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KI in der Arbeitswelt

Christian Kellermann Cornelius Markert

/ 15 Minuten zu lesen

In den vergangenen 200 Jahren hat sich die Produktivität im verarbeitenden Gewerbe dank des Einsatzes von Maschinen um ein Vielfaches gesteigert. Durch KI könnte die Automatisierung nun auch in die Domänen kognitiver Arbeit vordringen und neue Potenziale freisetzen.

Seit dem Beginn der Industriellen Revolution vor rund 250 Jahren befinden wir uns in einer globalhistorischen Transformation unserer Arbeits- und Lebensweise. Technische Basis des enormen Produktivitätsgewinns war die Reorganisation menschlicher Arbeit durch Maschineneinsatz, vor allem in materiellen Produktionsprozessen durch den Einsatz von Arbeits- und Kraftmaschinen. Die Charakterisierung der Industrialisierung als Beginn des „Maschinenzeitalters“ trifft den Kern dieser Entwicklung.

Die kognitive Arbeit war davon lange ausgenommen. Mit der Digitalisierung hat sich dies geändert: Wir befinden uns heute am Beginn des „Zweiten Maschinenzeitalters“. Die Geschwindigkeit, mit der die digitale Technik unser Leben durchdringt, und ihre Leistungszuwächse sind beeindruckend; das Potenzial für Produktivitätsgewinne auch in kognitiven Arbeitskontexten ist sehr groß. Generative Künstliche Intelligenz spielt eine zunehmend bedeutende Rolle in diesem Prozess, da sie selbstständig neuartige Inhalte und Lösungen generieren kann und damit neue Arbeitsfelder einer (Teil-)Automatisierung zugänglich macht.

Allerdings gibt es eine Diskrepanz zwischen den weiter wachsenden technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und dem Verständnis, sie produktiv und im Sinne des Allgemeinwohls einzusetzen. Wir sind noch mitten im Prozess, die Chancen und Risiken der Technik zu verstehen und in der Arbeitswelt nutzbar zu machen. Die Auswirkungen auf die Verteilung von Arbeit, Zeit, Einkommen und die Qualität der Arbeit sind unsicher und hängen stark von politischen Entscheidungen ab. Es ist daher von zentraler Bedeutung, wie Politik und Wirtschaft die Entwicklung steuern und sicherstellen, dass die Vorteile der KI gerecht verteilt werden und die Qualität der Arbeit steigt.

Geschichte und Systematik der (Teil-)Automatisierung

Um das Potenzial des KI-Einsatzes in der Arbeitswelt einschätzen zu können, ist es unabdingbar, die aktuellen Entwicklungen in den größeren Zusammenhang der vergangenen 200 Jahre zu stellen und die ökonomischen Rahmenbedingungen zu betrachten. Seit 1800 hat sich in Deutschland, den USA und im Vereinigten Königreich die Gütermenge, die in einer Arbeitsstunde produziert wird, in etwa verdreißigfacht. Anders ausgedrückt: Das Bruttoinlandsprodukt in diesen Ländern stieg je Arbeitsstunde von etwa 2,2 auf 76 US-Dollar (in konstanten Preisen von 2020 und zu Kaufkraftparitäten). Die Ausweitung des produktiven Potenzials menschlicher Arbeit war die Basis für Wohlstand und eine massive Arbeitszeitverkürzung. Der materielle Wohlstand stieg von weniger als 5.000 Dollar Jahreseinkommen um 1800 auf heute 50.000 bis 70.000 Dollar pro Person. Die jährliche Erwerbsarbeitszeit sank von über 3.000 Stunden im 19. Jahrhundert auf heute noch 1.588 Stunden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es zunächst eine rasante Expansionsphase gegeben, ab 1970 flachten die gesamtwirtschaftlichen Zuwachsraten jedoch wieder ab. Dies war unter anderem dadurch bedingt, dass die Technik des ersten Maschinenzeitalters vor allem im Bereich der materiellen Produktion anwendbar war, während die Automatisierung in vielen anderen Sektoren nicht möglich erschien, die deshalb ein geringeres Produktivitätswachstum aufwiesen. Nicht zuletzt die aufsehenerregenden Entwicklungen im Bereich der KI belegen: Mit der Digitalisierung gilt dies immer weniger. Die volle Entfaltung der Potenziale der Informations- und Kommunikationstechnik liegt allerdings noch vor uns.

General purpose technologies (GPTs) wie KI benötigen eine gewisse Anlaufphase, bevor sie produktiv eingesetzt werden, da sie erhebliche ergänzende Investitionen, die Entwicklung komplementärer Technik und die Reorganisation von Prozessen, Betrieben und Geschäftsmodellen erfordern. Die Dampfmaschine als eine GPT des ersten Maschinenzeitalters hat fast 200 Jahre gebraucht, um von ersten Tüfteleien zum flächendeckenden produktiven Einsatz zu gelangen: Erst nach 1830 und damit 120 Jahre nach der ersten Anwendung der Dampfmaschine in englischen Kohleminen löste die Dampfkraft die Wasserkraft als wichtigste Energiequelle in Großbritannien ab – im Mutterland der Industrialisierung und dem Land mit den geringsten Energiekosten in Europa zu dieser Zeit. Ganz anders die Technik der Digitalisierung: Weltweit besitzen inzwischen rund 4,7 Milliarden Menschen ein Smartphone – dabei ist die Vorstellung des iPhone durch Apple gerade einmal 16 Jahre her.

Auch hinsichtlich der Geschwindigkeit und Höhe der Leistungszuwächse unterscheiden sich die datenverarbeitenden Maschinen um mehrere Größenordnungen von den Arbeits- und Kraftmaschinen des ersten Maschinenzeitalters. Ein Jahrhundert nach der Einführung der ersten Web- und Spinnmaschinen hatte sich die Produktivität gegenüber der Handarbeit um etwas mehr als das Hundertfache gesteigert. In einer Arbeitsstunde konnten nun 1,2 Kilogramm Garn gesponnen werden anstelle von 8,1 Gramm in der Handarbeit, und 3,8 Meter statt 3 Zentimeter Stoff konnten gewebt werden. Bis heute, also etwas über 80 Jahre nach Konrad Zuses Rechner „Z2“, hat die Rechenleistung des Computers hingegen um den Faktor 1,5 Billiarden zugenommen, was ebenfalls die außergewöhnliche Dynamik der technischen Entwicklung im zweiten Maschinenzeitalter zeigt.

Im verarbeitenden Gewerbe, dem Kernsektor des ersten Maschinenzeitalters, stieg die Produktivität infolge des massenhaften Ersatzes menschlicher Arbeit durch Maschinen seit 1800 um etwa das Zweihundertfache. Aufgabe für Aufgabe, Tätigkeit für Tätigkeit, Beruf für Beruf wurde die Arbeit entlang der neuen technischen Möglichkeiten der Arbeits- und Kraftmaschinen reorganisiert, verstärkt seit etwa 1970/80 durch den wachsenden Druck zur Reorganisation durch die Finanzialisierung. Arbeitsmaschinen wie Drehbänke, Stanzen, Bohrer, Sägen, Hobel oder Pressen ersetzten große Teile manueller Arbeit. Kraftmaschinen wie zunächst Wind- und Wasserräder sowie die Dampfmaschine, später Elektro- und Verbrennungsmotoren, übernahmen den Antrieb der Maschinen. Hinzu kamen die Computer, die Teile der Kopfarbeit – Rechnen, Steuern, Kommunizieren – ersetzten und die produktiven Möglichkeiten weiter vergrößerten.

Diese atemberaubende Produktivitätssteigerung führte nicht zu massenhafter, gesamtwirtschaftlicher Arbeitslosigkeit, wie zum Beispiel der Ökonom John Maynard Keynes befürchtete. Im Gegenteil: Die Beschäftigung in Deutschland hat in den vergangenen Jahren immer neue Rekordmarken erreicht, sowohl was die absolute Zahl der Erwerbstätigen als auch was den Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung betrifft. Die Nachfrage und damit die Arbeit haben sich in andere Sektoren verlagert, Tätigkeitsbilder verändern sich bis hin zum Wegfall alter und zur Entstehung neuer Berufe.

Die Abbildung zeigt die Entwicklung der Bruttowertschöpfung pro Arbeitsstunde im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland von 1900 bis 2021. In diesen 121 Jahren stieg sie von unter 2 Euro auf 64 Euro, seit 1960 um durchschnittlich jeweils knapp 10 Euro pro Jahrzehnt (Preise von 2022). Dabei stieg der Automatisierungsgrad immer weiter an. War während der 1950er Jahre Handarbeit mit Werkzeugen und Einzweckmaschinen in vielen Fabriken noch weit verbreitet, sind heute in Bereichen wie Presswerken Automatisierungsgrade jenseits der 90 Prozent keine Seltenheit. Die Wachstumsraten sind heute zwar niedriger als während des Nachkriegsbooms, dennoch wachsen Automatisierungsgrad und die Produktivität stetig weiter. Durch die Digitalisierung erschließen sich hier zusätzliche Potenziale. Übernahmen im ersten Maschinenzeitalter die Maschinen vor allem physische Tätigkeiten, können sie mit Computer, Internet und KI-Anwendungen zunehmend auch kognitive Funktionen übernehmen – von der Steuerung und Vernetzung über neue Anwendungen der vorausschauenden Wartung (predictive maintenance) bis hin zur Unterstützung von Planung, Konstruktion und Management. Der Endpunkt dieser Entwicklung ist die vollautomatische Fabrik, ein Traum der Automationspioniere der 1950er Jahre, der sich mit der damaligen Technik nicht realisieren ließ. Mit der neuen Technik des zweiten Maschinenzeitalters scheinen die damaligen Hindernisse nun zumindest prinzipiell überwindbar.

Vielen Berufen außerhalb des verarbeitenden Gewerbes fehlten bislang die Maschinen für eine Automatisierung. Dies wandelt sich mit der Digitalisierung, entsprechend besteht das Potenzial für eine vergleichbare Produktivitätsentwicklung auch in diesen Bereichen. Die Aufmerksamkeit, die KI-Anwendungen wie ChatGPT oder Midjourney erhalten, kommt nicht von ungefähr (GPT steht hier für generative pre-trained transformer). Sie führen vor Augen, wie einzelne Tätigkeiten menschlicher Arbeit im Bereich des Analysierens und Kommunizierens bis hin zu kreativen Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden können. Allerdings ist die wissenschaftliche Datengrundlange zu den heutigen Automatisierungsgraden bislang noch dürftig, weshalb auch die Aussagekraft der Schätzungen zu zukünftigen Automationsgraden begrenzt ist.

Anfang vom Ende des Produktivitätsparadoxes

Trotz der Ausweitung der Möglichkeiten zur Automatisierung von Arbeit durch die Digitalisierung bleibt die Entwicklung der Produktivität bislang hinter den Erwartungen. Als einer der ersten stellte dies der Ökonom Robert Solow in den 1980er Jahren fest. Er hatte bereits 30 Jahre zuvor die zentrale Rolle von Technikentwicklung für Wirtschaftswachstum gezeigt. Das nach ihm benannte „Solow-Paradox“ beschreibt bis heute die scheinbare Entkopplung von Digitalisierung und Produktivitätswachstum und wirft einen langen Schatten auf die entsprechende ökonomische Auseinandersetzung. Mangelnde Messbarkeit digitaler Inputs oder Verzögerungseffekte zwischen Innovation, Entwicklung und betrieblicher Umsetzung sind einige Erklärungsansätze für Solows ungebrochene Aktualität.

Ausgehend von der wirkmächtigen Studie der Arbeitsforscher Carl Benedict Frey und Michael A. Osbourne vor zehn Jahren stand lange Zeit das Szenario drohender Arbeitslosigkeit durch zunehmend menschenähnliche Fähigkeiten insbesondere beim maschinellen Lernen im Fokus der Debatte um die Zukunft der Arbeit. Nachdem diverse nachfolgende Studien zeigen konnten, dass ein solches Szenario unrealistisch ist, beruhigte sich die Debatte wieder – nicht zuletzt, weil sowohl die Entwicklung als auch die Umsetzung von KI zumindest in Deutschland weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Auch wenn die Annahmen für ein solches Szenario methodisch anfechtbar sind, beschreiben sie doch einen möglichen Weg, um Beschäftigungseffekte ökonomisch zu schätzen. So werden sämtliche Tätigkeiten, die einen Beruf ausmachen, anhand ihrer Beschreibungen in Berufsdatenbanken mit den theoretischen Fähigkeiten von KI-Methoden abgeglichen. Auf diese Weise wurde ein hohes Substitutionspotenzial bei Arbeiten identifiziert, die einen großen Anteil an Routinetätigkeiten haben und relativ geringe Qualifikationen erfordern – woraus sich die Erwartungen an Produktivitätsschübe ableiteten.

Die Schätzungen, dass in Industrieländern wie den USA oder Deutschland in den nächsten zwei Jahrzehnten bis zur Hälfte aller Jobs durch KI gefährdet sind, sind seitdem deutlich nach unten korrigiert worden. Neben der Methodenkritik an der analytischen Belastbarkeit von gängigen Tätigkeitsbeschreibungen in den verfügbaren Berufsdatenbanken wuchsen auch die Zweifel an „disruptiven“ Entwicklungsschritten in der KI-Forschung und deren universeller Anwendbarkeit in Unternehmen. Selbst Routineaufgaben, die nach den einschlägigen Modellierungen nunmehr automatisierbar seien, entpuppten sich in der Praxis als zu komplex, als dass eine KI diese voll übernehmen könnte. Schließlich sind auch einfache Tätigkeiten in komplexe Arbeitsprozesse integriert, die nicht einfach aufgebrochen und neu strukturiert werden können. Kontext ist wesentlich für Arbeit, egal welchen Komplexitätsgrad einzelne Tätigkeiten haben. Entsprechend sind deskriptive Bestandsaufnahmen einzelner Tätigkeiten notwendigerweise unterkomplex und erfassen nicht das kontextspezifische „Arbeitsvermögen“, dessen zugrundeliegendes Wissen nicht ohne Weiteres formalisierbar ist. Stattdessen muss eine Übertragung egal welcher Tätigkeit an ein KI-gesteuertes System so codiert werden, dass der gesamte Kontext repräsentiert ist, was aufwendig und voraussetzungsvoll ist.

Relevanter als die Diskussion um Vollautomatisierung durch KI sind die komplementären Assistenzfunktionen datengesteuerter, selbstlernender Systeme. Mensch-Roboter-Kollaboration, Smart Glasses oder 3D-Druck beziehungsweise additive Fertigung sind zunehmend Teil der Arbeitsteilung. Assistenzsysteme verändern Tätigkeiten, ihre Zusammensetzung und Bedeutung für einen Beruf, die vorausgesetzten Qualifikationen sowie den Output von Arbeit. In den vergangenen zehn Jahren ist zu beobachten, dass die Nachfrage nach höherqualifizierten Jobs, die KI „ausgesetzt“ sind, gestiegen ist – relativ zu niedrigqualifizierten Jobs. Eine Erklärung dafür ist genau jene Komplementarität in der Mensch-Maschine-Kollaboration und in den Auswirkungen auf die Produktivität dieser Tätigkeiten.

An diesem Punkt setzt die aktuelle Debatte um KI und Arbeit an. Auslöser sind die neueren Entwicklungen bei generativen Sprachmodellen wie ChatGPT. Analog zur Debatte über die Auswirkungen von KI-Methoden auf Arbeit und Beschäftigung vor zehn Jahren sind etliche der veröffentlichten Szenarien zu den Effekten solcher KI-Modelle von der Annahme eines hohen Substitutionspotenzials auf dem Arbeitsmarkt geprägt: In Medienberichten wird auffällig häufig die Zahl von weltweit 300 Millionen Jobverlusten genannt. Wie zuvor werden Berufsdatenbanken und deren Tätigkeitsbeschreibungen als Datengrundlage für einen Abgleich für die Anwendungsmöglichkeiten der generativen KI herangezogen. Eine andere Berechnung kommt zu dem Schluss, dass rund 80 Prozent der Arbeitskräfte in den USA zu mindestens 10 Prozent ihrer Arbeitsaufgaben von der Einführung von generativer KI betroffen sein werden. Bei etwa 19 Prozent der Beschäftigten könnten bei mindestens 50 Prozent ihrer Aufgaben große Sprachmodelle zum Einsatz kommen und Teilaufgaben übernehmen, so die Annahme. Überwiegend betrifft der Einsatz jedoch Aufgaben, die mit höheren Einkommen korrelieren, was den zentralen Unterschied zur Debatte von vor zehn Jahren markiert.

Lehrberufe, Medien- und PR-Berufe sowie Jobs im Management und in der Unterhaltungsindustrie, aber auch das Codieren landen ganz oben auf der Liste mit den höchsten Anteilen für eine Teilautomatisierung durch generative KI. Während diese wissensintensiven Berufe überwiegend von den neuen KI-Fähigkeiten profitieren und entsprechend produktiver werden dürften, weil zeitintensive Teilaufgaben automatisiert werden können, könnten vor allem Bürotätigkeiten und Kundenservice zu den Bereichen gehören, bei denen künftig die meisten Jobeinsparungen durch den KI-Einsatz stattfinden. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass ein Viertel aller Bürotätigkeiten durch Sprachmodelle erbracht werden könnte – mit der genderspezifischen Auswirkung, dass Frauen doppelt so stark von Automatisierung betroffen wären wie Männer.

Insgesamt steht in der Debatte der komplementäre, also der ergänzende Charakter der KI im Vordergrund – dergestalt dringt generative KI in die bislang kaum nennenswert automatisierbare Wissensarbeit vor, womit veritable Produktivitätssteigerungen in greifbare Nähe rücken. Je nach Adaptions- und Verbreitungsgrad der Technik wird der Effekt über eine Dauer von zehn Jahren mit einem jährlichen Produktivitätswachstum von bis zu 1,5 Prozent geschätzt. Generative KI kann für etliche Aufgaben wie Übersetzungen, Klassifizierungen, kreatives Schreiben oder auch Code-Generierung Teilaufgaben selbstständig übernehmen und entsprechend die notwendige Arbeitszeit reduzieren.

Die exakte Größe des Produktivitätseffekts kennen wir heute noch nicht, aber die genannte Größenordnung ist angesichts der Automatisierungspotenziale durchaus realistisch. Konkrete Aussagen über Beschäftigungseffekte leiten sich daraus nicht ab, allerdings ergeben die genaueren Betrachtungen des KI-Einsatzes im Arbeitskontext ein Bild von der qualitativen Veränderung vieler Berufe.

Rückenwind für gute Arbeit und Produktivität

Die Automatisierung hat mit den neuesten Entwicklungen bei den generativen Modellen im Feld der KI erkennbar zum Sprung in die Domänen der kognitiven Tätigkeiten angesetzt. Daraus ergeben sich umfassende Veränderungen von Berufsbildern, weil Aufgaben wegfallen, neu hinzukommen oder anders gewichtet werden und entsprechend neue Anforderungen an menschliche Qualifikationen mit sich bringen. Wie in der Vergangenheit werden etliche neue Berufe entstehen (2018 entfielen etwa 60 Prozent der Beschäftigung in den USA auf Berufe, die es in den 1940er Jahren noch gar nicht gab).

KI schafft neue Aufgaben, wovon zumindest in den vergangenen zehn Jahren vor allem Höherqualifizierte profitiert haben. Für geringer Qualifizierte trifft dies nicht im gleichen Maße zu, was zur Polarisierung von Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten beigetragen hat. Das hängt aber nicht nur mit einem unterschiedlichen technischen Potenzial zur Produktivitätssteigerung in Abhängigkeit von Qualifikationsstufen zusammen, sondern korrespondiert auch mit der ungleichzeitigen Einführung von KI in einzelnen Branchen und Betrieben. Insofern greift eine einseitige Konzentration auf Qualifikationsmaßnahmen zu kurz, um die möglichen Produktivitätseffekte zu heben.

Vielmehr brauchen Beschäftigte, Selbstständige und Unternehmen zielgenauen industriepolitischen Rückenwind: von der digitalen Infrastruktur bis hin zur Technologieentwicklung und Anwendungsförderung. Die grundsätzliche Herausforderung ist längst erkannt, und diverse Maßnahmen wurden ergriffen, etwa im Rahmen der KI-Strategie der Bundesregierung. Der große Produktivitätssprung aber lässt noch auf sich warten. Ein Grund ist die Technik selbst. Die notwendige Kontrolle über sensible Daten behindert die breite Nutzung großer Sprachmodelle in vielen Unternehmenskontexten. Ferner sind die Modelle (noch) fehleranfällig. Auch Copyright-Fragen sind ungeklärt. Eine Maßnahme wäre folglich die Förderung eines Modells europäischer Machart, das datensparsam, kuratiert, multilingual und ressourcensparsam ist. Ein anderer Grund liegt in der notwendigen Vorlaufzeit, die die Anpassung der Geschäftsmodelle, der internen Abläufe und Organisation sowie die Entwicklung komplementärer Technik benötigen.

Der Handlungsdruck ist in Deutschland besonders groß, weil die demografische Entwicklung arbeitseinsparenden Technikeinsatz notwendiger macht als anderswo. Der Mangel an Fachkräften wird von Unternehmen zu den zentralen Risiken ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten gezählt. Der entsprechende Index erreichte in Deutschland in der Industrie zu Jahresbeginn 2023 ein neues Allzeithoch. Außerdem hängt die Innovationsgeschwindigkeit und -fähigkeit zunehmend vom KI-Einsatz ab. Das betrifft vor allem kleinere und mittlere Unternehmen sowie Selbstständige und erfordert die entsprechende Förderung von niedrigschwelligen Einsatzmöglichkeiten. Ein Schlüsselfaktor sind dabei die Beschäftigten, die natürlich auch die notwendigen Kompetenzen für die Arbeit mit KI benötigen, aber darüber hinaus für ihr gesamtes Tätigkeitsspektrum innerhalb des betrieblichen Arbeitskontextes den Blick dafür entwickeln müssen, wo welcher KI-Einsatz überhaupt funktional ist. Zentral ist die Erfassung der Komplexität eingefahrener Arbeitsabläufe – die Einführung von KI-Anwendungen ist oftmals zu technikgetrieben.

Die noch relativ kurze Geschichte des soziotechnischen Verständnisses von Arbeit ist eine gute Grundlage für den Umgang mit neuen Entwicklungsschritten in der KI. Sie zeigt, wie Produktivität menschzentriert gesteigert werden kann, was im Fall von selbstlernender Technik bis hin zum Schritt der technischen Autonomie umso wichtiger ist. Human in the loop – das Training von KI durch Menschen – ist die Voraussetzung für human in control und erfordert ein ganzheitliches und dynamisches Regulierungsverständnis von Methoden und Anwendungen Künstlicher Intelligenz. Die absehbare mittelfristige demografische Entwicklung macht einen beschleunigten Technikeinsatz noch dringlicher, der einerseits monotone und belastende Tätigkeiten reduziert und die Arbeit als wichtigen Teil des Lebens aufwertet und andererseits ohne Sorge vor technikbedingter Arbeitslosigkeit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft steigert. Von der differenzierten Förderung und Regulierung hängt ab, ob das volle Produktivitätspotenzial freigesetzt werden kann und wie es sich konkret auf Arbeit auswirkt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) (Hrsg.), Matrix der Arbeit, Bd. 3: Kapitalistische Marktwirtschaft und Produktionsweise sowie Bd. 4: Zukunft der Arbeit, Bonn 2023.

  2. Andrew McAfee/Erik Brynjolfsson, The Second Machine Age, New York 2014.

  3. Vgl. IGZA (Anm. 1), Bd. 3, S. 55.

  4. Bei allerdings seit den 1970er Jahren immer ungleicherer Verteilung der Einkommenszuwächse innerhalb der Gesellschaften. Vgl. Branko Milanovic, Global Inequality: A New Approach for the Age of Globalization, Cambridge MA 2016; Thomas Piketty/Emmanuel Saez/Gabriel Zucman, Distributional National Accounts: Methods and Estimates for the United States, in: Quarterly Journal of Economics 2/2018, S. 553–609.

  5. Erwerbsarbeitszeit in Deutschland 2022, bezogen auf Vollzeitbeschäftigte. Inklusive der Teilzeit lag der Wert bei 1.267 Stunden. Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB-Arbeitszeitrechnung 2023, Externer Link: https://iab.de/daten/iab-arbeitszeitrechnung. Wäre die Arbeitszeit auf dem Niveau von 1800 verblieben, wäre das BIP je Erwerbstätigem heute fast doppelt so hoch.

  6. Vgl. hierzu die These von der Kostenexplosion der Dienstleistungen bei William J. Baumol/William G. Bowen, Performing Arts: The Economic Dilemma, Cambridge 1966; William J. Baumol, The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t, New Haven 2012.

  7. Aktuelle Forschungen kommen zum Ergebnis, dass die unternehmerischen Transformationsanstrengungen dazu führen, dass in der ersten Phase einer neuen GPT die Produktivitätseffekte in der amtlichen Statistik untererfasst werden, da die Ergebnisse zunächst vor allem immaterieller Natur sind (Patente, Geschäftsmodelle u.a.m.), sodass das in der US-Statistik Ende 2017 angegebene Produktivitätsniveau das tatsächliche Niveau um 15,9 Prozent unterschätzt. Vgl. Erik Brynjolfsson/Daniel Rock/Chad Syverson, The Productivity J-Curve: How Intangibles Complement General Purpose Technologies, in: American Economic Journal: Macroeconomics 1/2021, S. 333–372.

  8. Vgl. Robert C. Allen, The British Industrial Revolution in Global Perspective, Cambridge 2009.

  9. Vgl. Statista, Smartphones – Statistiken und Studien, 14.9.2023, Externer Link: https://de.statista.com/themen/581.

  10. Vgl. IGZA (Anm. 1), Bd. 7: Datenhandbuch, S. 131ff.

  11. Vgl. Ulrich Jürgens, Automatisierung und Arbeit in der Automobilindustrie, Berlin 2023 (i.E.).

  12. Vgl. David A. Hounshell, Automation, Transfer Machinery, and Mass Production in the U.S. Automobile Industry in the Post-World War II Era, in: Enterprise & Society 1/2000, S. 100–138.

  13. Es fehlt nicht nur an belastbaren Zahlen, die über qualitative Einzelfälle oder Schlaglichtstudien (meist von Beratungsunternehmen) hinausgehen, sondern auch an brauchbaren, aktuellen Systematiken der Erfassung, weil die Forschung dazu, die in den 1950er und 1960er Jahren einen Höhepunkt erlebte, fast komplett eingeschlafen ist.

  14. Vgl. Robert Solow, We’d Better Watch Out, in: New York Times Book Review, 12.7.1987, S. 36.

  15. Vgl. ders., Technical Change and the Aggregate Production Function, in: The Review of Economics and Statistics 3/1957, S. 312–320.

  16. Vgl. Carl Benedict Frey/Michael A. Osborne, The Future of Employment: How Susceptible Are Jobs to Computerisation?, Oxford Martin School Working Paper, September 2013.

  17. Vgl. Sabine Pfeiffer/Anne Suphan, Der AV-Index. Lebendiges Arbeitsvermögen und Erfahrung als Ressourcen auf dem Weg zu Industrie 4.0, Universität Hohenheim, Working Paper 1/2015.

  18. Vgl. David H. Autor, Why are There Still So Many Jobs? The History and Future of Workplace Automation, in: Journal of Economic Perspectives 3/2015, S. 3–30.

  19. Vgl. Norbert Huchler, Komplementäre Arbeitsgestaltung. Grundrisse eines Konzepts zur Humanisierung der Arbeit mit KI, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 6/2022, S. 158–175.

  20. Vgl. Joseph Briggs/Devesh Kodnani, The Potentially Large Effects of Artificial Intelligence on Economic Growth, Goldman Sachs Economics Research, März 2023.

  21. Vgl. Tyna Eloundou et al., GPTs are GPTs: An Early Look at the Labor Market Impact Potential of Large Language Models, 17.5.2023, Externer Link: https://arxiv.org/abs/2303.10130.

  22. Vgl. Michael Chui et al., The Economic Potential of Generative AI. The Next Productivity Frontier, McKinsey & Company 14.6.2023; OECD (Hrsg.), Employment Outlook 2023: Artificial Intelligence and the Labour Market, Paris 2023.

  23. Vgl. Pawel Gmyrek/Janine Berg/David Bescond, Generative AI and Jobs: A Global Analysis of Potential Effects on Job Quantity and Quality, ILO Working Paper 96/2023.

  24. Vgl. Briggs/Kodnani (Anm. 20).

  25. Vgl. David H. Autor et al., New Frontiers: The Origins and Content of New Work, 1940–2018, National Bureau of Economic Research, NBER Working Paper 30389/2022.

  26. Vgl. Christian Kellermann, Stellungnahme für den Ausschuss für Digitales im Rahmen der Öffentlichen Anhörung „Generative Künstliche Intelligenz“, 24.5.2023, Deutscher Bundestag, Ausschussdrucksache 20(23)150.

  27. Vgl. Deutsche Industrie- und Handelskammer, Konjunkturumfrage Jahresbeginn 2023, Berlin 2023.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Christian Kellermann, Cornelius Markert für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor an der University of Labour und Senior Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin.
E-Mail Link: christian.kellermann@university-of-labour.de

ist promovierter Ökonom und Geschäftsführer des Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) in Berlin.
E-Mail Link: markert@igza.org