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Die Mobilitätswende moderieren | Lokale Verkehrswende | bpb.de

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Die Mobilitätswende moderieren Gelingensbedingungen für demokratische Aushandlung auf kommunaler Ebene

Anke Kläver Katharina Götting

/ 15 Minuten zu lesen

Die Mobilitätswende geht in Städten mit Verteilungs- und Identitätskonflikten einher. Es ist deshalb unerlässlich, die jeweils Betroffenen demokratisch einzubinden, zugleich aber auch den Zweck und die Grenzen der Beteiligung klar zu kommunizieren und Dissens zuzulassen.

Es ist allgemein bekannt, dass im Verkehrssektor in Deutschland noch immer viel zu große Mengen Kohlenstoffdioxid ausgestoßen werden und es einer Mobilitätswende bedarf, um das im Bundes-Klimaschutzgesetz verankerte Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Die Reduktion von Treibhausgasen ist zudem in einigen Landesgesetzen festgeschrieben, etwa im Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz. Demnach verpflichtet sich die Hauptstadt bis 2045 zu einer Reduktion um 95 Prozent im Vergleich zum Referenzjahr 1990.

Nimmt man diese Ziele ernst, kann es in den urbanen Zentren jedoch nicht allein darum gehen, durch Elektrifizierung von Antrieben CO2-Emissionen zu reduzieren; zusätzlich bedarf es einer Neuaufteilung des öffentlichen Raumes. Gemeint ist damit die Umwidmung von Flächen, die bislang hauptsächlich von Autos und anderen Kraftfahrzeugen in Anspruch genommen werden, zu Räumen für aktive Mobilität, also Fahrradfahren und Zufußgehen, Freizeitnutzung und urbanes Grün. Das Berliner Mobilitätsgesetz, das 2018 vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet wurde, sieht etwa den Ausbau geschützter Radwege und Radinfrastruktur vor – vor allem auch, um unter dem Leitbild „Vision Zero“ die Zahl der Verkehrsopfer langfristig auf ein Minimum zu reduzieren. Doch nicht nur in Berlin werden die Forderungen nach mehr Flächengerechtigkeit immer lauter und der Bedarf an demokratischer lokaler Aushandlung der daraus erwachsenden Konflikte immer größer.

Im Folgenden gehen wir den Fragen nach, welche theoretischen Ansätze es zur demokratischen Bearbeitung dieser Konflikte gibt und wie der Sprung von der Theorie in die Praxis gelingen kann. Zunächst aber werfen wir einen Blick darauf, warum das Thema urbane Mobilität überhaupt so großes Konfliktpotenzial birgt.

Konflikte um Neuverteilung

Der begrenzte öffentliche Raum, vor allem in urbanen Räumen, führt zu Verteilungskonflikten. Es geht im Wesentlichen darum, wie viel Fläche für welche Zwecke genutzt werden und für wen sie zugänglich sein sollte. Hierbei treffen verschiedene Vorstellungen aufeinander. Zudem stellt sich in diesen Verteilungskonflikten die Frage nach der Verteilung von Kosten und Nutzen im Zuge der Umgestaltung. Steigende Kosten betreffen insbesondere Menschen, die bislang vorwiegend mit dem Auto unterwegs waren und dieses kostengünstig im öffentlichen Raum abstellen konnten. Sie werden vielerorts etwa durch erhöhte Parkgebühren finanziell stärker belastet als zuvor.

Darüber hinaus entstehen sogenannte Verhaltenskosten, die sich etwa in längeren Parkplatzsuchen, wahrgenommenen Komforteinbußen und eingeschränkter Flexibilität äußern. Diese erhöhten (Verhaltens-)Kosten können oftmals auch als Verlust von bisherigen Privilegien wahrgenommen werden. Da Menschen zur Verlustaversion neigen, gewichten sie diesen Verlust höher als mögliche Gewinne. Für die Umgestaltung von Flächen bedeutet das: Egal wie oft die Vorteile einer autoärmeren Stadt für die Gesundheit, die Lebensqualität, die Umwelt und anderes mehr betont werden – der Verlust der Privilegien scheint im öffentlichen Diskurs stärker ins Gewicht zu fallen.

Unabhängig vom Verkehrsmittel entstehen durch die Umgestaltung außerdem vermeintliche Kosten durch Nebeneffekte. So befürchten Anwohner*innen oftmals erhöhten Freizeitlärm (statt Verkehrslärm) sowie die Zunahme von Vandalismus und ein vermehrtes Müllaufkommen etwa durch nächtlichen Aufenthalt von Jugendlichen. Auch die Sorge vor einer beschleunigten Gentrifizierung ist an vielen urbanen Orten verbreitet.

Des Weiteren werden im Kontext der Neuverteilung von Flächen unterschiedliche Werte, Interessen und Zielvorstellungen deutlich. Diese Unterschiede können sowohl zwischen Gruppen als auch Einzelpersonen auftreten – seien es die involvierten Akteur*innen aus der Politik und Verwaltung oder jene aus zivilgesellschaftlichen Initiativen. Die Politikwissenschaftlerin Anke Borcherding wirft an dieser Stelle die Frage nach unterschiedlichem kulturellem Kapital als Grund für Konflikte zwischen Akteur*innen auf. Zusätzlich können widersprüchliche Erwartungen, die mit verschiedenen sozialen Identitäten verbunden sind, zu Konflikten führen: etwa, wenn Personen einerseits als Arbeitnehmer*innen auf das Auto angewiesen sind und entsprechende Nutzungseinschränkungen ablehnen, andererseits aber als Anwohner*innen Veränderungen in der Nachbarschaft unterstützen, um beispielsweise mehr Grünflächen zu schaffen. Ein ähnlicher Effekt tritt auf, wenn Menschen sich aufgrund ihrer sozialen Identität als Radfahrer*innen für eine sichere und gegen eine nur autogerechte Infrastruktur einsetzen, gleichzeitig aber durch die Aufwertung ihrer Nachbarschaft Sorgen vor Gentrifizierung haben.

Den richtigen Rahmen finden

Angesichts der Konflikte, die mit der Umverteilung der Flächen einhergehen können, ist es wenig verwunderlich, dass sich viele kommunale Verwaltungen von einem rein technokratischen, von oben nach unten ausgerichteten Planungsverständnis abgewendet haben. Sowohl in Bundes- als auch in Landesgesetzen wird betont, wie wichtig es ist, die Planung inklusiver zu gestalten. So sieht auch das Berliner Mobilitätsgesetz Beteiligungsformate zur Erhöhung der Transparenz und Akzeptanz vor. Dabei sollen die von staatlichen Akteur*innen organisierten Beteiligungsverfahren „die Interessen aller in Berlin lebenden Menschen“ unabhängig von soziodemografischen Variablen und dem Mobilitätsverhalten „in die Verfahren eingebracht und berücksichtigt werden“. Es soll eine Mobilitätswende für alle und mit allen gestaltet werden, in der Wissen und Erfahrungen von Bevölkerung und Planer*innen einbezogen werden. So wird in Berlin im Rahmen der Mobilitätswende eine Reihe an unterschiedlichen Beteiligungsformaten eingesetzt. Diese reichen von Informationsveranstaltungen über Diskussionsrunden und runden Tischen bis zu Online-Beteiligungsmöglichkeiten und aufsuchenden Beteiligungsformaten.

Idealtypische Beteiligungsprozesse haben viele Kriterien zu erfüllen, um als fair wahrgenommen zu werden. Dazu gehören unter anderem Transparenz, Unparteilichkeit und Neutralität der Moderierenden, Mitgestaltung von Verfahrensabläufen und Offenheit der Entscheidungen. Werden Kriterien davon nicht erfüllt, kann die Motivation zur weiteren Teilnahme an Beteiligungsverfahren schwinden. So zeigt eine Interviewstudie zu einem umgestalteten Platz in Berlin beispielsweise, dass sich manche Befragte mehr Transparenz und Informationen gewünscht hätten und sie die Moderierenden nicht als unparteiisch und neutral wahrgenommen haben. Für die Offenheit der Entscheidungen ist es deshalb sehr wichtig, eine klare und verständliche Definition von Beteiligung zu vermitteln sowie deutlich zu kommunizieren, welchem Zweck die Beteiligung dient und wo ihre Grenzen liegen. Denn der Begriff „Beteiligung“ kann unterschiedlich interpretiert werden – sowohl seitens der kommunalpolitischen Akteur*innen als auch der Bürger*innen – und daher bisweilen falsche Erwartungen wecken. Oftmals wird auch nicht klar genug kommuniziert oder verstanden, zu welchem Zweck die Beteiligung stattfindet. So kann es vorkommen, dass ein Beteiligungsverfahren zur Gestaltung von Parkplätzen oder eines verkehrsberuhigten öffentlichen Platzes eingeleitet wird, aber einige Anwohner*innen eigentlich über die viel grundlegendere Frage abstimmen möchten, ob überhaupt Parkplätze umgestaltet und Plätze verkehrsberuhigt werden sollten.

Weitere Kriterien für faire Beteiligung sind Niederschwelligkeit von Veranstaltungen, zeitpunktunabhängige Kompetenzentwicklung sowie Unterstützung bei der Mitsprache. Diese haben einen besonderen Einfluss darauf, wer an Beteiligungsformaten teilnimmt und wer nicht.

Wer nimmt (nicht) teil?

Mit dem Civic-Voluntarism-Modell haben der Politikwissenschaftler Sidney Verba und Kolleg*innen einen strukturierten Erklärungsansatz entworfen, der aufzeigt, was Menschen dazu motiviert oder daran hindert, an Beteiligungsformaten teilzunehmen. Zunächst nennen sie die Ressourcen, die Menschen brauchen, um an klassischen Beteiligungsformaten teilnehmen oder politisch aktiv werden zu können: genügend Zeit, Einkommen und gesellschaftliche Kompetenzen. So zeigt sich, dass Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben positiv korreliert mit der Verfügbarkeit von Zeit und materiellen und sozialen Ressourcen (also Einkommen und Bildung), die in eher heterogen geprägten urbanen Räumen ungleich verteilt sind.

Weitere Einflussfaktoren auf die Teilnahme an Beteiligungsformaten sind unter dem Begriff „psychologisches Engagement“ oder auch „Motivation“ zusammengefasst. Dazu zählen politisches Interesse und politische Wirksamkeit. Politische Wirksamkeit beschreibt hier die Überzeugung, dass man etwas bewirken kann, wenn man an Beteiligungsformaten teilnimmt oder sich engagiert. Demnach verringert sich die Wahrscheinlichkeit, an Beteiligungsformaten teilzunehmen, wenn das politische Kompetenzbewusstsein (internale politische Wirksamkeit) gering oder das Gefühl, von politischen Entscheidungsträger*innen gehört und gesehen zu werden (externale politische Wirksamkeit), nicht gegeben ist. Umgekehrt erhöht sich die Wahrscheinlichkeit zur Beteiligung, wenn beides gegeben ist.

Mit der externalen politischen Wirksamkeit geht auch das Vertrauen in lokale Akteur*innen einher, die entweder die Flächenumgestaltung oder die Beteiligungsformate organisieren. Haben Menschen wenig Vertrauen in die Akteur*innen, sinkt die Bereitschaft, teilzunehmen. Zudem spielt es eine Rolle, ob Menschen schon Erfahrungen mit Beteiligungsformaten gemacht haben. Hier kumulieren nun die Einflussfaktoren und verstärken sich gegebenenfalls: Menschen, denen es aufgrund ihrer Ressourcen leicht fällt, sich zu beteiligen, sammeln mehr Erfahrungen und sind immer wieder präsent. Allerdings können Menschen durch eine Teilnahme auch frustriert werden, wenn sie etwa das Gefühl haben, dass die Beteiligungsformate nicht neutral und transparent genug sind oder ihre Perspektive nicht ausreichend gehört wurde. In diesen Fällen verringert sich die Wahrscheinlichkeit, erneut an Beteiligungsformaten teilzunehmen.

Auch die soziale Vernetzung spielt in dem Civic-Voluntarism-Modell eine entscheidende Rolle. So kann es hilfreich für die Teilnahme sein, dass Menschen bereits in Vereinen, (Nachbarschafts-)Initiativen, Gemeinden oder ähnlichen Gruppen aktiv und vernetzt sind und darüber an relevante Informationen zu Beteiligungsformaten kommen. Ein „sozialer Aufruf“ zur Teilnahme an Beteiligungsformaten kann ebenfalls von Familienangehörigen, Freund*innen oder Nachbar*innen ausgehen. Gleichzeitig kann es passieren, dass Erfahrungen des sozialen Netzwerkes übernommen werden und diese die Wahrnehmungen und Erwartungen an Partizipationsformate beeinflussen. Insbesondere negative Erfahrungen mit Beteiligung des sozialen Netzwerkes können dazu führen, dass Menschen abgeschreckt sind, ihre Zeit und Energie in solche Formate zu stecken.

Theoretische Diskursansätze

Neben diesen Beteiligungshürden, die nicht nur im Kontext der Mobilitätswende auftreten, stellt sich grundsätzlich die Frage, wie in pluralistischen Demokratien, in denen die Bürger*innen die zentrale Legitimationsinstanz sind, die Verständigung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gelingen kann. Dabei verstehen wir demokratische Verständigung als Benennung dessen sowie Diskurs und Streit darüber, was sich wie ändern sollte. In der Wissenschaft haben sich verschiedene theoretische Ansätze für den Umgang mit divergierenden Perspektiven in Planungsprozessen herauskristallisiert. Hierbei wird vor allem zwischen dem konsensual-deliberativen und dem konfliktorientiert-agonistischen Ansatz unterschieden. Beide Ansätze haben ihren Ursprung in der Unzufriedenheit mit Top-down- und technokratischen Planungsprinzipien.

Der konsensual-deliberative Ansatz beruht auf der Diskursethik des Philosophen Jürgen Habermas. Demnach fungiert der rationale Diskurs, der gleichberechtigte Austausch vernünftiger Argumente, als universelles Prinzip, um soziale und politische Fragen demokratisch und frei von Zwängen zu lösen. Der Theorie nach erreichen Beteiligte aus verschiedenen sozialen Gruppen, die von der zu verhandelnden Sache – hier einem Planungsprozess – betroffen sind, in einem machtfreien Raum nach bestimmten Regeln und Gütekriterien eine Einigung. In der Praxis scheitert dieser Ansatz jedoch häufig – zum einen an den im Civic-Voluntarism-Model beschriebenen Hürden, zum anderen an der fehlenden gemeinsamen Lebensrealität der verschiedenen Gruppen. Unter welchen Umständen man lebt, unterscheidet sich teilweise so stark, dass es oftmals an geteilten Werten, Weltanschauungen und Annahmen fehlt. Dies äußert sich beispielhaft darin, wenn Menschen, die das hegemoniale Narrativ der „urbanen Nachhaltigkeit“ proklamieren, Räume schaffen möchten, in denen die Wünsche und Perspektiven aller Berücksichtigung finden sollen, um eine „gemeinsame Vision“ zu erschaffen und umzusetzen. Was an einigen Orten aufgrund einer gemeinsamen Lebensrealität zu funktionieren scheint, führt an anderen Orten jedoch zu vehementer Oppositionsbildung.

Der zweite Ansatz für die demokratische Verständigung ist die konfliktorientierte-agonistische Diskurstheorie. Dem verständigungsorientierten Diskursmodell von Habermas entgegen hat zunächst der Philosoph Michel Foucault den durch Machtverhältnisse herrschenden Exklusionseffekt moderner Gesellschaften in Diskursen betont, worin ihm später unter anderem Ernesto Laclau und Chantal Mouffe folgten. Dieser Ansatz stellt den Dissens ins Zentrum. Denn einen Dissens, so die Theorie, gibt es bereits vor dem Diskurs und tritt nicht als Ergebnis von Diskursen über Planungsprozesse auf. Daher ist es unmöglich und nicht gewünscht, durch Diskussionsprozesse den Dissens vollständig aufzulösen. Vielmehr zielen diese Prozesse darauf ab, den Dissens sichtbar zu machen und zu vertiefen. Es geht also nicht darum, den Dissens in einen Konsens zu überführen, sondern ihn auszuhalten. Das bedeutet, dass auch Emotionen berücksichtigt werden: Ängste, Sorgen und Wut, die zutage treten, sollten nicht ignoriert oder vermieden, sondern sichtbar gemacht werden. Entsprechend gilt es, Räume dafür bereitzustellen.

In dieser Hinsicht befürwortet Mouffe einen „agonistischen Pluralismus“ und setzt sich für die Schaffung agonistischer Foren ein. In diesen Foren könnten „verschiedene hegemoniale politische Projekte miteinander konfrontiert werden“. Doch egal auf welche Art und Weise dies geschieht – solche Prozesse brauchen Zeit, handelt es sich doch um „langwierige Prozess[e] des Erkennens und Anerkennens der Andersheit des Anderen“. Mouffe und Laclau betonen darüber hinaus, dass sich politische Kämpfe über das soziale Zusammenleben immer wieder aktualisieren, da das Politische an sich antagonistisch sei. Zu einem konfliktlosen Zusammenleben wird es also nie kommen, erst recht nicht im öffentlichen Raum. Gleichzeitig aber wird in diesem Ansatz die Legitimität von Kontroversen anerkannt.

Von der Theorie zur Praxis

Für die Praxis ist es zunächst einmal eine wichtige Aufgabe, strukturelle Hürden zur Beteiligung durch organisatorische Ausgestaltung der Formate abzubauen, zum Beispiel durch einkommensbezogene Vergütung für die Teilnahme an Beteiligungsformaten, Kinderbetreuung, unterschiedliche Zeitfenster, Übersetzungen von Einladungstexten und Partizipationsveranstaltungen und anderes mehr. Eine Möglichkeit kann es auch sein, Menschen in bereits bestehenden sozialen Gruppen (Sportverein, Chor, Schulklassen) zu besuchen und Themen zur Diskussion vorzuschlagen. Oftmals teilen Menschen dort bereits ähnliche Erfahrungen, Werte und Normen, sodass das Gelingen deliberativer Formate in diesen Settings wahrscheinlicher erscheint. In diesen Zusammenhängen können Menschen mitunter größeres politisches Interesse, größere interne politische Wirksamkeit und verschiedene Diskurskompetenzen entwickeln. Dadurch können sie ermutigt werden, sich auch außerhalb der Gruppen Gehör zu verschaffen. Im besten Fall führt das dazu, dass langfristig auch die externale politische Wirksamkeitserwartung zunimmt.

Ebenso ist es möglich, dass sich hierdurch eine starke soziale Identität oder sogar eine politisierte Identität entwickelt, das heißt, dass Menschen sich mit den Normen und mobilitätspolitischen Zielen dieser Gruppe stärker identifizieren und „leidenschaftlich“ dafür eintreten, so wie es Mouffe konzipiert. Auch können sich auf den ersten Blick unterschiedliche soziale Gruppen zusammenschließen, wenn sie sich mit gemeinsamen übergeordneten Zielen bezüglich der Mobilitätswende identifizieren können.

In der lokalen Mobilitätswende prägen vor allem zwei Narrative den Diskurs: zum einen die jahrzehntelang politisch, institutionell, ökonomisch und kulturell geförderte Hegemonie des Automobils und der „autogerechten Stadt“; zum anderen das Narrativ der „urbanen Nachhaltigkeit“, das mit der Forderung nach einem infrastrukturellen Ausbau aktiver Mobilitätsformen wie Radfahren oder zu Fuß gehen verbunden ist und meist den Part der Gegenhegemonie einnimmt. Sobald jedoch Umgestaltungen politisch beschlossen sind und gegebenenfalls Beteiligungsformate eingeleitet werden, wird häufig die ökologisch geprägte urbane Nachhaltigkeit zum vorherrschenden Narrativ – was wiederum von Bürger*innen herausgefordert wird, die sich darin nicht wiederfinden können, weil sie beruflich oder aus körperlichen Gründen aufs Auto angewiesen sind. So formen diese zuvor nicht mitgedachten Menschen wiederum neue Gruppen und politisierte Identitäten, die nun ihrerseits zur Gegenhegemonie werden.

Diese starken sozialen Identitäten, unterschiedlichen Narrative und Ziele der Gruppen treffen dann, sofern diese über die entsprechenden Ressourcen verfügen, in agonistischen Räumen aufeinander – sei es in klassischen oder sozialen Medien, auf Demonstrationen auf der Straße, bei öffentlichen Versammlungen oder auf Online-Beteiligungsplattformen. Dabei kann es passieren, dass manche Gruppen dennoch nicht sichtbar werden – und dies auch gar nicht wollen –, und ihren Frust und Ärger stattdessen in halböffentliche oder private Räume tragen, die vom öffentlichen Diskurs nicht wahrgenommen werden (etwa Gespräche in Kneipen, im Supermarkt, im Familienkreis).

Organisierte Beteiligungsformate können durch (anonymen) Chataustausch mit gegensätzlichen Perspektiven oder – wenn es der Kontext erlaubt – Eins-zu-eins-Gesprächen von Menschen mit gegensätzlichen Meinungen ergänzt werden, um einer zu starken Polarisierung entgegenzuwirken. Bei diesen Formaten kann der Einsatz von sogenannten systemischen Fragen hilfreich sein. So können Gesprächspartner*innen zum Beispiel Verschlimmerungsfragen stellen („Wie würdest du es finden, wenn alle Radfahrenden aufs Auto umsteigen und du noch länger im Stau stehst?“), zirkuläre Fragen („Wie finden deine Kinder/deine Eltern/deine Kolleg*innen die Umgestaltung?“) oder Fragen nach Ausnahmen („Gefällt dir denn auch etwas an dieser Umgestaltung?“). Dabei ist es wichtig zu betonen, dass kein Konsens erreicht werden muss, sondern widersprüchliche Perspektiven gleichberechtigt gegenüberstehen bleiben können.

Auch wenn der Dissens beziehungsweise die Konflikthaftigkeit anerkannt wird, sollte es letztendlich für alle Beteiligten immer die Möglichkeit geben, sich für einige Momente von den (polarisierten) starken sozialen Identitäten zu lösen und die Orte, Namen und Funktionen, die einem vermeintlich zugewiesen wurden, zu verlassen. Das heißt einerseits, die wahrgenommene Autoabhängigkeit zu hinterfragen, und andererseits, das ökologisch geprägte Narrativ der urbanen Nachhaltigkeit zu reflektieren. Darauf aufbauend gilt es, die eigenen Bedürfnisse – zum Beispiel nach Schulweg- oder Jobsicherheit, Freiheit, Komfort, Teilhabe oder Naturverbundenheit – wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen und gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie diese jenseits der festgefahrenen Narrative von der autogerechten Stadt oder der urbanen Nachhaltigkeit erfüllt werden können.

Um diese zeitweise „Des-Identifikation“ zu unterstützen, braucht es neben erlebbaren infrastrukturellen Veränderungen auch soziale Unterstützungsangebote wie etwa „Sorgentelefone“, Ansprechpartner*innen vor Ort und Mediator*innen, die als neutral beziehungsweise allparteilich wahrgenommen werden. Zusätzlich können öffentliche (künstlerische) Räume und Aktionen sinnvoll sein, um negative Emotionen, die mit Veränderungen einhergehen, sichtbar zu machen, anzuerkennen und gemeinsam individuelle und kollektive Coping-Strategien zu entwickeln.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass demokratische Verständigung in der lokalen Mobilitätswende trotz vieler theoretischer Überlegungen und praktischer Methoden noch relativ am Anfang zu stehen scheint – vor allem, da sie bislang vorwiegend in institutionalisierten Räumen gedacht und umgesetzt wird. Demokratische Verständigung lässt sich – basierend auf Erfahrungs- und theoretischem Wissen – nur durch stetiges Reflektieren und Experimentieren weiterentwickeln. Dafür bleibt zu hoffen, dass alle Akteur*innen und Bürger*innen offen dafür sind und bleiben, uns aktuell noch unbekannte Formen der Beteiligung auszuprobieren und anzuerkennen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz, 16.3.2016, Fassung vom 27.8.2021, Externer Link: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/jlr-EWendGBEV4P3.

  2. Vgl. Berliner Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt, Berliner Mobilitätsgesetz, o.D., Externer Link: http://www.berlin.de/sen/uvk/mobilitaet-und-verkehr/verkehrspolitik/mobilitaetsgesetz.

  3. Vgl. Felix Creutzig et al., Fair Street Space Allocation: Ethical Principles and Empirical Insights, in: Transport Reviews 6/2020, S. 711–733.

  4. Vgl. Amos Tversky/Daniel Kahneman, Loss Aversion in Riskless Choice: A Reference-Dependent Model, in: The Quarterly Journal of Economics 4/1991, S. 1039–1061; Maike Böcker/Jonas Lage/Michaela Christ, Zwischen Deprivilegierung und Umverteilung: Suffizienzorientierte Stadtgestaltung als kommunales Konfliktfeld, in: Soziologie und Nachhaltigkeit 1/2022, S. 64–83.

  5. Vgl. Julia Jarass et al., Platz statt Kreuzung. Straßenraum neu denken: Mehr Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum als Treiber für die Verkehrswende, in: Internationales Verkehrswesen 4/2021, S. 18–22.

  6. Vgl. Elisabetta Vitale Brovarone/Luca Staricco/Ersilia Verlinghieri, Whose Is This Street? Actors and Conflicts in the Governance of Pedestrianisation Processes, in: Journal of Transport Geography 107/2023, Art. 103528.

  7. Vgl. Anke Borcherding, Wenn die schöne autofreie Welt abschreckend wirkt, 2.9.2023, Externer Link: http://www.klimareporter.de/verkehr/wenn-die-schoene-autofreie-welt-abschreckend-wirkt.

  8. Vgl. Alex Karner et al., From Transportation Equity to Transportation Justice: Within, Through, and Beyond the State, in: Journal of Planning Literature 4/2020, S. 440–459.

  9. Berliner Mobilitätsgesetz, 5.7.2018, §19, Externer Link: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/jlr-MobGBErahmen.

  10. Vgl. Sina Wachholz, Beurteilung prozeduraler Fairness bei formellen Beteiligungsverfahren und der Vergleich relevanter Akteursgruppen, in: Umweltpsychologie 1/2020, S. 162–172.

  11. Vgl. Anke Kläver/Katharina Götting/Julia Jarass, Conflicts in Real-World Labs – Perspectives of Critical and Ambivalent Residents on a Temporary Public Space Redesign Project in Berlin, 2024 (i.E.).

  12. Vgl. Wachholz (Anm. 10).

  13. Vgl. Kay L. Schlozman/Henry E. Brady/Sidney Verba, Unequal and Unrepresented. Political Inequality and the People’s Voice in the New Gilded Age, Princeton NJ 2018.

  14. Vgl. Oskar Niedermayer, Bürger und Politik, Wiesbaden 2005; Lena Sterzer, Wohnen und Mobilität im Kontext von Fremdbestimmung und Exklusion, Wiesbaden 2017.

  15. Vgl. Schlozman/Brady/Verba (Anm. 13).

  16. Vgl. Richard G. Niemi/Stephen C. Craig/Franco Mattei, Measuring Internal Political Efficacy in the 1988 National Election Study, in: The American Political Science Review 85/1991, S. 1407–1413.

  17. Vgl. Anke Kläver/Ersilia Verlinghieri, Who Is (Not) in the Room? An Epistemic Justice Perspective on Low-Carbon Transport Transition, 2024 (i.E.).

  18. Vgl. Sidney Verba/Kay L. Schlozman/Henry E. Brady, Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics, Cambridge MA 1995.

  19. Vgl. Kläver/Verlinghieri (Anm. 17).

  20. Vgl. Pia Bäckl/Raine Mäntysalo, Agonism and Institutional Ambiguity: Ideas on Democracy and the Role of Participation in the Development of Planning Theory and Practice – the Case of Finland, in: Planning Theory 4/2010, S. 333–350.

  21. Vgl. Jürgen Habermas, The Theory of Communicative Action, Vol. 1, Boston 1984.

  22. Vgl. Simone Jung/Victor Kempf, Krise und Kritik des verständigungsorientierten Diskurses, in: APuZ 43–45/2023, S. 4–10.

  23. Vgl. Judith E. Innes/David E. Booher, Planning with Complexity, London 2010.

  24. Vgl. Elisabet van Wymeersch/Stijn Oosterlynck/Thomas Vanoutrive, The Political Ambivalences of Participatory Planning Initiatives, in: Planning Theory 3/2019, S. 359–381.

  25. Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2020.

  26. Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007.

  27. Ebd., S. 10.

  28. Jung/Kempf (Anm. 22), S. 10.

  29. Vgl. Laclau/Mouffe (Anm. 25).

  30. Vgl. Sophia Becker/Paula Bögel/Paul Upham, The Role of Social Identity in Institutional Work for Sociotechnical Transitions: The Case of Transport Infrastructure in Berlin, in: Technological Forecasting and Social Change 162/2021, Art. 120385.

  31. Vgl. Matthew Paterson, Automobile Politics, Cambridge 2007.

  32. Vgl. Aidan Combs et al., Reducing Political Polarization in the United States with a Mobile Chat Platform, in: Nature Human Behaviour 7/2023, S. 1454–1461.

  33. Vgl. Maria Kaika/Lazaros Karaliotas, Spatialising Politics: Antagonistic Imaginaries of Indignant Squares, in: Japhy Wilson/Erik Swyngedouw (Hrsg.), The Post-Political and Its Discontents: Spaces of Depoliticization, Spectres of Radical Politics, Edinburgh 2014, S. 244–260.

  34. Vgl. Jacques Rancière, Disagreement. Politics and Philosophy, Minneapolis 1999.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Anke Kläver, Katharina Götting für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam. Im Rahmen des Projekts „Die Verkehrswende als sozial-ökologisches Realexperiment“ (EXPERI) promoviert sie zu Gerechtigkeitsbelangen in der Mobilitätswende.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam. Im Rahmen des Projekts „Die Verkehrswende als sozial-ökologisches Realexperiment“ (EXPERI) promoviert sie zur wahrgenommenen Fairness und Akzeptanz von Flächenumverteilung im Kontext der Mobilitätswende.