Meine Großmütter wuchsen an der Ostseeküste auf. Sie waren keine Bauernmädchen, doch die Männer, in die sie sich verliebten, hatten Landwirtschaft gelernt und erbten die Höfe ihrer Väter. Die Väter der beiden jungen Frauen waren dagegen bei der Kaiserlichen Marine zur See gefahren und hatten nach ihrem Dienst auf den Weltmeeren sichere Posten als Marinebeamte auf Rügen bekommen. Der eine wurde zum Lotsen der Postschiffe zwischen Ystad und Stralsund, der andere Chef des Leuchtfeuers und der Schiffsrettungs- und meteorologischen Station auf Kap Arkona. Marie, die Tochter des Leuchtturmchefs, heiratete den tuberkulosekranken Bauern Otto, der einen einsam gelegenen Hof südlich vom Kap am Nobbiner Hochufer besaß. Die Lotsentochter Friede wurde sich einig mit Waldemar, einem gut ausgebildeten Landwirt aus Breege, einem nahe der Lotsenstation gelegenen Dorf. Friede und Marie mussten sich in die Rolle der Bauersfrauen erst hineinfinden. Ihre vier, respektive drei Kinder wuchsen auf mit mütterlichen Erzählungen von der Seefahrt und dem väterlichen Wissen vom Ackerbau, nur eine der vielen besonderen Mischungen aus Welt und Dorf.
In unseren Köpfen leben Dörfer meist nur als Orte der Vergangenheit. Und sie sind von eher simpler Art, großväterlich-patriarchale Lebenswelten voller Menschen, Tiere und Geschichten, wo alles einen Vornamen hat, vor allem Kühe und Pferde.
Die real existierenden Dörfer liegen für die meisten von uns in jenen Landschaften, durch die wir mit Zug oder Auto hindurchfahren. Von ferne zeigen Kirchtürme sie an, eine Schule und einen Kindergarten aber gibt es, sieht man näher hin, nur noch in jeder vierten oder fünften Ortschaft. Noch weiter entfernt sind Rat- und Krankenhäuser, manchmal fast 100 Kilometer weit. Ladengeschäfte für die Dinge des täglichen Bedarfs liegen fast nie mehr in Fuß- oder Fahrradnähe, sondern erst in 10 oder 15 Kilometer entfernten Marktflecken. In denen gibt es dann auch Arztpraxen und Apotheken, Physiotherapeuten, Optikerinnen und eine Reinigung – wenn man Glück hat, sogar eine Poststation im Supermarkt. In den Dörfern stehen Autos für die täglichen Wege bereit, die man fahren muss, wenn man auf dem Land lebt. Große Bau- und Möbelmärkte samt Zentrallager dieser oder jener Auslieferung sind zwischen den Dörfern aufs freie Feld gebaut, wo sie, wie wir aus den Zugfenstern sehen können, gänzlich unverbunden mit der Landschaft stehen, um sie herum riesige, asphaltierte Parkplätze. Selbst die Dörfer haben keine so enge Verbindung mehr mit dem Land. Denn die wenigen Landwirte, die es noch gibt, haben ihre Höfe selten noch im Dorf, vielmehr leben sie mit ihren Familien auf den in die Felder ausgesiedelten Höfen. Und womöglich wird ein großer Teil der landwirtschaftlichen Flächen, die wir vom Zug aus sehen, von privaten Großgrundbesitzern oder Agrarholdings bewirtschaftet, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Dörfern und Marktflecken der Umgebung leben – wenn sie nicht als Saisonkräfte ohnehin aus dem Ausland kommen und in Containerdörfern irgendwo am Feld- oder Waldrand wohnen.
Früher bestanden ganze Dörfer aus Bauern, Winzern oder Fischern, und auch die zu ihnen gehörigen Handwerker, die Maurer und Zimmerleute, Schlachter und Schneider, selbst die Kaufleute und der Lehrer hielten auf kleinen Feldstücken und in kleinen Ställen noch ein bisschen Vieh und bauten Gemüse an – vielmehr waren es natürlich ihre Frauen und Töchter, Schwestern und Nichten, Großmütter und Mägde, die diese Arbeit machten. Was uns so hübsche Bilder in die Köpfe zaubert, wurde jahrhundertelang geschaffen, gepflegt und aufrechterhalten durch wenig beachtete und sowieso unbezahlte Frauenarbeit. Inzwischen sind – in ganz Europa – ehemals landwirtschaftlich geprägte Dörfer entvölkert und entkernt. Global wirkende Industrialisierungswellen und Konzentrationsprozesse plus viel Landwirtschafts- und Kommunalreformen haben den größten Teil der ländlichen Siedlungen zu Schlaf- und Freizeitdörfern gemacht. In diesen Veränderungszusammenhang gehört auch die Befreiung der Frauen von den sozialen Rollen, die Familie und Dorf ihnen zuwiesen.
Dörfer haben immer ganz wesentlich daraus gelebt, dass eine Handvoll Familien viele Generationen lang miteinander verbunden waren – durch Heiraten und die Geschichten, die sie einander und über sich selbst erzählten. Diese enggeknüpften Netze aus Erzählung und Gegenerzählung tragen die Prägung, den Geschmack und Geruch der Regionen in sich – Gerüche nach Fischen, nach Roggenfeldern oder Rotweinmaische –, sie sind Ausdruck des Selbstbildes ihrer Einwohner, ihres Stolzes wie ihrer Vorurteile, ihres Grimms und ihrer Trauer. Die Arbeitswelt der Bauern und Bäuerinnen ist weitgehend eine mündliche Kultur geblieben. Als in den 1960er Jahren eine Zeit lang die industrielle Arbeitswelt als Gegenstand von Literatur diskursfähig wurde, blieb die bäuerliche Gesellschaft ohne Stimme. Um die aktuelle Landwirtschaft kümmerte sich inzwischen "Brüssel", und den historischen Gegenständen wurden liebevoll-nostalgisch Plätze eingeräumt in Museumsdörfern aus traditionellen Haus- und Stallbauten, Mistforken und Schubkarren. Die Erzählungen ihrer Binnenwelten blieben bei denen, die weiter Landwirtschaft, Fischerei, Winzerei betrieben.
*
Nach dem Ersten Weltkrieg war der verlorene Krieg das eine, das männliche Narrativ. Das andere war eines vom Zuwachs weiblicher Wirksamkeit – auch in der Landwirtschaft. Es wurde in der neuen Republik zunehmend als in Ordnung befunden, dass die Frauen nicht mehr nur die Frauen der Bauern oder auch der Maurer und Zimmerleute, Schlachter, Schneider und Kaufleute und Lehrer sein wollten. Dass sie nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernten, sondern auch eine Ausbildung machten und einen Beruf ergriffen.
Meine Großmütter waren zum Zeitpunkt der Revolution von 1918 aber schon 32 und 21 Jahre alt, beide verheiratet und Mütter. Zwar hatten sie auf den "Töchterschulen" ihrer Zeit das Haushalten und Schlachten, das Wurstmachen und Gärtnern für den Hausgebrauch gelernt, Kochen und Nähen sowieso. Jetzt jedoch saßen sie als Bauersfrauen auf den Höfen ihrer Männer fest und mussten die anfallende Arbeit bald unter ihren Töchtern und auch ein oder zwei Landmädchen ("Mägde" sagte man schon nicht mehr) sinnvoll aufteilen können –, wie ihre Männer es mit den heranwachsenden Söhnen und Landarbeitern machten. Selbst der kleinere der beiden Höfe war über die reine Subsistenzwirtschaft hinaus; man hatte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und verkaufte, was nicht selbst gebraucht wurde – Getreide, Rüben, Kartoffeln und ab und zu ein Schwein. Der eigene Speisezettel wurde bereichert durch Wild und Fisch, den die Schwiegermütter so gut zubereiten konnten, was die jungen Bäuerinnen jetzt von ihnen lernen mussten. Das gehörte ebenso zu ihrer Rolle wie im schönen Ostseesommer das Vermieten der Kinderzimmer an Feriengäste. Nach Nobbin kamen, davon künden alte Fotoalben, viele Jahre zwei Lehrerinnen aus Leipzig – und so erfuhr man hier auch etwas aus der Welt einer großen Handelsstadt.
Die Inflation der 1920er Jahre war auch für das Leben auf dem Land einschneidend: Da reichte zunächst nach einem Brand auf dem Hof am Hochufer die ausgezahlte Versicherungssumme nur noch für Fenster- und Türrahmen, und in Breege kaufte Waldemar für den Gegenwert der gesamten Weizenernte umgehend eine Ferienpension am nahegelegenen Ostseestrand. Dort etablierte sich Friede als Hausmutter, während ihr Mann einen großen Teil der Ländereien verpachtete und auf bessere Zeiten hoffte. Er hatte ja, wie Friede einmal mokant bemerkte, "Gutsbesitzer gelernt". Tatsächlich arbeiteten gut situierte Landwirte wie mein Großvater Waldemar nach ihrer Ausbildung und bis zum Antreten des Erbes meist als Wirtschafter auf pommerschen Gütern. Nach ihrer Lehre, der Elevenzeit, machten sie nie mehr eigenhändig die zahllosen Arbeiten selber, sondern sie teilten sie ein – das morgenfrühe Füttern der Arbeitspferde, Anspannen und Pflügen und Eggen, das Melken und Wegbringen der Milch zur Molkerei. Aber mit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung und eines neuen Klassenbewusstseins verschwanden aus den Dörfern jene Landarbeiter und -arbeiterinnen, die über Generationen für die schmutzigen und schweren Tätigkeiten, ohne Wochenenden und bei schlechter Bezahlung, zuständig gewesen waren.
Die Inflation untergrub jedoch nicht nur allerorten die Wirtschaft, sondern auch familiäre und nachbarschaftliche Beziehungen. So musste etwa Marie feststellen, dass der Nachbar, der ihr, während ihr tuberkulosekranker Otto im Krankenhaus war, so hilfreich bei der Getreideernte beistand, viele Fuder in die eigene Scheune fuhr. Bald war der kleine Hof am Hochufer bankrott – und immer mehr Landwirte traten in jene Partei ein, die den von Zwangsversteigerungen gequälten Landwirten eine dramatische Besserung ihrer Lage versprachen, die damals auf Rügen noch so genannte Hitler-Partei.
Die furchtbare Geschichte, die daraus folgte, und ihr furchtbares Ende sind bekannt. Nachzutragen ist, was auf familiärer Ebene geschah: Maries Otto starb 1945 an Tuberkulose, sie selbst lebte noch zehn Jahre als Leiterin einer Großküche in der DDR, bis sie als Rentnerin legal in den Westen gehen konnte. Waldemar und Friede wurden als NSDAP-Mitglieder und "Kulaken" von der sowjetischen Besatzungsmacht enteignet. Die folgende Generation, meine Eltern also, bewirtschafteten noch ein paar Jahre lang als "Neubauern" einen kleinen Hof, der sich der Kampagne "Junkerland in Bauernhand" verdankte. Das darauffolgende "Vom Ich zum Wir" erzwang ein kollektives Wirtschaften auch in der Landwirtschaft. 1953 verließen sie die DDR und gingen illegal über die Grenze in den Westen.
*
Das Dorf, in dem sie sich niederließen und in dem ich aufwuchs, war eine 1783 im Hannoverschen gegründete Moorkolonie in der Nähe der Elbmündung. Als wir dort in den 1950er Jahren ankamen, gab es neben Dorfschullehrer und Kneipenwirt nur Bauern. Einst waren hier auf 19 exakt gleichgroßen Stellen Erbpächter eingesetzt worden. Ihre vom Kurfürsten – dem damaligen britischen König Georg III. – befohlene und beförderte Arbeit war die Urbarmachung der Moore, einer bisher brachliegenden Landschaft. Das Moor sollte nicht nur zur Produktion von dringend benötigten Lebensmitteln beitragen, sondern auch zur Ansiedlung einer Bevölkerung, die der Obrigkeit sonst davonlaufen würde – aus Angst vor Armut, Hunger und Militärdienst. Innerhalb von 200 Jahren gelang den Bauernfamilien in größter Armut langsam und mühselig die Entwässerung des tief liegenden Landes und eine gewisse Selbstversorgung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie durch die Bauernbefreiung sogar zu selbständigen Hofbesitzern – wenn auch hochverschuldet von Anfang an, denn die Ablösung haben sich die Grundherren, Adel, Staat und Kirche, teuer bezahlen lassen.
Auch hier hatte sich die Substanz des Dorfes aus Familien entwickelt, die sich untereinander und mit ein paar Familien in den Nachbardörfern verheirateten und verschwägerten. Töchter und Söhne wechselten vom elterlichen auf den schwiegerelterlichen Hof. In den Kirchenbüchern sind nicht wenige frühe Tode verzeichnet – durch Arbeitsunfälle, Ertrinken in den Entwässerungskanälen oder auch durch Krankheiten wie Rheuma, Pocken und Marschenfieber (eine europäische Form der Malaria); für die Frauen kamen Tode im Kindbett hinzu. So wurden auch viele zweite und selbst dritte Ehen eingegangen, die Höfe brauchten beide, Mann und Frau – und dazu noch lange viele Kinder als Arbeitskräfte. Alle waren eingespannt in die täglichen, nie endenden Arbeiten, das Torfstechen und -umschichten, Schafescheren, Heumachen und Mistausbringen. Sobald neben den Schafen auch Hornvieh in den Mooren gehalten werden konnte – das man wegen der größeren Mengen von Dung und ihrer Kraft als Spannvieh schätzte –, wurde auch das tägliche Melken und wöchentliche Buttern ein Teil der besonders von Frauen geleisteten Arbeit. Den Männern blieb das Pflügen und Eggen, Einsäen und Ernten – sobald der Boden dann ackerfähig war.
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts machten sich auch in den niedersächsischen Moordörfern langsam Unterschiede bemerkbar. Seit sie die Höfe besaßen, konnten die Bauern Land kaufen und verkaufen. Es gab zunehmend die größeren und die kleineren Betriebe und gut ausgebildete Landwirte. Aber viele gaben auch auf, gingen nach Übersee und versuchten ihr Glück in Amerika. Besonders nach New York hatte es seit den 1880er Jahren aus den nordhannoverschen Dörfern eine starke Auswanderung gegeben. Eindrucksvolle Erzählungen vom Abfahren und Ankommen wurden Teil der dörflichen Tradition, und mancher Dollar hat hiesigen Wirtschaften zum Aufschwung verholfen. Immer wieder kehrten Auswanderer und Auswanderinnen zurück – und waren wegen ihrer amerikanischen Ersparnisse auf dem lokalen Heiratsmarkt begehrt.
In der Weimarer Republik demokratisierte sich die seit Kaisers Zeiten auch für Frauen entwickelte landwirtschaftliche Ausbildung. Während einfache Landmädchen damals höchstens durch Haushaltsschulen und Dienstmädchenjahre ein Leben außerhalb der elterlichen Höfe kennenlernten, konnten sich Absolventinnen höherer Schulstufen, meist Gutsbesitzertöchter und Landadlige, landwirtschaftlich ausbilden lassen. Als 1933 die NS-Regierung sämtliche Organisationen der Landwirtschaft in den Reichsnährstand zwangen, wurde die Ausbildung der Frauen ebenfalls gleichgeschaltet. Die Landmädchen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation – wie etwa meine Mutter – lernten unter dem Zeichen von Ähre und Hakenkreuz und mit aggressiver Blut-und-Boden-Begleitung das Fach Landwirtschaftliche Hauswirtschaft. Trotz der Durchtränkung ihres Alltags mit toxischer Ideologie war es doch eine gründliche Ausbildung in all jenen weiblichen Tätigkeiten, in denen Bauersfrauen traditionell gearbeitet hatten – oder hatten arbeiten lassen. Das reichte vom Kochen und Backen über Gemüseanbau und -verarbeitung zum Schlachten und Verwerten von Kleinvieh ebenso wie zum Stricken und Weben und hörte auch mit Milchverarbeitung und Bienenzucht noch nicht auf; Kranken-, Säuglings- und Altenpflege waren ebenfalls auf dem Plan. So geschah es, dass die Landmädchen unserer Müttergeneration oft die gut ausgebildeten Wirtschafterinnen auf jenen großen Höfen und Gütern waren, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs untergingen – und in der DDR als Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) wieder auferstanden.
Von der Landwirtschaft hatten nach dem Zweiten Weltkrieg, so sieht es aus, die meisten Frauen allerdings genug. Anfangs warteten sie vielleicht noch darauf, dass die Männer aus der Gefangenschaft zurückkehrten. Der Schwarzmarkt für Kartoffeln und Eier, Fleisch und Butter bot kurze Zeit einen Nebenverdienst. Bald aber wurden im Osten durch den "Sozialismus auf dem Lande" die Dörfer vollkommen umgestaltet. Während die "Altbauern" massenhaft in den Westen flohen, entstanden an den Ortsrändern bald Plattenbauten, in denen vor allem jene unterkamen, die hier "Umsiedler" hießen und aus den inzwischen polnischen Gebieten stammten. Für sie gab es zunehmend Arbeitsplätze mit geregelten Arbeitszeiten in den LPG-Schweinezucht-, Melk- und Fischereibetrieben. Insgesamt richtete sich die Energie der meisten Menschen jedoch bald auf den Ausbau kleiner Gänse- und Kaninchenställe für eine gut bezahlte Fleischproduktion im Nebenerwerb sowie auch – auf Rügen und wohl überall in Küstennähe – auf die Pflege jener Zimmer und Hütten, die über den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund an ganze Betriebe zum Ferienmachen vermietet werden konnten. Der ehemalige Hof am Hochufer etwa diente viele Jahre als Sommerdomizil des Dresdner Kreuzchores. Die landwirtschaftlichen Betriebsfunktionäre waren gut qualifiziert, aber wer vor Ort die schwere Arbeit machte, war immer schlechter ausgebildet. Land- und Forstarbeit galt als Strafe für die, die nichts weiter konnten und wollten.
In den Dörfern des Westens lockten die wirtschaftlich erstarkenden Städte die Menschen vom Lande fort und zu neuen, sicheren und womöglich sauberen Arbeitsplätzen. Einheimische und Flüchtlinge, deren hohe Zahl die Dörfer eine Zeitlang hatte anschwellen lassen, zogen weg. Ein paar Jahre hatten Flüchtlinge, und vor allem wieder Frauen, bei saisonalen Arbeiten gegen kleinen Lohn ausgeholfen, bei Aussaat und Ernte, beim Schlachten und Rupfen des Geflügels, beim Schweineschlachten und Wurstmachen. Aber bald waren auch sie gegangen. Auf den Feldern, in Stall und Küche brach die Zeit der Maschinen an – Traktoren, Ernte- und Sämaschinen, Staubsauger, Wasch- und Küchenmaschinen ersetzten immer mehr die tierische und menschliche Arbeitskraft.
Auf den Dörfern wurden die Menschen noch ein wenig knapper, vor allem die Frauen. Das Heiraten gestaltete sich zwar wie eh und je nach der Faustregel: Grot to Grot und Lütt to Lütt (Groß zu Groß und Klein zu Klein). Aber manchmal heiratete ein gar nicht so kleiner Bauer doch lieber ein Flüchtlingsmädchen, bevor er selbst allein und sein Hof ohne Zukunft blieb. Tatsächlich wurden die Ausbildungs- und Heiratsentscheidungen der Landmädchen zu einem immer wichtigeren Element für die Fortführung bäuerlicher Betriebe.
*
Das Element der Zukunftslosigkeit in der Landwirtschaft wird heute brutal medial verwertet und in der Fernsehshow "Bauer sucht Frau" auf schamlose Weise lächerlich gemacht. Ernsthaft analysiert hat die Frage der Ehelosigkeit von Bauern schon früh – seit den 1960er Jahren – einer der ganz Großen der Sozialwissenschaft, Pierre Bourdieu. In dem Bändchen "Junggesellenball – Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft" wurden seine vier Jahrzehnte umfassenden Studien 2008 postum herausgegeben. In ihnen wird der dramatische Bedeutungsverlust der agrarischen Lebensweise nachgezeichnet und die soziale Entwertung aufgezeigt, die zunehmend all jene Menschen traf, die ihr Leben mit dem Anbau von Getreide und der Aufzucht von Vieh verbringen.
In den 1950er und 1960er Jahren hielt das Erzählen in den Dörfern noch an. Kaum jemand hatte schon einen Fernsehapparat im Haus, der die Familien- und Dorferzählungen in den Hintergrund hätte drängen können. Man traf sich weiterhin bei Schützen- und Erntefesten, Hochzeiten, Kindstaufen und Beerdigungen, erzählte einander von den neuen Maschinen oder von den nahegelegenen Häfen, in denen immer mehr Landwirte zusätzlich zu arbeiten begannen. Die Frauen sprachen von demnächst stattfindenden Hochzeiten und hofften auf Schwangerschaften – oder fürchteten sie. Und manchmal spottete einer über die Junggesellen des Dorfes – aber nur leise, denn immer öfter fand jemand keine Frau mehr, die das schwere Leben als Bäuerin auf sich nehmen wollte. Und dann verließ auch die Jugend die Dörfer. Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten eröffneten ihnen neu entstehende Berufe im landwirtschaftlichen Feld. Für junge Männer waren Landmaschinenschlosser oder Besamungstechniker interessant, junge Frauen lernten Kindergärtnerin, Altenpflegerin oder Wirtschafterin – Berufe, die ihre Mütter noch als Teil ihrer unbezahlten Familienarbeit begriffen hatten. Jetzt konnte man mit diesen Fertigkeiten auch zu sauberen Arbeitsplätzen mit normalen Arbeitszeiten kommen.
Als es im Osten mit dem Sozialismus auf dem Lande – und im ganzen Land – vorbei war, entließen die alten LPGs den größten Teil ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie selbst hatten im Laufe von Jahrzehnten den Landbesitz vergrößert. Jetzt bildeten sich neue Gesellschaften verschiedener Rechtsformen, Investoren aus dem Westen übernahmen die Produktion. Auf den riesigen Flächen – wir können sie vom Zug- und Autofenster aus besonders in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sehen – beschäftigen sie nur noch wenige Menschen, dafür aber große Maschinen. In der Schweinezucht und beim Melken mussten sie nur die Ställe mit ihren mehreren hundert oder tausend Kopf Vieh modernisieren. Die Nachkommen mancher Altbesitzer zogen mit ihren Familien wieder in die alten, mit viel Aufwand und Geld neu hergerichteten Herrenhäuser – und dann wird ums Haus herum gerne mit einer kleinen Biolandwirtschaft experimentiert.
In West und Ost bewirtschaften weniger Landwirte und Landwirtinnen wesentlich mehr Fläche als ihre Eltern und Großeltern. Sie mästen mehr Tiere, melken mehr Kühe, um von den zumeist sinkenden Erzeugerpreisen noch leben zu können. Die EU schützt ihr Einkommen nicht mehr, vielmehr hat sie es zu großen Teilen dem Weltmarkt preisgegeben und fordert gleichzeitig eine ökologische Nachhaltigkeit, die sich mit niedrigen Erzeugerpreisen immer schlechter verträgt. Ob die jungen Bauern von heute ihren Eltern noch ein Altenteil werden bieten können, ist in vielen Fällen fraglich geworden, und die Alten mögen mit heimlichem Kummer auf die inzwischen auch auf dem Land aus dem Boden schießenden Altersheime schauen. Denn dort werden sie einmal gepflegt werden, wenn es keine Schwiegertöchter mehr gibt.
Nur die Nicht-mehr-Landwirte wohnen gerne wieder in den Dörfern. Ihre Kinder und Enkel bauen Häuser auf familieneigenem Land, alltäglich steigen sie in ihre Autos, um auf zwar langen, aber fein asphaltierten Wegen zur Arbeit zu fahren. Die Aufrechterhaltung der Dorftraditionen ist ihnen oft kein Anliegen mehr. Die Wiedervernässung der Moore – für niedersächsische Moorbauern ein emotional unerträgliches Ansinnen und eine Existenzbedrohung ihrer Höfe – scheint jenen eine eher angenehme Aussicht, sie wird den Freizeitwert der Dörfer erhöhen.
*
Seit der Zeit meiner Großmütter und nach dem Zerreißen der Erzählfäden durch Kriege und Verluste aller Art, nach Sozialismus, Wende und Weltmarkt sind neue Erzählungen entstanden, neue Identitäten in den Dörfern. Sind die Bauern, wenn schon nicht mehr ihr Kern, überhaupt noch ein Teil davon? Oder sind ohnehin alle Erzählbezüge versunken – in dem Gefühl, nicht mehr aufeinander angewiesen zu sein, wie es die Bauern sowohl bei Haus- und Stallbauten als auch an langen Erntetagen waren – und immer noch sind? Haben die sogenannten sozialen Medien unsere wahre Gesellschaftlichkeit und das Empfinden für sie vollkommen ersetzt? Schon Bourdieu schrieb von einer Folklorisierung der Bauern, "die die Bauernschaft ins Museum abschiebt und die verbliebenen Bauern zu Hütern der in eine Landschaft für Städter verwandelten Natur macht".