Seit dem Beginn der Industriellen Revolution vor rund 250 Jahren befinden wir uns in einer globalhistorischen Transformation unserer Arbeits- und Lebensweise. Technische Basis des enormen Produktivitätsgewinns war die Reorganisation menschlicher Arbeit durch Maschineneinsatz, vor allem in materiellen Produktionsprozessen durch den Einsatz von Arbeits- und Kraftmaschinen. Die Charakterisierung der Industrialisierung als Beginn des „Maschinenzeitalters“ trifft den Kern dieser Entwicklung.
Die kognitive Arbeit war davon lange ausgenommen. Mit der Digitalisierung hat sich dies geändert: Wir befinden uns heute am Beginn des „Zweiten Maschinenzeitalters“.
Allerdings gibt es eine Diskrepanz zwischen den weiter wachsenden technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und dem Verständnis, sie produktiv und im Sinne des Allgemeinwohls einzusetzen. Wir sind noch mitten im Prozess, die Chancen und Risiken der Technik zu verstehen und in der Arbeitswelt nutzbar zu machen. Die Auswirkungen auf die Verteilung von Arbeit, Zeit, Einkommen und die Qualität der Arbeit sind unsicher und hängen stark von politischen Entscheidungen ab. Es ist daher von zentraler Bedeutung, wie Politik und Wirtschaft die Entwicklung steuern und sicherstellen, dass die Vorteile der KI gerecht verteilt werden und die Qualität der Arbeit steigt.
Geschichte und Systematik der (Teil-)Automatisierung
Um das Potenzial des KI-Einsatzes in der Arbeitswelt einschätzen zu können, ist es unabdingbar, die aktuellen Entwicklungen in den größeren Zusammenhang der vergangenen 200 Jahre zu stellen und die ökonomischen Rahmenbedingungen zu betrachten. Seit 1800 hat sich in Deutschland, den USA und im Vereinigten Königreich die Gütermenge, die in einer Arbeitsstunde produziert wird, in etwa verdreißigfacht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es zunächst eine rasante Expansionsphase gegeben, ab 1970 flachten die gesamtwirtschaftlichen Zuwachsraten jedoch wieder ab. Dies war unter anderem dadurch bedingt, dass die Technik des ersten Maschinenzeitalters vor allem im Bereich der materiellen Produktion anwendbar war, während die Automatisierung in vielen anderen Sektoren nicht möglich erschien, die deshalb ein geringeres Produktivitätswachstum aufwiesen.
General purpose technologies (GPTs) wie KI benötigen eine gewisse Anlaufphase, bevor sie produktiv eingesetzt werden, da sie erhebliche ergänzende Investitionen, die Entwicklung komplementärer Technik und die Reorganisation von Prozessen, Betrieben und Geschäftsmodellen erfordern.
Auch hinsichtlich der Geschwindigkeit und Höhe der Leistungszuwächse unterscheiden sich die datenverarbeitenden Maschinen um mehrere Größenordnungen von den Arbeits- und Kraftmaschinen des ersten Maschinenzeitalters. Ein Jahrhundert nach der Einführung der ersten Web- und Spinnmaschinen hatte sich die Produktivität gegenüber der Handarbeit um etwas mehr als das Hundertfache gesteigert. In einer Arbeitsstunde konnten nun 1,2 Kilogramm Garn gesponnen werden anstelle von 8,1 Gramm in der Handarbeit, und 3,8 Meter statt 3 Zentimeter Stoff konnten gewebt werden. Bis heute, also etwas über 80 Jahre nach Konrad Zuses Rechner „Z2“, hat die Rechenleistung des Computers hingegen um den Faktor 1,5 Billiarden zugenommen, was ebenfalls die außergewöhnliche Dynamik der technischen Entwicklung im zweiten Maschinenzeitalter zeigt.
Im verarbeitenden Gewerbe, dem Kernsektor des ersten Maschinenzeitalters, stieg die Produktivität infolge des massenhaften Ersatzes menschlicher Arbeit durch Maschinen seit 1800 um etwa das Zweihundertfache. Aufgabe für Aufgabe, Tätigkeit für Tätigkeit, Beruf für Beruf wurde die Arbeit entlang der neuen technischen Möglichkeiten der Arbeits- und Kraftmaschinen reorganisiert, verstärkt seit etwa 1970/80 durch den wachsenden Druck zur Reorganisation durch die Finanzialisierung. Arbeitsmaschinen wie Drehbänke, Stanzen, Bohrer, Sägen, Hobel oder Pressen ersetzten große Teile manueller Arbeit. Kraftmaschinen wie zunächst Wind- und Wasserräder sowie die Dampfmaschine, später Elektro- und Verbrennungsmotoren, übernahmen den Antrieb der Maschinen. Hinzu kamen die Computer, die Teile der Kopfarbeit – Rechnen, Steuern, Kommunizieren – ersetzten und die produktiven Möglichkeiten weiter vergrößerten.
Diese atemberaubende Produktivitätssteigerung führte nicht zu massenhafter, gesamtwirtschaftlicher Arbeitslosigkeit, wie zum Beispiel der Ökonom John Maynard Keynes befürchtete. Im Gegenteil: Die Beschäftigung in Deutschland hat in den vergangenen Jahren immer neue Rekordmarken erreicht, sowohl was die absolute Zahl der Erwerbstätigen als auch was den Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung betrifft. Die Nachfrage und damit die Arbeit haben sich in andere Sektoren verlagert, Tätigkeitsbilder verändern sich bis hin zum Wegfall alter und zur Entstehung neuer Berufe.
Die Abbildung zeigt die Entwicklung der Bruttowertschöpfung pro Arbeitsstunde im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland von 1900 bis 2021. In diesen 121 Jahren stieg sie von unter 2 Euro auf 64 Euro, seit 1960 um durchschnittlich jeweils knapp 10 Euro pro Jahrzehnt (Preise von 2022). Dabei stieg der Automatisierungsgrad immer weiter an. War während der 1950er Jahre Handarbeit mit Werkzeugen und Einzweckmaschinen in vielen Fabriken noch weit verbreitet, sind heute in Bereichen wie Presswerken Automatisierungsgrade jenseits der 90 Prozent keine Seltenheit.
Vielen Berufen außerhalb des verarbeitenden Gewerbes fehlten bislang die Maschinen für eine Automatisierung. Dies wandelt sich mit der Digitalisierung, entsprechend besteht das Potenzial für eine vergleichbare Produktivitätsentwicklung auch in diesen Bereichen. Die Aufmerksamkeit, die KI-Anwendungen wie ChatGPT oder Midjourney erhalten, kommt nicht von ungefähr (GPT steht hier für generative pre-trained transformer). Sie führen vor Augen, wie einzelne Tätigkeiten menschlicher Arbeit im Bereich des Analysierens und Kommunizierens bis hin zu kreativen Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden können. Allerdings ist die wissenschaftliche Datengrundlange zu den heutigen Automatisierungsgraden bislang noch dürftig, weshalb auch die Aussagekraft der Schätzungen zu zukünftigen Automationsgraden begrenzt ist.
Anfang vom Ende des Produktivitätsparadoxes
Trotz der Ausweitung der Möglichkeiten zur Automatisierung von Arbeit durch die Digitalisierung bleibt die Entwicklung der Produktivität bislang hinter den Erwartungen. Als einer der ersten stellte dies der Ökonom Robert Solow in den 1980er Jahren fest.
Ausgehend von der wirkmächtigen Studie der Arbeitsforscher Carl Benedict Frey und Michael A. Osbourne vor zehn Jahren stand lange Zeit das Szenario drohender Arbeitslosigkeit durch zunehmend menschenähnliche Fähigkeiten insbesondere beim maschinellen Lernen im Fokus der Debatte um die Zukunft der Arbeit.
Die Schätzungen, dass in Industrieländern wie den USA oder Deutschland in den nächsten zwei Jahrzehnten bis zur Hälfte aller Jobs durch KI gefährdet sind, sind seitdem deutlich nach unten korrigiert worden. Neben der Methodenkritik an der analytischen Belastbarkeit von gängigen Tätigkeitsbeschreibungen in den verfügbaren Berufsdatenbanken wuchsen auch die Zweifel an „disruptiven“ Entwicklungsschritten in der KI-Forschung und deren universeller Anwendbarkeit in Unternehmen. Selbst Routineaufgaben, die nach den einschlägigen Modellierungen nunmehr automatisierbar seien, entpuppten sich in der Praxis als zu komplex, als dass eine KI diese voll übernehmen könnte. Schließlich sind auch einfache Tätigkeiten in komplexe Arbeitsprozesse integriert, die nicht einfach aufgebrochen und neu strukturiert werden können. Kontext ist wesentlich für Arbeit, egal welchen Komplexitätsgrad einzelne Tätigkeiten haben. Entsprechend sind deskriptive Bestandsaufnahmen einzelner Tätigkeiten notwendigerweise unterkomplex und erfassen nicht das kontextspezifische „Arbeitsvermögen“,
Relevanter als die Diskussion um Vollautomatisierung durch KI sind die komplementären Assistenzfunktionen datengesteuerter, selbstlernender Systeme. Mensch-Roboter-Kollaboration, Smart Glasses oder 3D-Druck beziehungsweise additive Fertigung sind zunehmend Teil der Arbeitsteilung. Assistenzsysteme verändern Tätigkeiten, ihre Zusammensetzung und Bedeutung für einen Beruf, die vorausgesetzten Qualifikationen sowie den Output von Arbeit. In den vergangenen zehn Jahren ist zu beobachten, dass die Nachfrage nach höherqualifizierten Jobs, die KI „ausgesetzt“ sind, gestiegen ist – relativ zu niedrigqualifizierten Jobs. Eine Erklärung dafür ist genau jene Komplementarität in der Mensch-Maschine-Kollaboration und in den Auswirkungen auf die Produktivität dieser Tätigkeiten.
An diesem Punkt setzt die aktuelle Debatte um KI und Arbeit an. Auslöser sind die neueren Entwicklungen bei generativen Sprachmodellen wie ChatGPT. Analog zur Debatte über die Auswirkungen von KI-Methoden auf Arbeit und Beschäftigung vor zehn Jahren sind etliche der veröffentlichten Szenarien zu den Effekten solcher KI-Modelle von der Annahme eines hohen Substitutionspotenzials auf dem Arbeitsmarkt geprägt: In Medienberichten wird auffällig häufig die Zahl von weltweit 300 Millionen Jobverlusten genannt.
Lehrberufe, Medien- und PR-Berufe sowie Jobs im Management und in der Unterhaltungsindustrie, aber auch das Codieren landen ganz oben auf der Liste mit den höchsten Anteilen für eine Teilautomatisierung durch generative KI.
Insgesamt steht in der Debatte der komplementäre, also der ergänzende Charakter der KI im Vordergrund – dergestalt dringt generative KI in die bislang kaum nennenswert automatisierbare Wissensarbeit vor, womit veritable Produktivitätssteigerungen in greifbare Nähe rücken. Je nach Adaptions- und Verbreitungsgrad der Technik wird der Effekt über eine Dauer von zehn Jahren mit einem jährlichen Produktivitätswachstum von bis zu 1,5 Prozent geschätzt.
Die exakte Größe des Produktivitätseffekts kennen wir heute noch nicht, aber die genannte Größenordnung ist angesichts der Automatisierungspotenziale durchaus realistisch. Konkrete Aussagen über Beschäftigungseffekte leiten sich daraus nicht ab, allerdings ergeben die genaueren Betrachtungen des KI-Einsatzes im Arbeitskontext ein Bild von der qualitativen Veränderung vieler Berufe.
Rückenwind für gute Arbeit und Produktivität
Die Automatisierung hat mit den neuesten Entwicklungen bei den generativen Modellen im Feld der KI erkennbar zum Sprung in die Domänen der kognitiven Tätigkeiten angesetzt. Daraus ergeben sich umfassende Veränderungen von Berufsbildern, weil Aufgaben wegfallen, neu hinzukommen oder anders gewichtet werden und entsprechend neue Anforderungen an menschliche Qualifikationen mit sich bringen. Wie in der Vergangenheit werden etliche neue Berufe entstehen (2018 entfielen etwa 60 Prozent der Beschäftigung in den USA auf Berufe, die es in den 1940er Jahren noch gar nicht gab).
KI schafft neue Aufgaben, wovon zumindest in den vergangenen zehn Jahren vor allem Höherqualifizierte profitiert haben. Für geringer Qualifizierte trifft dies nicht im gleichen Maße zu, was zur Polarisierung von Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten beigetragen hat. Das hängt aber nicht nur mit einem unterschiedlichen technischen Potenzial zur Produktivitätssteigerung in Abhängigkeit von Qualifikationsstufen zusammen, sondern korrespondiert auch mit der ungleichzeitigen Einführung von KI in einzelnen Branchen und Betrieben. Insofern greift eine einseitige Konzentration auf Qualifikationsmaßnahmen zu kurz, um die möglichen Produktivitätseffekte zu heben.
Vielmehr brauchen Beschäftigte, Selbstständige und Unternehmen zielgenauen industriepolitischen Rückenwind: von der digitalen Infrastruktur bis hin zur Technologieentwicklung und Anwendungsförderung. Die grundsätzliche Herausforderung ist längst erkannt, und diverse Maßnahmen wurden ergriffen, etwa im Rahmen der KI-Strategie der Bundesregierung. Der große Produktivitätssprung aber lässt noch auf sich warten. Ein Grund ist die Technik selbst. Die notwendige Kontrolle über sensible Daten behindert die breite Nutzung großer Sprachmodelle in vielen Unternehmenskontexten. Ferner sind die Modelle (noch) fehleranfällig. Auch Copyright-Fragen sind ungeklärt. Eine Maßnahme wäre folglich die Förderung eines Modells europäischer Machart, das datensparsam, kuratiert, multilingual und ressourcensparsam ist.
Der Handlungsdruck ist in Deutschland besonders groß, weil die demografische Entwicklung arbeitseinsparenden Technikeinsatz notwendiger macht als anderswo. Der Mangel an Fachkräften wird von Unternehmen zu den zentralen Risiken ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten gezählt. Der entsprechende Index erreichte in Deutschland in der Industrie zu Jahresbeginn 2023 ein neues Allzeithoch.
Die noch relativ kurze Geschichte des soziotechnischen Verständnisses von Arbeit ist eine gute Grundlage für den Umgang mit neuen Entwicklungsschritten in der KI. Sie zeigt, wie Produktivität menschzentriert gesteigert werden kann, was im Fall von selbstlernender Technik bis hin zum Schritt der technischen Autonomie umso wichtiger ist. Human in the loop – das Training von KI durch Menschen – ist die Voraussetzung für human in control und erfordert ein ganzheitliches und dynamisches Regulierungsverständnis von Methoden und Anwendungen Künstlicher Intelligenz. Die absehbare mittelfristige demografische Entwicklung macht einen beschleunigten Technikeinsatz noch dringlicher, der einerseits monotone und belastende Tätigkeiten reduziert und die Arbeit als wichtigen Teil des Lebens aufwertet und andererseits ohne Sorge vor technikbedingter Arbeitslosigkeit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft steigert. Von der differenzierten Förderung und Regulierung hängt ab, ob das volle Produktivitätspotenzial freigesetzt werden kann und wie es sich konkret auf Arbeit auswirkt.