Mit der Ausrichtung der XX. Olympischen Sommerspiele 1972 in München bot sich für die Bundesrepublik die Chance, sich von der Hypothek der Vergangenheit des "Dritten Reichs" und der Berliner Spiele von 1936 zu lösen und eine politische Wende zu mehr gesellschaftlicher Offenheit zu vollziehen. Für die bayerische Landeshauptstadt München war damit zudem die Möglichkeit verbunden, dringend benötigte Stadtentwicklungsmaßnahmen schneller voranzutreiben.
Deutschland zwischen Modernisierung und Hypothek der Vergangenheit
Unter dem Eindruck des "Wirtschaftswunders" und der Maßgabe der Sozialen Marktwirtschaft hatte Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister bereits in den 1950er Jahren "Wohlstand für Alle"
Doch schon die erste volkswirtschaftliche Krise 1966/67 dämpfte solche Hoffnungen. Die erste Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (1966–1969) hatte große innenpolitische Umwälzungen zu bewältigen. Viele junge Menschen empfanden ein Unbehagen am politischen Zustand und am gesellschaftlichen System der Bundesrepublik und lehnten sich gegen verkrustete Hierarchien, gegen die traditionellen Wertvorstellungen ihrer Eltern und gegen deren Schweigen zur Katastrophe des "Dritten Reichs" auf. Die "Unfähigkeit zu trauern"
Mit der Weltwirtschaftskrise 1973 erfuhr der Glaube an eine unbeschränkte Wirtschaftsentwicklung einen erheblichen Dämpfer, und es zeigten sich deutlich die "Grenzen des Wachstums", die eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Dennis Meadows 1972 in der gleichnamigen Studie prognostizierte.
In der Architektur waren die Auswirkungen der Fortschrittseuphorie in neuen städtebaulichen Leitbildern mit einer zunehmenden Urbanisierung zu erkennen. Die Kritik an der Gestalt der wiederaufgebauten Städte und an der mangelnden Sensibilität im Umgang mit den gewachsenen urbanen Strukturen wurde immer lauter, maßgeblich befördert durch kritische Publikationen etwa von Hans Paul Bahrdt,
München in den 1960er Jahren – Stadt im Aufbruch
Die Bauplanungen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen waren für die Perspektiven der Münchner Stadtentwicklung von besonderer Bedeutung. In der prosperierenden Stadt gab es genug Arbeit, und das Wirtschaftswunder hatte ein enormes Wachstum, einen höheren Lebensstandard und kürzere Arbeitszeiten, aber auch steigende Ansprüche an die Lebens- und Wohnverhältnisse zur Folge.
Der erst 34-jährige und sehr engagierte Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel hatte sich bereits mit Beginn seiner Amtszeit 1960 einer umfassenden und übergreifenden Stadtentwicklungspolitik angenommen. Auch Juristen und Soziologen sollten in die Arbeitsgemeinschaft mit Architekten einbezogen werden. Der Kieler Stadtbaurat Herbert Jensen gestaltete als Leiter der neuen Arbeitsgruppe Stadtentwicklungsplanung wesentlich das auch als "Jensen-Plan" bezeichnete Entwicklungskonzept.
Der Stadtentwicklungsplan hatte den Grundstein gelegt, um in der kurzen Planungszeit bis zu den Olympischen Spielen die dafür notwendigen Maßnahmen überhaupt realisieren zu können. Der umfassende Ausbau des öffentlichen Verkehrs- und Schienennetzes war bereits am 1. Februar 1965 mit dem Spatenstich für den Bau der U-Bahn begonnen worden. Nach dem Zuschlag für die Spiele im April 1966 wurden die Vorhaben deutlich beschleunigt und die Linien in Richtung Oberwiesenfeld vorgezogen. Bis 1972 entstanden die Nord-Süd-Linie U6, die davon abzweigende und zum Oberwiesenfeld führende Olympialinie U3 und eine West-Ost-Verbindung der S-Bahn zwischen Haupt- und Ostbahnhof, einschließlich zahlreicher neuer Bahnhöfe. Der im Gegensatz zum Münchner Süden strukturschwache und durch Industrieansiedlungen, Arbeiterviertel und Sozialwohnungen benachteiligte Norden konnte aufgewertet und als Naherholungsgebiet mit Sportanlagen ausgewiesen werden. München avancierte zwar schon seit 1964 aufgrund seiner rasanten Entwicklung zu "Deutschlands heimlicher Hauptstadt",
München wird Olympiastadt
Als Willi Daume, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), am 28. Oktober 1965 an Hans-Jochen Vogel herantrat, um ihm den Vorschlag für die Bewerbung der Stadt München zur Ausrichtung der Olympischen Spiele zu unterbreiten, hatten sich zwei Persönlichkeiten gefunden, die "selbstbewusste und letztlich typische Vertreter der ersten beiden Generationen der jungen Bundesrepublik" waren, "angetrieben von einer großen Arbeitsmoral und dem Wissen um ihre Verantwortung für die Verbesserung der Gesellschaft".
In München formierte sich unterdessen ein großes gemeinsames Interesse an der Ausrichtung der Spiele, wenn auch mit unterschiedlichen Motiven. Die Stadt konnte mit Finanzierungszusagen des Bundes und des Freistaats Bayern sowie der Beschleunigung ihrer Infrastrukturprojekte rechnen, der Freistaat erwartete wirtschaftliche Verbesserungen für die Region und der Bund einen Prestigegewinn und die Verbesserung des noch immer belasteten internationalen Ansehens. In der Präambel der Bewerbung kam aber auch die große Bedeutung einer bewussten Abgrenzung zu den Spielen 1936 in Berlin zur Sprache – und dass im Falle einer Ausrichtung Deutschland die Chance und Verpflichtung habe, diese internationale Aufgabe zur Stärkung von Frieden und Völkerverständigung einzusetzen.
Sportpark Oberwiesenfeld
Das Oberwiesenfeld bot ideale Voraussetzungen für den Standort der zentralen olympischen Sportstätten. Auf der etwa 280 Hektar großen, brachliegenden Fläche im Münchner Norden lagerte die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Kriegstrümmer. Der Schuttberg im Süden des Geländes mit einem Volumen von etwa 10 Millionen Kubikmetern war schon seit 1948 für die Freizeitgestaltung der Münchner vorgesehen und diente – mit Gras und Buschwerk bewachsen – als Freizeitbrache und im Winter als Rodelhügel für die Bevölkerung der umliegenden Stadtviertel.
Für Sport- und Freiflächen und ein Großstadion auf dem Oberwiesenfeld gab es bereits seit 1965 aus einem Wettbewerb stammende, ausgearbeitete Pläne. Der siegreiche Entwurf der Architekten Rüdiger Henschker und Wilhelm Deiss war angesichts der sehr kurzen Vorbereitungszeit eine wichtige Komponente in der Olympiabewerbung. Innerhalb von zwei Wochen mussten weitere Sportbauten sowie ein Olympisches Dorf ergänzt werden, wobei die Stadt München die drei Hauptsportstätten – Stadion, Sporthalle und Schwimmhalle – in eine über den Mittleren Ring gespannte Platte einfügte.
Nach der Entscheidung für München wurde jedoch heftige Kritik an den offiziell vorgestellten Planungen laut. Peter C. von Seidlein, Vorsitzender des Bundes deutscher Architekten Bayern, richtete seine Kritik vor allem gegen die Monumentalität der einen Kilometer langen und 400 Meter breiten "Platte": "Es bedarf nicht des Hinweises auf das Reichssportfeld von 1936 oder gar auf das Nürnberger Reichsparteitagsgelände, um klarzumachen, daß der bauliche Ausdruck dieser ersten Olympischen Spiele in Deutschland nach 1945 von nichts weiter entfernt zu sein hat, als von hohler und in fataler Weise erinnerungsträchtiger Monumentalität."
Olympische Architektur als Zeichen für ein neues Deutschland
Die Stuttgarter Architekten Behnisch & Partner – Günter Behnisch, Fritz Auer, Winfried Büxel, Erhard Tränkner und Carlo Weber – gewannen in Zusammenarbeit mit dem Architekturprofessor Jürgen Joedicke am 13. Oktober 1967 den Wettbewerb. Der Entwurf war eng an den Leitmotiven der Bewerbung "Olympische Spiele im Grünen und der kurzen Wege" orientiert, die die Initiatoren der Spiele, Willi Daume und Hans-Jochen Vogel, zuvor formuliert hatten. "Kurze Wege" waren zu verstehen im Sinne einer Nähe der Sportstätten zur Stadt wie auch einer räumlichen Verdichtung an einem Ort, "im Grünen" mit Blick auf den Schwerpunkt eines parkartigen Charakters und die spätere Nutzung als Sport- und Freizeitpark. Aus diesen Vorgaben entwickelten Behnisch & Partner das Gesamtkonzept einer modellierten Landschaft mit in Mulden eingefügten Stadien- und Hallenkörpern und überspannten diese mit einem transparenten Zeltdach – "Situationsarchitektur" genannt. Die Architekten um Günter Behnisch verstanden darunter keine fest vorgegebene Form, sondern einen offenen Entwurfsansatz, um die bauliche Gestalt mit den beteiligten Personen aus den Elementen des Ortes schrittweise zu entwickeln: die überörtlichen Bindungen des Oberwiesenfeldes zur Stadt und zu anderen Grünanlagen, den bereits im Bau befindlichen Fernsehturm, den Trümmerschuttberg des Zweiten Weltkriegs im Süden des Geländes und den aus dem nördlich davon verlaufenden Nymphenburg-Biedersteiner Kanal aufgestauten See. Verbindendes Element war die olympische Landschaft. Ausgehend vom Leitmotiv des Schuttberges sind die Geländebewegungen nach Norden weitergeführt. Sie verbinden durch auf Dämme gelegte Wege und Brücken die Sportstätten im Süden mit den olympischen Wohnanlagen und der Hochschulsportanlage im Norden.
Eine große Herausforderung war die Realisierung der Zeltdachkonstruktion. Als Vorbild diente das Dach des Deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Montréal 1967,
Die terrassierte Wohnsiedlung des olympischen Männerdorfes konzipierten die Architekten Heinle, Wischer und Partner. Die Wohnungen sind nach Süden ausgerichtet und in drei Arme strukturiert, die nach Westen ausgreifen. Vorgelagert sind kleiner dimensionierte Reihenhäuser. Zentrum und Rückgrat bildet eine Gruppe von Hochhäusern, die entlang der Lerchenauer Straße das Wohngebiet vor Verkehrslärm schützt. Die heute sehr beliebte Wohnanlage repräsentiert die experimentellen und visionären Stadt- und Wohnmodelle der späten 1960er Jahre, die zu den neuen, flexiblen Lebensmodellen der neuen Gesellschaft passten und mit neuesten wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten realisiert wurden. Ganz im Süden schließt sich teppichartig das zweigeschossige Studentendorf an, geplant von den Münchner Architekten Werner Wirsing und Günther Eckert und als olympisches Frauendorf genutzt. Es wurde inzwischen wegen großer Brandschutz- und bauphysikalischer Mängel und der schlechten Bausubstanz und Qualität des Betons mit Ausnahme von 12 Eckhäusern in Viererblöcken abgerissen. Eine Sanierung der denkmalgeschützten Flachbauten war aus wirtschaftlichen und technischen Gründen nicht möglich, sodass in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz ein Wiederaufbau nah am Original erfolgte.
Olympische Nachhaltigkeit
Für die Aufgaben einer funktionierenden Nutzung nach den Spielen konnte das bisher in den Gartenschauen gezeigte und in Parks praktizierte "Betreten des Rasens verboten", das auch für den Englischen Garten galt, dem Erholungs- und Aktivitätsbedürfnis des Stadtmenschen nicht mehr gerecht werden. Es musste ein neuer Ansatz für dessen geänderte Bedürfnisse geschaffen und ein zukunftsweisender Ort für eine selbstbestimmte, neue Gesellschaft entwickelt werden. Behnisch & Partner hatten ein Konzept zur Nutzung des Geländes für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen formuliert und schlugen die Modellierung bestimmter Zonen als Erholungsbereiche vor. Wichtig war, "den Charakter des jetzt schon vorhandenen Geländes (…) zu erhalten, d.h. es muß im Gegensatz zum Stadtgebiet, das den Menschen mit einer Fülle von Regelungen, Ordnungen und Pflichten beengt, der Bevölkerung ein Gebiet geboten werden, das ihr frei zur Verfügung steht und bei dem die im normalen Stadtgebiet erforderlichen Regelungen des menschlichen Zusammenlebens möglichst weit abgebaut sind (keine Zäune, keine asphaltierten Wege, keine "schönen" Grünanlagen, keine Gebühren zahlen usw.)".
Die weiteren Gestaltungsgrundlagen entwickelten die Architekten, insbesondere der Projektleiter für den Gesamtplan, Carlo Weber, in enger Abstimmung mit Günther Grzimek, der nach dem Wettbewerbsgewinn mit der Grünplanung beauftragt wurde. Der Landschaftsarchitekt und Professor an der Hochschule für bildende Künste in Kassel vertrat das Konzept einer Dialektik von Stadt und Landschaft, das vorsah, die urbane Stadt mit zusammenhängenden Grünflächen und Freiräumen zu durchziehen sowie Landschaft in die Stadt zu integrieren, um der zunehmenden Verstädterungsproblematik entgegenzuwirken. Das von ihm so bezeichnete "Leistungsgrün"
Grzimeks Idee einer grünen Spiel-, Sport- und Freizeitlandschaft wurzelte in den sozialen und sozialpsychologischen Erkenntnissen aus seiner Zeit als Gartenamtsleiter in Ulm und reflektierte die Tendenzen der gesellschaftlichen Modernisierung in den späten 1960er Jahren. Er strebte eine visuelle und räumliche Öffnung des Grüns zur Stadt an, das im Sinne einer modernen, neu zu definierenden Stadtplanung die zurückgedrängten Grün- und Kommunikationsräume ausgleichen sollte. So seien "Berg, See, Wiesen und Pfade in die Stadt gebrachte Elemente der Landschaft"
Fazit
Das Ensemble aus Dach und Landschaft für die Olympischen Spiele 1972 ist Ausdruck einer weltweit wichtigen Umbruchphase in der Architektur- und Zeitgeschichte und zeigt, dass sich Kennzeichen demokratischer Architektur in ihren Entstehungsprozessen finden lassen und im Denken und Handeln der Beteiligten und den Bedingungen der Planung begründet sind. Das Konzept von Behnisch & Partner ist mit dem Impetus einer sozialen, demokratischen, kulturellen und ästhetischen Identität verbunden. Architekten, Landschaftsplaner, Ingenieure, Künstler und Bauherren einte das Ziel, ein gemeinsames, herausragendes Werk ohne Pathos und Monumentalität zu schaffen, dem ein menschlicher Maßstab zugrunde liegt. Die Ästhetik des leichten, schwingenden, transparenten Zeltdachs über der weich modellierten Landschaft unterstreicht das experimentelle Wagnis einer radikal neuen architektonischen Bildsprache. Günter Behnisch hatte zwar formuliert: "Eigentlich wollten wir gar kein Dach, weil nicht die Vorstellung zugrunde lag, Häuser zu bauen, sondern Sport in der Landschaft zu schaffen."