Frau Ruoff, Herr Can, der 7. Oktober 2023 mit dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel war ein einschneidendes Ereignis. Wie hat dieser Tag Ihre Schule verändert?
Ruoff – Uns war klar, dass wir als Kollegium erstmal zusammenkommen müssen, das war am Montag, dem 9. Oktober. Wir wollten nicht unvorbereitet in die Klassen gehen. Wie geht man mit so einer Situation um, die viel Betroffenheit auslöst? Man musste auch nicht groß diskutieren, dass ein grundsätzliches Friedensbedürfnis und das Recht der Menschen auf Unversehrtheit und Freiheit im Vordergrund steht. Und uns war eines klar: dass wir einen langen Atem brauchen.
Can – Am 7. Oktober bin ich bei den Meldungen über den Raketenbeschuss aus Gaza noch von den "üblichen Gewaltausbrüchen" ausgegangen. Schon am 8. wurde dann deutlich, dass wir es hier mit etwas anderem zu tun haben, mit einer genozidal geprägten Gewalt. Und in den Rückmeldungen einiger Schüler:innen haben wir schon eine Ahnung bekommen, welche Narrative wir am Montag bearbeiten müssten.
Welche Narrative meinen Sie konkret?
Can – Etwa die Vorstellung, dass da eine Verteidigungstat, eine Befreiungstat passiert sei, die gerechtfertigt sei. Und deswegen war es wichtig, dass wir uns im Kollegium erst abstimmen und alle auf einen Stand bringen. Wir haben direkt für Dienstag eine Fortbildung mit einem Referenten aus Israel einberaumt, der uns einen Überblick gegeben hat über diese einmalige Situation in einer an Tiefpunkten nicht armen Konfliktgeschichte zwischen Palästinenser:innen und Israelis:innen.
Ihre Schule liegt in Neukölln, einem Stadtteil in Berlin mit hohem arabischen Bevölkerungsanteil. Gibt es ein Land oder eine Region, aus denen besonders viele Schüler:innen kommen?
Can – Auf die gesamte Schule bezogen haben etwa 50 Prozent unserer Schüler:innen einen arabisch-palästinensischen Hintergrund. Und palästinensisch kann heißen vorwiegend libanesisch, manchmal syrisch. Und sonst haben wir zum Teil, neben herkunftsdeutschen Schüler:innen, auch Schüler:innen aus der Türkei oder aus Osteuropa.
Welche Rolle spielt das Thema Identität bei einer so diversen Schüler:innenschaft – gerade auch mit Blick auf einen Konflikt wie dem in Gaza?
Can – Bei vielen jüngeren Schüler:innen, also in der siebten bis zehnten Klasse, ist es unglaublich wichtig, sich als Muslim und vor allem als Palästinenser zu definieren. Da wird es oft sehr emotional, gerade, wenn es Konflikte wie den jetzigen gibt. Das schwächt sich in der Oberstufe etwas ab.
Der Krieg im Gazastreifen, mit dem Israel auf das Massaker der Hamas reagierte, wird jetzt seit mehreren Monaten geführt. Wie hat sich die Ihre Arbeit seitdem verändert?
Can – In der Anfangszeit, unmittelbar am 7. Oktober, war das tatsächlich eine sehr große Herausforderung, in der wir auch Schwierigkeiten hatten, in einen sachlichen Austausch zu treten, wir haben uns aber immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner besonnen, nämlich den Wert menschlichen Lebens. Im Anschluss sind wir dann in den sachlichen Austausch gegangen, wo wir neben der Beziehungsarbeit auch unmittelbare Bildungsarbeit machen konnten.
Ruoff – Man muss sich bewusst machen: In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober standen hier auf der Sonnenallee Wasserwerfer, es gab massive Polizeieinsätze. Das ist für einen Achtklässler, der da wohnt und einfach vor die Haustür geht, natürlich auch eine immense Emotionalisierung. Und dann kommt noch hinzu, dass die sogenannten sozialen Medien ungefiltert die Bilder aufs Handy spielen. Die Schüler:innen werden mit Dingen konfrontiert, die nicht für ihr Alter geeignet sind und die in öffentlichen Medien so auch nicht gezeigt würden. Die Emotionen werden so hochgeputscht, die Schüler:innen kommen dann auch so hier morgens an. Schule kann an dieser Stelle auch ein gewisser Schutzraum sein, weil wir die Bilder zum Teil gemeinsam mit den Kindern einordnen können.
Gab es in der Woche nach dem 7. Oktober Angebote für die Schülerinnen und Schüler, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Can – Es gibt langfristige Angebote, die wir auch immer unabhängig von globalen Gewaltausbrüchen haben. Aber es ist natürlich wichtig, in dieser Situation zu reagieren. Wir haben Aufwand betrieben, um in den Klassen Zeit für Gespräche und Austausch zu schaffen. Wir haben als Kollegium beschlossen, dass wir am Montag, den 9. Oktober, um 10 Uhr eine Schweigeminute für die ermordeten Israel:innen, aber auch für die in dem Konflikt bisher getöteten palästinensischen Zivilist:innen anbieten. Das haben einige Schüler:innen angenommen, andere nicht. Da war es dann auch wichtiger, ins Gespräch zu gehen. Wenn Schweigen nicht möglich ist, muss gesprochen werden.
Sie haben einen Wahlpflichtkurs "Israel/Palästina" bei sich an der Schule. Worum geht es in diesem Kurs?
Can – Den Kurs haben vor sechs Jahren zwei Kollegen von uns eingeführt. Es gab Interesse von Schüler:innen, die gefragt haben, ob wir das Thema des Nahostkonflikts oder die Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina nicht stärker bearbeiten können. Und da haben die beiden Kollegen gemeinsam mit einem außerschulischen Akteur zusammen diesen Kurs konzipiert. Der geht über zwei Jahre und Höhepunkt ist eine Reise nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Der Kurs wird für die neunte und zehnte Klasse angeboten. Wir versuchen uns diesem Konflikt, der wahrscheinlich zu den kompliziertesten dieser Zeit gehört, anzunähern. Wir beziehen auch die Erfahrungen der Jugendlichen ein. Sehr viele haben einen familiären Bezug als palästinensisch-arabischstämmige Schüler:innen. Ausgehend davon setzen wir uns mit der Konfliktgeschichte und den verschiedenen Friedensbemühungen auseinander. Wir schauen aber auch, welche Auswirkungen dieser Konflikt vor unserer Haustür hat. Einerseits betrachten wir, wie die Situation in den besetzten Gebieten aussieht. Andererseits geht es auch um die Gefahr durch Terroranschläge für die israelische Seite.
Welche Medien konsumieren die Schülerinnen und Schüler, gerade auch mit Blick auf den 7. Oktober?
Can – Die Hauptinformationsquelle, und bei einigen wahrscheinlich die ausschließliche, ist derzeit TikTok. Darüber werden die Haltungen und Emotionen zu dem Thema verbreitet, zum Teil auch Propaganda. Das wirkt natürlich wie ein Beschleuniger. Die sozialen Medien haben aus guten Gründen eine Attraktivität. Also überall dort, wo ich meine Identität ausleben kann, trifft aus nachvollziehbaren Gründen auf Zuspruch bei den Jugendlichen. Aber hier haben wir es mit einem hochbrisanten, komplexen politischen Thema zu tun. Da ist es eine große Gefahr, wenn es um Identität geht, und hier vor allen Dingen Emotionen transportiert werden, verbunden mit einseitigen, problematischen oder auch antisemitischen Bildern.
Was sind die gängigsten Fehlinformationen oder Verschwörungsmythen, die Ihnen im Unterricht begegnen?
Can – Das sind zum Teil die gängigen klassischen antisemitischen Stereotype, wie zum Beispiel die Vorstellung einer besonderen jüdischen Macht, die bestimmte Firmen kontrolliert. Im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt gibt es auch die Vorstellung, dass Israel die Medien steuert. Das sind weniger islamistisch geprägte Vorstellungen, sondern Fragmente, wie wir sie im linken und rechten Antisemitismus finden.
Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen im Unterricht Verschwörungsmythen oder antisemitische Narrative begegnen? Wie dekonstruieren Sie etwa eine Falschaussage wie "Israel kontrolliert die Medien"?
Can – Wenn es eine antisemitische Behauptung ist, muss sie als falsch eingeordnet werden. Ich finde, es ist ein Unterschied, ob eine Schülerin sagt "Israel kontrolliert die Medien", was ein antisemitischer Topos ist, oder zum Beispiel zu Gewalt gegen Juden aufruft. Das Letztgenannte kann auf keinen Fall Gegenstand einer Diskussion sein, das muss sehr deutlich abgeblockt werden. Im ersten Fall handelt es sich um ein antisemitisches Stereotyp. Da müssen wir in die Auseinandersetzung gehen. In diesem konkreten Fall würden wir herausarbeiten, wie die Medienlandschaft funktioniert. Eine Sache ist dabei sehr wichtig: Wir haben es nicht mit Antisemit:innen zu tun, sondern mit Jugendlichen, die antisemitische Fragmente wiedergeben. Deswegen können wir auch mit Gegenrede Erfolge erzielen.
Wie nehmen Ihre Schülerinnen und Schüler jüdisches Leben wahr?
Can – Ein Beispiel: Ich habe vor dem 7. Oktober in einem anderen Zusammenhang mit den Schüler:innen das Bild einer mittelalterlichen "Judensau" angeschaut, das ja immer noch an bestimmten Kirchen hängt. Ich habe sie gefragt: Wir sehen hier eine Sau, und da ist eine Religion abgebildet. Was denkt ihr, welche Religion das sein könnte? Und für sie war völlig klar: Das ist der Islam. Es kann gar nicht anders sein, weil sie in ihrer Realität vielfach mit antimuslimischem Rassismus konfrontiert sind. Ihnen dann aber zu erklären, dass wir es hier mit einer sogenannten Judensau zu tun haben, passt nicht in ihr Bild, wonach Jüdinnen und Juden in Deutschland in unbeschwerten Verhältnissen leben und beschützt werden.
Gibt es rote Linien, also etwas, das Sie im Unterricht strikt unterbinden?
Ruoff – Das kann man nicht so pauschal sagen. Schule ist auch ein Spielraum, in dem man sein Reden formt und ausprobieren kann. Natürlich begegnen uns auch Jugendliche mit Verhärtungen, und trotzdem ist es wichtig, dass sie sich aussprechen können. Denn sonst erreichen wir sie gar nicht. Gleichzeitig gibt es Momente, in denen man auch unterbrechen würde. Wo Hetze oder Hass tatsächlich geäußert werden, muss man einschreiten.
Haben Sie ein Beispiel?
Can – Ein Kollege hat berichtet, dass ein Schüler zu Gewalt gegen Juden aufgerufen hat, in der siebten oder achten Klasse. Da hat der Kollege bei all der Offenheit, die wir natürlich haben, in diesem Zusammenhang doch eine sehr deutliche rote Linie gesetzt, ohne den Schüler an sich abzuwerten. Wir sind uns alle einig und auch die Jugendlichen, dass wir ein solches Vorgehen auch bei Rassismus haben sollten. Und dementsprechend ist es hier wichtig, dass wir diese rote Linie nicht überschreiten. Aber erst einmal wird alles, was in Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, auch bei uns hier in der Schule kontrovers diskutiert. Jugendliche dürfen sogar noch mehr, also dürfen auch unsinnige Sachen in der Form behaupten. Alles außer Hetze ist sagbar.
Wie sehen Sie den Stand der antisemitismuskritischen Bildung derzeit allgemein? Es gibt zum Teil die Ansicht, dass der Ansatz gescheitert ist.
Ruoff – Als ich zur Schule gegangen bin, war es Pflicht, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Ich bin in der Nähe von Dachau großgeworden, das ist ein Thema, das mich schon lange begleitet: Welche Funktion hat Antisemitismus für bestimmte Gruppen? Wir merken ja derzeit, wie deutlich der demokratische Zusammenhalt gefährdet ist, durch die Täter. Wie können wir Jugendliche ermutigen, in einer diversen Welt zurechtzukommen, und sie fit machen, darin ihren Platz zu finden, ohne andere auszugrenzen und stattdessen anzuerkennen, dass es gut ist, wenn verschiedene Perspektiven und Talente zusammenkommen.
Can – Es gibt derzeit ein großes Bewusstsein für das Thema und das kann ein guter Ausgangspunkt dafür sein, dass wir all die Schwächen, die es gibt, auch entsprechend angehen können. Leider muss man sagen, dass man in Deutschland ein ganzes Lehramtsstudium absolvieren kann, ohne sich in einer angemessenen Form mit Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie auseinanderzusetzen. Da ist eine Reform nötig, damit die Kolleg:innen, die dann in den Schulalltag kommen, entsprechend vorbereitet sind. Ich tausche mich mit vielen Lehrkräften aus, von denen einige bereits hervorragende Arbeit leisten.
Würden Sie sagen, dass Sie nach dem 7. Oktober gut vorbereitet waren, um mit dieser Situation gut umzugehen?
Ruoff – Zu behaupten, auf so eine Situation gut vorbereitet zu sein, wäre anmaßend. Aber ja, wir hatten schon gute Voraussetzungen, wir hatten das Vertrauen in die Fachlichkeit, aber auch in die Beziehungen durch die langfristigen Projekte, von denen Herr Can erzählt hat. Wir haben eine politisch wache Schülerschaft, aber auch eine emotionale Schülerschaft, die man packen und gewinnen kann. Sie müssen Vertrauen haben, dass sie zu Wort kommen, dass sie lernen dürfen und dass sie Instrumente an die Hand bekommen, um ihr Leben und ihre politischen Einordnungen auch zu gestalten und nicht einfach nur mit einer anderen Meinung konfrontiert sind.
Was braucht es Ihrer Meinung nach, um Antisemitismus an Schulen effektiv zu bekämpfen?
Ruoff – Jenseits der politischen Inhalte braucht es Dinge wie Theater, Musik, Kunst, um Jugendliche ausdrucksfähig zu machen und um sie in Kontakt mit sich selbst zu bringen. Das gibt sowohl destruktiven Phantasien einen Raum, aber lässt auch Platz für Träume, Ideen und Wünsche. Darin liegt auch ein Teil des schulischen Auftrags: Was davon kann ich umsetzen oder in welchem Rahmen könnte sich das umsetzen lassen? Das läuft dann darauf hinaus, jenseits der klassischen politischen Bildung Kulturbildung als politischen Aufbruch zu betrachten. Dabei geht es auch darum, miteinander Konflikte durchzustehen, also exemplarisch vormachen, wie es gehen kann, in Frieden beieinander zu bleiben.
Can – Wir brauchen tatsächlich Zeit und Geld. Ich weiß, dass beides rar ist. Aber es ist trotzdem wichtig, dass die Auseinandersetzung mit all diesen Themen stattfindet. Dabei geht es nicht nur um Antisemitismus, sondern auch um andere Diskriminierungsformen wie Rassismus. Konkret ist es wichtig, bei Jugendlichen ein Verständnis dafür zu schaffen, wie sich die Welt erklären lässt, ohne sie antisemitisch oder rassistisch zu deuten. Wie schaffe ich es, Widersprüche auszuhalten? Antisemit:innen können keine Widersprüche aushalten. Wenn uns das aber gelingt, ist für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit einiges gewonnen.
Was zeichnet das Rütli-Schulmodell mit seinem Campus aus?
Ruoff – Die Idee des Campus Rütli ist zum einen, dass die, die hier lernen, richtig sind. Das war zu dem Zeitpunkt, als der Campus gegründet wurde ein zentraler Punkt für alle, die die Schule gestaltet haben. Wichtig war auch, sich im Sozialraum Neukölln zu vernetzen. Wir wissen aus jahrzehntelanger Forschung, dass gerade Kinder, die benachteiligt sind, in den Bildungsgängen oder im Sprachverstehen Begleitung brauchen, weil sie oft nicht wissen, welche Möglichkeiten ihnen zustehen oder an sprachlichen Hürden auch in Formularen scheitern.
Was können andere Schulen von Ihnen im Umgang mit dem schwierigen Thema Nahostkonflikt lernen?
Ruoff – Ich glaube nicht, dass man erst die Expertin für den Nahostkonflikt sein muss, um sich des Themas anzunehmen, sondern man muss den Mut haben, die Probleme, die die Jugendlichen mitbringen, auf den Tisch zu legen. Man muss das Vertrauen haben, dass man Profi genug ist, diese Mischung herzustellen: den Emotionen Raum lassen und gleichzeitig an das Vernünftige anzuknüpfen. Ich erwarte nicht, dass das jeder Lehrer jederzeit kann, aber es gehört zur Profession dazu. Man unterrichtet ja nicht Bücher, sondern Schülerinnen und Schüler.
Can – Was unser Kollegium vielleicht auszeichnet, ist eine gewisse Naivität in der Bereitschaft, Projekte anzugehen, die uns öfter über den Kopf wachsen. Am Ende blickt man dann doch immer sehr positiv darauf zurück, auch wenn man sie in dem Moment, wo man sie beginnt, vielleicht verflucht.
Das Interview führte Tilman Schröter, Redakteur im Ressort Internationale Politik beim „Tagesspiegel“, am 16. Februar 2024.
Mehmet Can und Tilman Schröter sind Alumni des langjährigen