"Not kennt kein Gebot", sagt ein Sprichwort. Hielten wir uns in dieser nun bereits über ein Jahr andauernden Pandemie an dieses Wort, würden wir in Anarchie versinken. Offensichtlich – das zeigen Länge und Ausmaß dieser beispiellosen Krise – zwingen uns bestimmte Lagen, unser Erfahrungswissen ständig zu korrigieren. Dasselbe gilt für Verhaltensstandards. Sie mögen in akuter Not außer Kraft gesetzt werden; dauert jedoch die Not länger an, dann verlangt sie auf höherer Ebene Anpassungen. Das bedeutet: Eine Lage wie die Pandemie (von "Situation" sollte man angesichts ihrer Zeitzerdehnung nicht mehr sprechen) lässt nicht nur die Tragfähigkeit gesellschaftlicher, politischer und moralischer Einstellungsmuster wie unter einem Brennglas erscheinen: Wer unterstützt wen und verzichtet auf eigene Vorteile? Umgekehrt: Wer pocht auf seine etablierten Rechte?
Die Pandemie setzt auch die ethischen Grundorientierungen, die solche Einstellungsmuster auf einer höheren Ebene kritisch hinterfragen, selbst einem Stresstest aus.
Zwischen Leben und Freiheit
Der Stresstest der Pandemie besteht darin, diese ethischen Orientierungsmuster in ein für möglichst alle angemessenes Verhältnis zu setzen. So stellte der Deutsche Ethikrat bereits zu Beginn der Pandemie fest, dass sich nahezu alle ethisch relevanten Spannungen und Konflikte der Corona-Krise unter die schwer zu findende Balance zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz, Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten sowie der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens drehen.
Erwähnt seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Welche freiheitseinschränkenden Maßnahmen lassen sich unter Maßgabe des ethischen und verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen, um individuellen und bevölkerungsbezogenen Gesundheits- und Lebensschutz zu rechtfertigen? Welche Risikoschwellen akzeptieren "wir" (wer immer das Recht hat, dieses Pronomen legitimer- oder öffentlichkeitswirksamerweise für sich zu beanspruchen) im Verhältnis zum allgemeinen Lebensrisiko, ohne deshalb (dauerhaft) Freiheitseinschränkungen akzeptieren zu müssen? Wie viel Freiheit auch zur Selbstgefährdung muss erlaubt sein, ohne deshalb (nie auszuschließende) Fremdgefährdungen überhand nehmen zu lassen? Gibt es bei Therapien und Vorsorgemaßnahmen legitime Kriterien für Vorzugs- oder Nachrangigkeitsbehandlungen, die – beispielsweise bei einer verspäteten Impfung – tödliche Konsequenzen nach sich ziehen können? War es richtig, die Impfpriorisierung maßgeblich am Risiko der Erkrankung und deren Bekämpfung, aber viel weniger an arbeits- oder ausbildungsbedingter Exposition und mangelnden Möglichkeiten, diese zu verhindern, auszurichten? Soll das in der Gesundheitsversorgung normalerweise leitende Kriterium der medizinischen Notwendigkeit als Dringlichkeit oder als Erfolgsaussicht interpretiert werden? Welche Folgen hätte das eine wie das andere im Falle möglicher Triage, also der Auswahl von Patient:innen bei zu knappen Intensivbetten, für besonders vulnerable Menschen, aber auch für das Zusammenleben der Gesellschaft? Welche Kollateralschäden der Pandemiebekämpfung werden hingenommen im Bereich menschlicher Beziehungen (wenn beispielsweise pflegebedürftige, demente oder gar sterbende Personen in Pflegeeinrichtungen zum Schutz der anderen Bewohner:innen nicht besucht werden dürfen)? Welche Schäden sind hinnehmbar im Bereich der Gesundheit (wenn an sich notwendige Therapien verschoben, vernachlässigt oder unterlassen werden), bei der Bildung (wenn auch nach über einem Jahr keine nachhaltigen Konzepte angesichts des gerade in sogenannten bildungsfernen Milieus drohenden Bildungs- und Betreuungsnotstands vorliegen), im Bereich der Sozialfürsorge (wenn deren Ausfall häusliche Gewalt sprunghaft steigen lässt), im Bereich von Sport, Religion und Kultur (wenn Millionen von Kulturschaffenden ihre Lebensgrundlage verlieren oder wenn weiten Teilen der Bevölkerung die Möglichkeit genommen wird, Sport, Religion und Kultur als ein Element der eigenen Persönlichkeit mit anderen genießend leben zu dürfen)? Welche Schäden sind im Bereich zivilgesellschaftlich-politischer Gesellschaftsgestaltung in Kauf zu nehmen (wenn drängende Fragen etwa zur Klimakrise mehr und mehr in den Hintergrund geraten und so den nachrückenden Generationen Lebensführungsmöglichkeiten genommen werden oder wenn sich angesichts der "Hartnäckigkeit" der Pandemie, aber auch angesichts erkennbarer Governance-Defizite die gesamtgesellschaftliche Stimmungslage signifikant verschlechtert und dies das Vertrauen gegenüber den staatlichen Institutionen und gegenüber breit akzeptierten "Wahrheitsagenturen" wie vor allem Wissenschaft und Qualitätsmedien erodiert)? Was und wer erhält nicht nur kurzfristig und mit warmen Worten, sondern in spürbarer sozialer und finanzieller Anerkennung die Nobilitierung "Systemrelevanz", und was bringt eine Gesellschaft mit dieser Zuschreibung zwischen strategischem Selbstinteresse, Absolutionssehnsucht für bisherige Missachtung und ernsthaftem Transformationswillen zum Ausdruck?
Konkrete Ethik jenseits von Protest und Legitimation
"Wir", das heißt die bundesrepublikanische Gesellschaft, haben uns angesichts einer jahrzehntelangen Geschichte von weitgehender wirtschaftlicher Stabilität ohne derartige bevölkerungsmedizinisch tiefe Einschnitte wie die gegenwärtigen angewöhnt, auf das mit dem Balanceakt von Gesundheitsschutz und Freiheitsermöglichung daherkommende Herausforderungsbündel mit der Faustformel zu antworten: So viel Freiheit wie möglich, so wenig Zwang wie nötig.
Die auftretenden Spannungsverhältnisse nicht nur intuitiv, sondern auf Grundlage umfassender Reflexion zu bearbeiten und angemessen ins Verhältnis zu setzen, ist Aufgabe guter Politik. Und diese Aufgabe ist in der sich wechselseitig herausfordernden Spannung zwischen a) auf unterschiedlichen Ebenen (von der kommunalen bis zur europäischen) Entscheidungen treffender Demokratie, b) rechtsstaatlichen Einhegungen und c) zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeiten, die für den demokratischen Rechts- und Sozialstaat den nötigen wie förderlichen Resonanzraum bilden. Eine Ethik der Pandemiebekämpfung hat diesen Versuch von good governance kritisch, aber auch konstruktiv zu begleiten, wenn sie nicht in purer Protestkommunikation oder in reiner Legitimationsbeschaffung, neuerdings "ethics washing" genannt, aufgehen will.
Die Ethik der Pandemiebekämpfung kann sich dann nicht – wie in weiten Teilen der analytischen Philosophie – damit begnügen, allein die innere Konsistenz von Begriffsbildungen oder vermeintliche Kohärenz von Argumentationsgängen zu überprüfen. Sie muss, im Sinne einer konkreten Ethik,
Pluralität achten
Angesichts der ethischen Grundspannung, in der Pandemie unter Aufrechterhaltung des gesamtgesellschaftlichen Systems Lebens- und Gesundheitsschutz einerseits und Freiheitsermöglichung andererseits auszubalancieren, muss man nicht nur vor allen Formen moralischer oder politischer "Alternativlosigkeit" warnen, sondern auch – deskriptiv wie normativ – proaktiv auf Pluralität setzen. Diese Pluralitätsoption ist nicht nur Realität moderner Demokratien oder ein Klugheitsimperativ in einer komplexen Gesellschaft, möglichst viele Kompetenzen und auch Positionen zu berücksichtigen, um höchst komplexen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie zu begegnen. Vielmehr ist die Anerkennung unterschiedlicher Positionen auch (bis zu einem gewissen Grade) normativ geboten, wenn sich die Partizipation an öffentlichen Debatten und politischen Entscheidungen aus Menschenwürde und Menschenrechten ableitet. Damit deutet sich aber bereits die Grenze der Berücksichtigung unterschiedlicher Positionen an. Die ist nämlich dann gegeben, wenn Vorschläge für politische Strategien und öffentliches Handeln die verfassungsrechtlichen Grundlagen der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung angreifen. In der teils heftigen zivilgesellschaftlichen Pandemiediskussion sind solche Grenzverletzungen erkennbar, wenn nach etabliertem Wissensstand gesundheitsschützende Auflagen missachtet und dadurch andere (zum Beispiel Demonstrationen begleitende Polizist:innen) gefährdet werden oder wenn im Zuge von Protestveranstaltungen demokratiefeindliche oder andere strafrechtlich relevante Äußerungen getätigt werden.
Aber diesseits dieser Grenzüberschreitungen ist die Balance zwischen "Alternativlosigkeit" und Beliebigkeitspluralismus im Streit um den richtigen Weg der Pandemiebekämpfung oft schwer zu finden. Das liegt nicht nur an externen Faktoren wie Erfolg oder Misserfolg bei der Impfstoff- oder Schnelltestbeschaffung, die sich auf die je akute Stimmung im Land und überdies auf moralische Achtungszuschreibungen auswirken. Vielmehr zeigt sich auch in der Pandemie, dass bei allem moralischen Pluralismus in unserer Gesellschaft bestimmte Einstellungen sich derartig etabliert haben, dass sie im üblichen Wechselspiel aus Lebensformen und institutionellen Settings durch verfassungsgerichtliche Urteile rechtliche Bindungswirkung entfalten und andere konkurrierende moralische Maßstäbe ausstechen können. An einem mit zunehmender Dauer der Pandemie immer virulenter werdenden Beispiel lässt sich dieses Überschreiten der rechtlichen Verbindlichkeitsschwelle von moralischen Einstellungen gut veranschaulichen: Ob Geimpfte (nach dem Nachweis, dass sie selbst die Infektion nicht mehr übertragen können) die ihnen unter den Bedingungen des Infektionsschutzgesetzes als Individuen vorenthaltenen Grundfreiheiten zurückerhalten, weil die Maßnahmen für sie als nicht mehr verhältnismäßig gelten, oder ob man darin eine Privilegierung für Geimpfte sieht, weil die Nicht-Geimpften zweifach benachteiligt sind, indem sie erstens einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt und ihnen zweitens Kultur- und Bildungsgüter versagt sind, ist nicht nur eine Frage des Framings. Hinter dieser Frage verbirgt sich der ethische Grundkonflikt, ob entweder Freiheitsentfaltung oder Gleichheit, hier verstanden als für alle gleicher Zugang zum öffentlichen Leben (jedenfalls solange noch nicht alle ein Impfangebot erhalten haben), die Maßgabe politischen Entscheidens sein soll. Ethisch ist diese Debatte mit ihren Pro- und Contra-Argumenten durchaus offen. Das gilt allerdings nicht für das (deutsche Verfassungs-)Recht. Denn im Verfassungsrecht hat sich ein klarer Vorrang für individuelle Freiheitsrechte sedimentiert; in einem Urteil aus dem Jahr 2020 sprach das Bundesverfassungsgericht in geradezu feierlichem Ton von der "autonomen Selbstbestimmung", die es zu schützen gelte.
Dass unsere Gesellschaft wesentlich davon lebt, dass Pluralität geachtet werden muss, wird schließlich an den Debatten um die sogenannte Systemrelevanz deutlich. Mit zunehmender Dauer werden beispielsweise Kulturschaffende und für nicht wenige auch religionskulturelle Akteur:innen als systemrelevant erkannt. Die höchst kontroversen Debatten um die sogenannten Querdenker und um die Schauspieler:innen-Aktion #allesdichtmachen zeigen, wie die zeitliche Zerdehnung einer Krisensituation, fehlende berufliche, finanzielle, aber auch Anerkennungsperspektiven gesellschaftliche Diskurse erschweren. Ethisch ist daraus im Umkehrschluss zu folgern: Nichts – selbst wenn dies kurzfristig Zeit kostet und die Rechenschaft der Regierenden schwerer macht – ist so falsch, wie mit fatalen Slogans wie "Öffnungsdiskussionsorgien" zivilgesellschaftliche Beteiligung zu dämpfen oder gar unterdrücken zu wollen. Dass es viel zu häufig an von den Regierenden organisierten, moderierten und ausgewerteten Beteiligungsmöglichkeiten gefehlt hat, war und ist nicht nur eine verlorene Chance, einzigartige "Vor-Ort"-Expertise etwa von Krankenhaus- und Pflegepersonal, Lehrenden oder Vereinsvorständen zu nutzen, sondern auch ein Mangel an Respekt vor plural verfasster Öffentlichkeit und dem plural verfassten Souverän politischer Entscheidungen. Anders finden gesellschaftlich schwierig auszuhandelnde und zu verantwortende Maßnahmen nicht den Rückhalt, den sie dringend benötigen.
Nachdenklichkeit erzeugen
Die diskursiven Spannungen ergeben sich nicht nur aus der notorischen weltanschaulichen Pluralität in der Gesellschaft, sondern auch daraus, dass die medizinische wie gesellschaftspolitische Lage derartig komplex ist, dass selbst ähnliche Positionen zu den leitenden moralischen und ethischen Grundorientierungen in der Folge sehr unterschiedliche Standpunkte nach sich ziehen können. Entsprechende Kontroversen, Widerstreite und Zerwürfnisse lassen sich beispielsweise an der festgefahrenen Debatte zwischen Vertreter:innen von Öffnungsstrategien vs. Harter-Lockdown-Sofort-Ansätzen identifizieren (um tendenziell von Verschwörungserzählungen geleitete sogenannte Querdenker noch gar nicht zu erwähnen).
In diesen Konflikten kann es nicht primäre Aufgabe der Ethik sein, unmittelbar für die eine oder andere Position Partei zu ergreifen. Bevor sie das tut (denn am Ende kann man sich nicht nicht verhalten), gilt es, auf die auf dem Weg von moralischen Überzeugungen zu gesellschaftlicher Praxis (in Medizin, Politik, Recht, Wirtschaft und Kultur) liegenden Weggabelungen hinzuweisen. In die eine wie in die andere Richtung weiterschreiten zu können, kann oftmals mit guten, auch wissensbasierten Gründen gerechtfertigt werden. Ethik muss deshalb zunächst dazu beitragen, im gesellschaftlichen Diskurs Komplexitäts- und Differenzsensibilität zu fördern. Das muss aber noch lange nicht bedeuten, dass einem "anything goes" das Wort geredet wird.
Zur Verdeutlichung dieser ethischen Aufgabe sei auf das Beispiel der Beurteilung von und den Umgang mit wissenschaftlichem Wissen (im Unterschied zu bloßen Behauptungen) verwiesen. Neben sogenannten Querdenkern, deren antiwissenschaftliche Attitüde weit über das Pandemiegeschehen hinausreicht und ein sichtbares Indiz für tieferliegende gesellschaftliche Spaltungen ist, lässt sich auch im Mainstream der Pandemiebekämpfung ein Widerstreit um den Status wissenschaftlichen Wissens und seines politischen Status feststellen. Aus der Sicht komplexitäts- und differenzsensibler Ethik müssen alle Positionen kritisch betrachtet werden, die von vermeintlich klarer wissenschaftlicher "Faktenlage" ausgehen und eindeutige politische Folgerungen ziehen wollen. Hier muss (nicht nur) Ethik auf Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis verweisen. Die Theorie, sofern sie Naturwissenschaften in den Blick nimmt, muss Überhöhungen wissenschaftlicher Aussagen zu ewigen Wahrheiten dekonstruieren und sie stattdessen auf den ihnen angemessenen Status von zu einem bestimmten Zeitpunkt bestmöglicher, aber grundsätzlich falsifizierbarer Evidenz reduzieren. Zudem ist zu betonen und öffentlich zu kommunizieren, dass schon aus der je berechtigten Perspektive unterschiedlicher Wissenschaften unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden können. Das gilt nicht nur für den bekannten Gap zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, sondern auch innerhalb der Medizin: Ein virologischer Zugang unterscheidet sich von einem epidemiologischen oder einem intensivmedizinischen. Im Laufe der Pandemie haben sich die Kriterien und Maßeinheiten für infektionspolitische Entscheidungen immer wieder geändert. Erinnert sei an die absolute Zahl der Infizierten, den R-Wert, die Positivrate, die Altersverteilung, den Sieben-Tages-Inzidenzwert, die Verdopplungsrate und so weiter. Auch die Einschätzung und der Vergleichswert des zeitlichen, sozialen und individuellen Risikos sowie der Vergleichsmaßstab (zum Beispiel das "allgemeine Lebensrisiko") sind mit guten wissenschaftlichen Gründen und nicht nur aus Weltanschauungsmotiven strittig.
Wegen dieser Strittigkeiten und Uneindeutigkeiten steht es jenen, die sich informieren wollen, aber auch der Politik gut an, nicht nur monomanisch auf eine Perspektive wissenschaftlicher Beratung zu setzen. Richtig ist der Ansatz, Expert:innenräte interdisziplinär (und am besten zudem mit der Expertise etwa von Heim-, Kindertagesstätten- oder Schulleitungen) zu besetzen. Formulierungen wie "Meine politische Entscheidung folgt allein der Wissenschaft!" überführen sich dann ihrer unzulässigen Komplexitätsreduktion. Denn die Wissenschaft gibt es nicht. Politik hat auf Wissenschaft, die ihren Standards genügt und diese auch kommuniziert, zu hören. Sie darf ihr aber nicht hörig sein.
Deshalb muss – auch das ist ein Imperativ der Wissenschaftsethik – Wissenschaft in ihrer organisatorischen Verfasstheit die Grenzen ihrer eigenen Kommunikation nach innen und außen selbstkritisch reflektieren. Während beispielsweise der Ethikrat in seinen Stellungnahmen nur für sich selbst spricht, hat die Deutsche Nationalakademie Leopoldina mehrfach den Eindruck erweckt, sie spräche mit ihren Empfehlungen für die Wissenschaft. Jedenfalls hat man diesen Eindruck, den die Bundeskanzlerin so kommunizierte,
Orientierung anbieten
Auch wenn Ethik zur Achtung von Pluralität und zur (selbst-)kritischen Nachdenklichkeit sensibilisieren soll, schließt die selbstkritische Haltung ein, dass man nicht standort- und meinungsfrei sein kann: Das bekannte Diktum Paul Watzlawicks "Man kann nicht nicht kommunizieren!" muss Ethik, bei aller Aufgabe, Distanz zu moralischen Überzeugungen aufzubauen und Komplexität auszuhalten, dann so wenden, dass sie auf der genannten Grundlage einen Kompass anbietet. Dieser ersetzt politische Entscheidungen in der Corona-Pandemie nicht, gibt aber Orientierung für gangbare Wege.
Dabei kann man im lockeren Anschluss an Niklas Luhmanns Idee, dass der Sinnbegriff nach der Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension differenziert werden muss, ethische Herausforderungen des gesellschaftlichen Corona-Diskurses und verantwortlicher Pandemiebekämpfung identifizieren:
In zeitlicher Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass ethische Reflexion zwar "in Echtzeit"
Insofern Raum nicht nur eine geografische, sondern auch eine kulturelle Basiskategorie ist, stellt sich in ethischer Perspektive immer wieder die provozierende Frage, wie sich die Fokussierung der Pandemiebekämpfung auf den Raum des Nationalstaates (beziehungsweise der EU) angesichts einer weltweiten Gesundheitskrise rechtfertigen lässt. Dies ist zunächst eine Frage internationaler Gerechtigkeit in der Bekämpfung schweren Leids in besonders betroffenen Weltregionen. Sie bekommt zudem eine ganz eigennützige Drehung mit Blick auf die Pandemiepolitik in den reicheren Ländern, als die unsolidarische Nicht-Unterstützung der sich entwickelnden Länder dazu führen wird, dass dortige Herausforderungen (wie Mutationen des Virus) früher oder später importiert werden.
Neben dem ethisch zu reflektierenden Zeit- und Raumindex verantwortlichen Entscheidens muss in sachlicher Perspektive von allen Beteiligten aus den Bereichen Medizin bis Politik die Multiperspektivität der Pandemiebekämpfung ausgehalten und auch öffentlich kommuniziert werden. Die sachlich und kommunikativ extrem schwierige Aufgabe war und ist (beziehungsweise wäre gewesen) das mutige Eingeständnis in die Gesellschaft hinein, dass bei hinreichender Grundlage auch Entscheidungen und Entscheidungsprozesse geändert werden können müssen. Die Gesellschaft für das Ideal der Wissenschaft zu sensibilisieren, das heißt, stetig darauf hinzuweisen, dass Erkenntnisfortschritt nur via geordnetem und voranschreitendem Fehlermanagement zu erreichen ist, erscheint in der Pandemie und darüber hinaus als eine dringliche und zu vertiefende Aufgabe. Nur damit wird dauerhaft ein starker Wall gegen den erkennbaren Trend gebaut, Wissenschaft als pure Meinung zu diskreditieren. Ohne Vertrauen in die Komplexität von Wissenschaft werden komplexe Probleme in einer komplexen Welt nicht verantwortungsvoll gelöst werden können.
Ethik als Begleiterin gesellschaftlicher Deliberation
Angesichts der bereits identifizierten zentralen Spannung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten auf der Grundlage, das gesamtgesellschaftliche Leben nicht zusammenbrechen zu lassen, verdichten sich die Herausforderungen in der sozialen Dimension verantwortlicher Pandemiebekämpfung. Die im Folgenden genannten Beobachtungen markieren solche Punkte, die nicht nur in der Corona-Pandemie besonders gravierendes Konfliktpotenzial für moralisch verantwortliches Handeln, politisches Entscheiden und gesellschaftlichen Zusammenhalt offenbart haben, sondern weit darüber hinaus gesellschaftlicher Neujustierung bedürfen.
Zunächst hat die Pandemie vielen Menschen, die sich, im Weltmaßstab betrachtet, eines hohen Wohlstandsniveaus erfreuen dürfen, die basale Verletzlichkeit menschlichen Lebens in nie gekannter Weise nahegebracht, oft: unter die Haut gehen lassen. Diese Erfahrung hat nicht nur (jedenfalls zeitweilig) ein Gespür dafür aufkommen lassen, was und wer unverzichtbar ist, sondern auch verdeutlicht: Freiheit und Selbstbestimmung, die wir in unserer Gesellschaft zunehmend als den vornehmsten Ausdruck von Menschenwürde charakterisieren, können nicht ohne Solidarität, Gemeinsinn sowie die Verhinderung von zu großen Differenzen und Spaltungen auf individueller, aber auch kollektiver Ebene realisiert werden. Erkennbar muss in der Aufarbeitung des Pandemiegeschehens das, was man pathetisch den Gesellschaftsvertrag nennt, diskursiv neu verhandelt und auch institutionell neu festgelegt werden.