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Dürfen die denn alles?! Der E-Scooter als Versprechen und Menetekel

Gerhard Matzig

/ 12 Minuten zu lesen

In vielen Großstädten sind E-Roller immer beliebter und zugleich immer unbeliebter geworden. Einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten sie nicht. Bisweilen dienen sie aber offenbar als Sündenböcke für vieles, was im städtischen Verkehr ohnehin schiefläuft.

Die Technikgeschichte der Mobilität hat inzwischen unzählige Möglichkeiten hervorgebracht, um von A nach B zu gelangen, und dies auf immer schnellere Weise. Fünfeinhalb Jahrtausende nach der Erfindung des Rades dauerte Goethes berühmte „Italienische Reise“ am Ende des 18. Jahrhunderts von Karlsbad nach Rom, die Tour ist gut 1.200 Kilometer lang, fast zwei Monate. Auch ohne Unterbrechungen hätte er mit der damals üblichen Kutsche rund zwei Wochen gebraucht. Der Routenplaner sagt aktuell für diese Strecke etwa 14 Auto-Stunden voraus. Oder denken wir an die kaum weniger sagenhafte „Reise um die Erde in 80 Tagen“ nach dem Roman von Jules Verne aus dem späten 19. Jahrhundert – ein Jahrhundert später, 1995, brauchte eine Concorde für die Weltumrundung exakt 31 Stunden, 27 Minuten und 49 Sekunden. Der Mensch der Gegenwart ist ein enorm beschleunigtes Wesen mit immer größerer Reichweite. Dynamik, nicht Statik, ist seine Natur.

Das gilt auch für hoffnungsfrohe Dynamiker wie den ehemaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Den E-Scooter feierte er kurz vor dessen Zulassung 2019 euphorisiert als „echte Alternative zum Auto“. So kann man sich täuschen. Um aber auf Goethe zurückzukommen: Jeder Winkel der Erde ist inzwischen erschlossen. Das neue Reiseziel für Leute, die schon alles kennen, dürfte der Mars sein. Der Weltraumtourismus könnte sich in absehbarer Zeit an dem Punkt befinden, an dem Goethe seine Italien-Sehnsucht noch als „Verwegenheit“ dem Tagebuch anvertraute – lange bevor der vom Massentourismus erzeugte Dauerstau am Brenner zur zivilisatorischen Gewohnheit wurde. Überhaupt das Unterwegssein: Kaum etwas anderes wurde in der Moderne ähnlich rasant beschleunigt. Nichts hat ganze Gesellschaften vergleichbar stark verändert. Es ist kein Wunder, dass Menschen die Mobilität immer wieder neu gestalten. Beamen im „Enterprise“-Stil scheitert zwar an den Gesetzen der Physik – und transkontinentale Flüge dürften technologisch sowie ökonomisch ausgereizt sein (ganz zu schweigen von der Ökologie), aber vor allem die urbane Mikromobilität ist inzwischen so artenreich geprägt von Segways, Hoverboards, Monowheels und anderen oft elektrifizierten Kleinstfahrzeugen, wie man das Fauna und Flora nur wünschen kann.

Städte bestehen aus Immobilien, das Unterwegssein darin ist aber zur Feier einer ausdifferenzierten Mobilität geworden. Wobei man sich speziell beim E-Roller fragen kann, ob er womöglich der Partygast ist, der alle nervt und trotzdem nicht mehr verschwinden will. Gewiss gibt es wenig schmeichelhafte wissenschaftliche Studien zu Ökologie, Funktionalität und gesellschaftlicher Akzeptanz des Elektro-Scooters. Aber für das neue Asterix-Heft hat es trotzdem gereicht: In Band 40 („Die weiße Iris“) hat es zumindest ein Urahn des elektrifizierten Tretrollers geschafft – nicht als reine Verheißung allerdings, sondern als Reizthema, als Mittelding aus Smartness und Ärgernis. Im Comic dient der aktuellen E-Roller-Ambivalenz eine zeichenhaft versimpelte und doch pointiert vielsagende Sprechblase aus dem Mund eines Galliers: „Die mit ihren Tretkarren glauben, sie dürften alles!“

Diesen Satz kann man als Formel der allgemeinen Mobilitätskonflikte auch der Gegenwart deuten. Man muss nur einen beliebigen anderen Verkehrsträger einsetzen, dann lautet der Satz beispielsweise so: „Die mit ihren SUVs (in Pinneberg) glauben, sie dürften alles!“ Oder so: „Die mit ihren Lastenrädern (in München-Schwabing) glauben, sie dürften alles!“ Womöglich wurde auch Goethe seinerzeit zwischen Sterzing und Verona nachgerufen: „Die mit ihren Postkutschen glauben …“ Dieser komischen und insofern auch comic-gerechten Klischeehaftigkeit steht die ausufernde Komplexität alter und neuer Mobilitätsformen gegenüber – so wie dem „die“ aus dem Reich fiktionaler Sprechblasen ein „wir“ in der Realität gegenübersteht. In einer Zeit der Raumverknappung sind Konflikte um die begrenzte Ressource „öffentlicher Raum“ nicht verwunderlich, sondern programmiert.

Lässigkeit und Anarchie

Im November 2023 hat die Unfallforschung der Versicherer (UDV) darüber informiert, dass Verkehrsteilnehmer die Stimmung auf deutschen Straßen als immer aggressiver wahrnehmen. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Ein Motiv könnte darin liegen, dass in einer Ära am Übergang vom Ideal der „autogerechten Stadt“ der Nachkriegsmoderne hin zu einem postmodernen Polypol, das aus vielen verschiedenen Mobilitätsangeboten besteht, die Mobilität als gesellschaftliche Absprache neu ausgehandelt wird. Dabei entsteht Transformationsstress für alle Beteiligten. Der Raum der Stadt ist endlich. Wenn sich diesen Raum immer mehr und immer unterschiedlicher motivierte Verkehrsteilnehmer teilen, kommt es notwendigerweise zu Verteilungskonkurrenz.

Hinzu kommt die Ideologie. Sie ist immer wieder erschütternd. Zwar sind die meisten Menschen je nach Notwendigkeit temporär immer wieder anders unterwegs – also etwa als Autofahrer, als Bahnfahrer, als Fluggast, als Radler, als Fußgänger oder auch als E-Scooter-Pilot –, aber dennoch ergeben sich Konflikte zwischen Systemanhängern, die man nur noch als Fundamentalisten beschreiben kann. Schon die bisher vor allem im 20. Jahrhundert ausformulierten Strukturen von Bahn, öffentlichem Personennahverkehr, Auto, Fahrrad und Fußgänger kommen sich wechselseitig immer häufiger in die Quere. Was früher ein Stadt-Land-Antagonismus war, ist inzwischen auch ein Fahrrad-Auto-Antagonismus. Der E-Roller, als Massenphänomen ein Kind des 21. Jahrhunderts, hat diese Gemengelage noch einmal drastisch verkompliziert. Jeder neue Verkehrsteilnehmer macht deutlich, dass schon die Konkurrenzen der etablierten Systeme nie wirklich gelöst wurden.

Tja, denkt man sich zur Asterix-Lektüre im Biergarten am Chinesischen Turm in München, wo man bei schönster Herbstsonne regelrechten E-Roller-Geschwadern ausgesetzt ist, genauso ist es doch auch: Die mit ihren Elektro-Tretkarren glauben, sie dürften alles! Was allerdings nicht im Sinne der Gartensatzung beziehungsweise der Landschaftsschutzverordnung ist, die ein generelles Verbot für Kraftfahrzeuge in Parkanlagen vorsieht. Dazu gehören auch E-Scooter. Nur die Scooteria weiß das offenbar nicht. Die Lässigkeit des Vehikels passt, muss man sich eingestehen, nicht so recht zu Worten wie Satzung und Verordnung. Das eine ist ein fluides Lebensgefühl, das andere markiert den Schutzraum von Menschen, die auch ein Reservat des Nicht-Angesagtseins zu schätzen wissen.

Um auf die Frage zurückzukommen, ob man die gelegentlich anzutreffende Anarchie des E-Roller-Daseins eher umarmen oder verfluchen soll: Zu sehen sind im neuen Asterix-Band die bekannten Gallier. Asterix, Obelix, Majestix und Idefix erreichen gerade Lutetia. Das ist der antike Name des heutigen Paris. Unterwegs sind Asterix und seine Freunde nach betagter Väter Sitte mit einem zweirädrigen Eselkarren. Asterix sagt: „Lutetia! Endlich …“ Obelix will wissen: „Wo siehst du das Schild?“ Darauf Asterix: „Dafür brauche ich kein Schild.“ Ihm genügt der Stau auf der Römerstraße Richtung Zentrum, um zu erkennen, wo er ist. Der Stau kann ja nur Paris anzeigen. In Frankreich wie überall sonst ist die Hauptstadt zugleich ein Hauptgenerator insbesondere des automobilen Stillstands. Auch die Gallier, Zaubertrank hin oder her, sitzen erstmal fest in einer Wolke aus Verdruss und guten, also mit vielen Ausrufezeichen bewehrten Ratschlägen, die an die UDV-Aggro-Studie aus Berlin denken lassen: „So fahr doooch!“ „Na los! Fahr zuuuhu!“

Übrigens werden auch die heutigen Klimakleber („Da vorn hat sich einer festgeleimt!“) und diverse Bahnverspätungen „aufgrund von Wildschweinen auf der Strecke“ thematisiert. Aus dem Kurzschluss unserer modernen Epoche mit dem Asterix-Jahr 50 vor Christus bezieht der Comic seine Komik. Und so taucht eben auch der E-Scooter-Urahn auf, wenn auch noch ohne elektrifizierten Antrieb. Die, die mit ihren Tretkarren glauben, sie dürften alles, müssen ihre Roller noch nach Kinderart selbst bewegen. Ansonsten sehen die Fahrzeuge unseren heutigen Scootern konstruktiv verblüffend ähnlich – wenn auch aus Holz und Steinrollen bestehend.

Erste Endstation Paris

Nur am Rande: Als „Autoped“ wurde schon am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Konstruktion aus zwei Rädern, Trittbrett, Lenkstange und Motor beschrieben. Als Erfinder dieses Vorläufers unserer E-Roller gilt Arthur Hugo Cecil Gibson. 1915 erhielt er ein Patent dafür. Seit den Zwanzigerjahren, die man auch als Roaring Twenties kennt, insofern zu Recht, knatterten die „Motor-Vehikel für Millionen“ erst durch US-amerikanische, später auch durch europäische Städte. Die Flugpionierin Amelia Earhart promotete den Roller in Annoncen so: „In Zukunft muss niemand mehr laufen.“ Dennoch verschwand die Erfindung – um heute als erster Untoter der Mobilitätsgeschichte in elektrifiziert-veloziferischer Gestalt sein Unwesen zu treiben.

Auch deshalb hat Paris nach einer Bürgerbefragung im Frühjahr 2023 als eine der ersten europäischen Großstädte die über die vergangenen Jahre einerseits immer beliebter und paradoxerweise zugleich auch immer unbeliebter gewordenen Leihroller verboten. Paris ist zuvor eine der ersten Kapitalen gewesen, in denen E-Scooter zugelassen wurden. Seit dem 1. September sind die Trottinettes, wie die Roller auf Französisch genannt werden, nach einer nur fünfjährigen Karriere rund um den Eiffelturm untersagt. Es hat sich ausgetrippelt – „trottiner“ heißt trippeln, trappeln, schleichen. Wobei das Ende der Scooter in Paris nicht gerade schleichend erfolgte.

Die Frankreich-Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“, Kathrin Müller-Lancé, beschreibt den erstaunlichen Karriereknick der Trottinettes so: „Damals, im Juni 2018, war das Versprechen groß. In einer Viertelstunde an der Seine entlang vom Louvre zum Eiffelturm cruisen. Sich vom Sacré Coeur aus den Hügeln des Montmartre runterrollen lassen. Am Canal Saint Martin von Café zu Café fahren. Und das alles ohne die stickige Metro oder vollgequetschte Busse. Paris war eine der ersten europäischen Großstädte, die die E-Scooter einführten. Nun ist Paris die erste von ihnen, die die Leihroller (…) verbieten will.“

Die erwähnte Bürgerbefragung erbrachte eine signifikante Mehrheit für das Verbot: 89 Prozent. Wobei sich an dem – rechtlich nicht bindenden – Votum auch nur knapp acht Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen Einwohner beteiligten. Weil sich die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo dennoch an den Mehrheitsbeschluss halten will, sind inzwischen auf Pariser Stadtgebiet nur noch private E-Roller erlaubt. Der Elektro-Scooter, ein emblematisches Vehikel der zeitgemäßen Sharing Economy, ist weg. Was nicht alle Menschen schade finden, wie Müller-Lancé erzählt: „In Paris war der Scooter, den meistens jüngere Menschen als touristisches Freizeit-Gadget, also vor allem zum Spaß benutzt haben, eher ein Ärgernis für viele Einwohner.“ Das erklärt die Abstimmung, die soziologisch zu einem Wut-Referendum einer mehrheitlich älteren Generation wurde.

Wobei man die Argumente der Pariser und Pariserinnen gut nachvollziehen kann. Vor allem das Free-Floating, also das spontane Abstellen der Geräte ohne feste Parkplätze, funktionierte laut Müller-Lancé „nicht so wirklich“. Die SZ-Korrespondentin weiter: „Die Roller standen quer auf den Bürgersteigen, steckten in Büschen und wurden reihenweise voller Algen aus der Seine gefischt.“ Wohin sie von erzürnten Stadtbewohnern immer öfter befördert wurden.

Auch aus anderen Städten und Ländern kennt man hasserfüllte Bilder von E-Scootern, die in Bäumen hängen, aus Stadtflüssen wie Wracks ragen oder von Lichtmasten baumeln – wie etwas Inkriminiertes, das der Volkszorn gern gelyncht sähe. In Berlin hat ein Mann einen E-Roller sogar von einer Brücke auf die Fahrbahn geworfen, was zu einem Beinahe-Unfall und zu Ermittlungen der Mordkommission führte. Oft ist aus der ursprünglichen Begeisterung für diese Form der Mobilität ein im Extremfall auch selbst krimineller Furor gegen Fahrer, Verleiher und Vehikel geworden.

Die Bürgermeisterin von Paris verkörpert die widersprüchliche Rezeption zwischen Zustimmung und Abwehrverhalten in Personalunion. Im Sommer 2018, als die Leihroller für Paris zugelassen wurden, war Hidalgo noch zuversichtlich, sprach vom „Reichtum der geteilten Mobilität“ und versah einen entsprechenden Tweet auf Twitter-heißt-jetzt-X mit einem Roller-Emoji. Fünf Jahre später sagt sie: „Das ist ein Chaos … meine Idee ist, dass wir damit aufhören.“ In vielen anderen Ländern und Städten wird auf ähnliche Weise eine Art Kollektiv-Pro-und-Contra diskutiert, das nicht nur Geschäftsmodelle, sondern vor allem auch die Frage nach einer zeitgemäßen urbanen Mobilität berührt.

Crashkönig oder Sündenbock?

Gegen die E-Roller, die einmal das Versprechen auf einfach und digital zu organisierende Mobilität im städtischen Kontext zu geben schienen, spricht die Unfallstatistik: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verletzten sich 2022 mehr als 8.000 Menschen bei Unfällen mit E-Scootern, es gab 49 Prozent mehr Unfälle als im Jahr davor. Die Gefährdungstendenz bei Elektrokleinstfahrzeugen, wie die Scooter im Beamtendeutsch heißen, ist eindeutig.

Zugelassen sind E-Scooter im deutschen Straßenverkehr seit Sommer 2019. Die relativ hohe Unfallgefahr bestätigen auch aktuelle Zahlen vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). „Der Spiegel“ spricht in diesem Zusammenhang vom E-Roller als „Crashkönig“, und der GDV-Geschäftsführer führt aus: „Gelegenheitsfahrer sind im Schnitt jünger, nutzen fast ausschließlich Leihscooter für Fahrten in ihrer Freizeit und fahren öfter auf dem Gehweg.“ Das erlaubte Mindestalter beträgt 14 Jahre. Eine Helmpflicht gibt es, wie beim Fahrrad auch, nicht. Davon abgesehen: Nicht die privaten Scooter sind ausweislich der Statistik das Problem, sondern eher die Verleihmodelle von Anbietern wie Tier, Lime oder Bolt.

Unfallforscher sehen neben der oft geringen Erfahrung im Umgang mit E-Scootern auch ein grundsätzliches Problem: Es gibt für diese Vehikel schlicht keine eigenen Fahrspuren. Deshalb gelten für die Roller ähnliche Regeln wie für Fahrräder, wenn keine Radwege, Radfahrstreifen oder Fahrradstraßen zur Verfügung stehen: Sie fahren auf der Straße. Das heißt: Im Grunde passen die E-Scooter nirgendwo so richtig hin. Auf der Straße sind sie mit einer Höchstgeschwindigkeit von 20km/h zu langsam, für den Bürgersteig zu schnell – und auf dem Radweg ist es auch ohne die Scooteria schon viel zu voll.

Genau dieses Argument lassen die Befürworter der E-Roller nicht gelten. Denn auf diese Weise würde man die Fahrzeuge zu Sündenböcken machen für vieles, was in den städtischen Verkehrsplanungen ohnehin schieflaufe. Das bezieht sich vor allem auf den Platzmangel für alles, was kein Auto ist. Würde man mehr Platz für alternative Verkehrssysteme schaffen, so könnte auch der E-Scooter seinen Platz finden, heißt es. Und im Übrigen würden auch Fußgänger, Fahrradfahrer und Autofahrer täglich irgendwelche Verkehrsregeln missachten – nicht das Vehikel sei daher das Problem, sondern diejenigen, die gegen Regeln verstoßen. Wie bei anderen Entwicklungsschüben der Mobilität müsse man den korrekten Umgang damit erst kulturell verankern.

Außerdem, um bei den üblichen Pro-Argumenten zu bleiben: E-Roller machen keinen Lärm und verpesten die Luft nicht – batteriebetrieben werden sie landläufig der Öko-Fraktion im Reich der Mobilität zugerechnet. Dem widerspricht allerdings das Umweltbundesamt (UBA): „Elektrische Tretroller, wie sie aktuell vor allem in Innenstädten zum Verleih angeboten werden, sind zurzeit kein Umweltgewinn: Erste Studien zeigen, dass sie oft den umweltfreundlicheren Fuß- und Radverkehr ersetzen.“ Erst Autofahrten, die durch E-Scooter ersetzt werden, würden das Öko-Potenzial der Roller entfalten – aber so weit ist Deutschland noch lange nicht.

Eine Umfrage aus dem Frühjahr 2023 kommt denn auch zu diesem Ergebnis: 70 Prozent der repräsentativ Befragten halten E-Scooter „für ein Ärgernis“, nur 13 Prozent sehen darin ein „nützliches Zusatzangebot“. Und die Frage, ob E-Scooter einen Beitrag zur Verkehrswende leisten, wird von 78 Prozent klar mit „nein“ beantwortet. Die UBA-Studie liefert zum Gefühl das Argument: „E-Scooter dienen vor allem Freizeitzwecken.“ Und weiter: „Als Leihfahrzeug in Innenstädten, wo ÖPNV-Netze gut ausgebaut sind und kurze Wege zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, bringen die Roller eher Nachteile für die Umwelt mit sich. Sie laufen Gefahr, als zusätzliche Mobilitätsform bestehende Infrastruktur für das Zufußgehen und Fahrradfahren unattraktiver zu machen.“

Ausgecruist?

Der smarte Scooter hat wenige Jahre nach seiner Einführung in Deutschland ein massives Imageproblem. Eigentlich traut man nur einem Monstertruck in der Fußgängerzone, der vom Terminator gefahren wird, noch üblere Sympathiewerte zu. Hinzu kommt, dass das Motiv der unentwegten Beschleunigung an Strahlkraft verloren haben könnte. Der Fortschrittsglaube der Moderne war ja noch eine feine Sache. Die Zukunft war vertrauenswürdig. Das Motiv der Stromlinie wurde verwendet in Architektur und Design, das Motiv der Beschleunigung wurde verwendet in der Philosophie und Poetik der Futuristen sowie in der Malerei. Die Moderne gab Gummi. Es war das Lebensgefühl einer Epoche: schneller, schneller, schneller. Ein Rennwagen galt mehr als die Nike von Samothrake. Roy Lichtenstein illustrierte das große Wroaaaar. Literatur, Pop und Film mussten möglichst „Außer Atem“ sein (Godard, Belmondo, 1960). Man bejahte die Atemlosigkeit, denn die Zukunft schien für alle Menschen ein besseres Leben bereitzuhalten. Besser früher dort ankommen, als zu spät.

Genau dieses Versprechen fehlt jetzt. Der Fortschrittsepoche ist der Fortschrittsglaube abhandengekommen. Aber dennoch: Als der Strom aufkam, glaubten manche an den Weltuntergang. Als das Auto aufkam, glaubten manche an den Weltuntergang. Als die Kryptowährung aufkam, glaubten manche an den Weltuntergang. Als der E-Scooter aufkam … Wer weiß also, manchmal sind es ja auch die Totgesagten, die länger leben. Genauso gut kann es sein, dass die Elektrovariante des Patents aus dem Jahr 1915 das Schicksal des Hüpfballs in den Sechzigerjahren oder der Sprungfedern in den Fünfzigerjahren teilt – und als seltsame Mode irgendwann nur noch von der Futurismus-Sehnsucht der Vergangenheit erzählt.

ist Redakteur im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ in München.