentriert hatte, zeigte sich hier zurückhaltend.

Aufsteiger: die Huthi im Jemen

Im Jemen zeigten die Huthi-Rebellen genau das Gegenteil. Die Propaganda der Bewegung, die seit Ende 2014 die Hauptstadt Sanaa und weite Teile des Nordjemen kontrolliert, inszeniert die militärische Konfrontation mit den USA und deren Verbündeten, als wäre sie ein Geschenk. Eine spektakuläre Kommandoaktion hatte den Auftakt gebildet für eine Kampagne von Angriffen auf die zivile Schifffahrt im Roten Meer. Im November 2023 wurden vermummte Huthi-Kämpfer aus einem Hubschrauber auf dem menschenleeren Deck des Autofrachters "Galaxy Leader" abgesetzt und stürmten die Brücke. "Tod Israel, Tod den Juden!", rief einer der Angreifer im Bauch des Schiffes. "Dir zu Diensten, oh Palästina."

Seither inszenieren sich die Huthi mit ihren Angriffen auf die Schifffahrt im Roten Meer als Vorkämpfer der palästinensischen Sache. Damit können sie von der wirtschaftlichen Misere in ihrem Herrschaftsgebiet ablenken, von verfehlter Regierungsführung und ihrem paranoiden, autoritären Herrschaftsstil. In einer arabischen Öffentlichkeit, aufgebracht von der israelischen Kriegführung im Gazastreifen, wurden sie populärer. Auch innerhalb der "Achse des Widerstands" gewannen sie an Renommee. Sie wurden etwa als "Märtyrer des Meers" gepriesen, ihre Attacken wurden in mehreren Reden Nasrallahs ausführlich und in höchsten Tönen gelobt.

Die Huthi-Rebellen sind so etwas wie die "Aufsteiger" der Achse. Die Beziehung zu Iran wuchs über viele Jahre von einer begrenzten Zweckgemeinschaft zu einer von zunehmender Nähe und wachsendem wechselseitigem Nutzen geprägten Waffenbrüderschaft. Anders als die Hizbullah oder manche irakische Miliz sind die Huthi keine iranische Schöpfung. Die nach dem Familiennamen ihrer Gründer benannte Bewegung, offiziell heißt sie "Ansar Allah", entstand in den 1980er und 1990er Jahren in der Provinz Saada, dem nordwestjemenitischen Kernland der Zaiditen, Anhänger einer Minderheitenrichtung im schiitischen Islam. Es war eine Rebellion gegen die politische und wirtschaftliche Marginalisierung und gegen die vom nördlichen Nachbarn Saudi-Arabien geförderte Verbreitung des sunnitischen Salafismus in ihrer Heimatregion. Die Bewegung war ideologisch vom iranischen Regime beeinflusst. Der zu Beginn der 2000er Jahre entstandene Slogan klingt danach: "Gott ist unendlich groß! Tod den USA! Tod Israel! Verdammt seien die Juden! Sieg dem Islam!"

Als im Zuge der arabischen Volksaufstände von 2011 der Langzeitmachthaber Ali Abdullah Saleh gestürzt wurde, boten ein geschwächter Staat und politisches Chaos ideale Bedingungen für iranische Wühlarbeit. Die Huthi waren aus zwei Gründen prädestiniert für eine engere Partnerschaft: Sie waren nicht nur eine schiitische Bewegung, sondern strebten auch an, eine westlich dominierte Ordnung in der Region zu Fall zu bringen. Doch selbst in dieser Zeit war die iranische Unterstützung begrenzt. Teheran schwang sich erst zum Hauptsponsor der Huthi auf, als Saudi-Arabien 2015 an der Spitze einer internationalen Koalition im Jemen intervenierte. Mit relativ geringem Aufwand fügten die Revolutionswächter dem Königreich vergleichsweise großen Schaden zu. Iran störte sich dabei keineswegs daran, wenn seine Rolle überbewertet wurde. Teheran schwamm im selben Maße auf der Welle der Huthi-Erfolge mit, wie es zu ihnen beigetragen hat. Ausbilder aus den Reihen der Revolutionswächter und auch der Hizbullah waren hochgeschätzte Partner und Besucher. Iran rüstete die Huthi mit jenen Flugkörpern aus, die im Zuge des Gazakriegs die internationale Schifffahrt und damit den Welthandel attackieren. Jemenitische politische Beobachter in Sanaa berichten, die Huthi seien in den vergangenen Jahren immer stärker in die "Achse des Widerstands" eingegliedert worden, auch ideologisch. Sie warnen aber trotzdem – wie viele Jemen-Experten – den iranischen Einfluss auf die als stur und eigensinnig geltenden Huthi zu überschätzen.

Komplizierte Zweckgemeinschaft: Iran und Hamas

Weitaus stärker, wohl am stärksten von den großen Gruppen, setzt sich die islamistische Palästinenserorganisation Hamas innerhalb der "Achse des Widerstands" ab, deren Rückgrat eine schiitische Internationale bildet. Die Hamas hingegen ist geprägt vom sunnitischen Islamismus der Muslimbruderschaft und eine arabische, nationalistische Organisation mit einem klaren Fokus auf ihre eigene, die palästinensische Sache. Doch als Feind Israels und militärischer Alliierter in einem möglichen Mehrfrontenkrieg bot sich die Hamas für Iran als Partner an. Ebenso diente sie als Deckmantel für Bestrebungen, iranischen Einfluss unter den Arabern auszuweiten. Die Hamas-Führung macht sich keine Illusionen darüber, dass sie eine Zweckgemeinschaft mit Iran verbindet, dass es Teheran eher um militärische Fragen geht als um ihr Projekt im Gazastreifen. So herrschte in den Reihen der Hamas auch Skepsis, die eigene Unabhängigkeit für iranische Unterstützung zu opfern. Doch am Ende setzten sich Führer des militärischen Flügels durch, die später als Planer des Terrors vom 7. Oktober bekannt wurden: Hamas-Anführer Jahia Sinwar und Militärchef Mohammed Deif. Letzterer soll bei der Errichtung des Tunnelsystems von Soleimani beraten worden sein. Die Hamas erhielt ferner Unterstützung bei der Produktion eigener Raketen. 2005 hatten die Raketen der Hamas noch eine maximale Reichweite von 15 Kilometern. Dank iranischer Hilfe bedrohen sie seither fast jeden Winkel Israels. Auch die militärischen Fähigkeiten der Hamas-Zellen wurde mithilfe von Ausbildern aus Iran oder den Reihen der Hizbullah verbessert. Als die Hamas Propagandavideos ihres Großangriffs vom Oktober veröffentlichte, fiel eins sofort ins Auge: Die Ästhetik der Kommandos wies erstaunliche Ähnlichkeit mit einer Militärvorführung auf, die von der Hizbullah Monate vorher im Süden des Libanon inszeniert worden war.

Die Hizbullah spielt eine zentrale Rolle in der Zusammenarbeit der Hamas mit der "Achse des Widerstands". Die Palästinenserorganisation unterhält Büros in der Hauptstadt Beirut. Bei den etwa 100 Millionen US-Dollar im Jahr, die laut Schätzungen an die Hamas fließen, spielen Mittelsmänner mit guten Kontakten zur Hizbullah eine wichtige Rolle. Zugleich hatten die Beziehungen gelitten, als beide in Syrien auf verschiedenen Seiten standen. Die Hizbullah kämpfte für den Machterhalt von Präsident Baschar al-Assad. Die Hamas stellte sich auf die Seite seiner Gegner. Diese Spaltung schien in den vergangenen Jahren überwunden. Im April 2023 schwieg Osama Hamdan, ein hoher Hamas-Funktionär in Beirut, vielsagend auf Fragen nach übereinstimmenden Berichten über eine gemeinsame Operationszentrale. "Die Zusammenarbeit mit der Hizbullah hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter verbessert, und wir gehen diesen Weg weiter", sagte er.

Und doch gibt es weiterhin Ressentiments. Im November 2023 sagte ein Hizbullah-Kommandeur, der in Syrien gekämpft hatte: "Wir können ihnen nicht trauen. Sie haben sich schon einmal gegen uns gewendet." Die Organisation solle nicht für einen solchen Verbündeten in einen ruinösen Krieg mit Israel ziehen. Er beschwerte sich außerdem darüber, dass seine Organisation von dem Hamas-Angriff unvorbereitet getroffen worden sei. Und er drückte ein Unbehagen aus, das es unter vielen libanesischen Schiiten gibt: Auch wenn die Hizbullah-Propaganda das Morden der Hamas am 7. Oktober als militärische Operation feierte, weckten die Schreckensbilder bei ihnen Erinnerungen an den sunnitischen IS, einen Todfeind. Der Hizbullah-Kommandeur zog ausdrücklich einen solchen Vergleich und gab zu verstehen, dass sich seine Organisation als "professionelle Militärtruppe" verstehe, nicht als mordenden Terrororganisation. Mehrere Führungskader der Hamas beklagten dagegen im Zuge des israelischen Gegenschlags nach dem 7. Oktober, sie sähen gerne mehr Unterstützung durch ihre Alliierten. Revolutionsführer Ali Chamenei erteilte solchen Forderungen der im November 2023 eine Absage.

Es würde aus iranischer Sicht auch keinen Sinn ergeben, die Hizbullah als wichtigsten Verbündeten für die Rettung der Hamas in einen Krieg zu schicken. Der Terrorangriff der palästinensischen Islamisten hat Iran und seine Schattenarmee in Bedrängnis gebracht. Lange Zeit hatte die "Achse des Widerstands" die Eskalationsdominanz auf ihrer Seite. In der Region herrschte das Gefühl vor, im Zweifel sei Teheran bereit, einen Schritt weiterzugehen – wenn nötig, auch einen Schritt zu weit. Nach dem Terror des 7. Oktober hat ein traumatisiertes Israel nach und nach die Strategie im Abschreckungswettbewerb verändert – gerade in der Konfrontation mit der Hizbullah. Letztere hat viel zu verlieren, sollte es zu jenem Flächenbrand kommen, den die westliche Diplomatie unbedingt verhindern will. Ihre Raketen kann sie nur einmal verschießen, danach hätte sie, hätte die gesamte "Achse des Widerstands", einen gehörigen Teil ihres Schreckens verloren. Dem über Jahrzehnte geduldig errichteten Schattenreich der iranischen Revolutionswächter drohte schwerer Schaden. Iran wäre verwundbarer denn je.

lebt in Beirut, von wo er seit Sommer 2015 für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" als Korrespondent über die arabische Welt berichtet.