Ein Urlaubsschiff als "Auslöser des Dritten Weltkriegs"?
1959, nach der Vertreibung des Diktators Fulgencio Batista durch die Revolutionäre um Fidel Castro, war die ideologische Ausrichtung des Inselstaates noch ungewiss gewesen. Zwar zielte die neue Führung in Havanna auf eine tiefgreifende Reformierung des kubanischen Gesellschaftssystems, das Weltbild Castros war zu diesem Zeitpunkt aber noch schlecht greifbar.
Als US-Präsident John F. Kennedy im April 1961 Kuba in der Schweinebucht angreifen ließ, nutzte Castro die Gelegenheit, um die Frage der Blockzugehörigkeit endgültig zu beantworten: Noch während der Kampfhandlungen – und kurz vor dem fulminanten Sieg der Kubaner – erklärte er, dass sein Land nun den sozialistischen Entwicklungsweg einschlage. Für die Sowjetunion war das ein strategisch wichtiger Etappensieg im Wettstreit mit den USA – mit der Karibikinsel hatte sie nicht nur einen Brückenkopf nach Lateinamerika und damit zu einem Gebiet, das für sie bislang Terra incognita gewesen war, sondern auch eine sozialistische Enklave direkt vor den Toren der USA, in deren traditionellen Hoheitsbereich sie sich nun vorschob.
Der "Faktor DDR"
Auch für beide deutschen Staaten bedeutete diese Entwicklung eine wichtige Zäsur. Die Bundesrepublik, enger Verbündeter der USA, unterhielt seit 1953 offizielle Wirtschaftsbeziehungen zu Kuba, die von der Revolution zunächst wenig beeinträchtigt wurden. Bis zum Frühjahr 1960 betonte der kubanische Industrieminister Ernesto "Che" Guevara vielmehr seinen Wunsch nach guter Zusammenarbeit. Der Abwärtstrend in den bilateralen Beziehungen setzte ein, als im Frühjahr 1960 die Verhandlungen zu einem neuen Wirtschaftsabkommen scheiterten. Augenfällig war die zeitliche Koinzidenz mit dem Beginn des Konflikts zwischen Kuba und den USA. Die Bundesregierung suchte förmlich nach Gründen, sich von Havanna zu distanzieren. Mehrmals betonte das Bundeswirtschaftsministerium, die Gesellschaftssysteme Kubas und der Bundesrepublik seien nicht mehr kompatibel und ihre Handelsbeziehungen nicht mehr rentabel. Daraufhin sanken ab August 1960 nicht nur die kubanischen Zuckerexporte und das bilaterale Handelsvolumen deutlich, auch das politische Klima verschlechterte sich drastisch. Bereits seit der gescheiterten US-Invasion in der Schweinebucht nahm die Revolutionsführung kein Blatt mehr vor den Mund. Freimütig bekannte Guevara, dass sich Kuba zukünftig nicht mehr auf die Bundesrepublik, sondern auf die DDR konzentrieren werde.
Die westdeutsche Botschaft intensivierte daraufhin ihre Öffentlichkeitsarbeit. Eine in Havanna ansässige PR-Firma wurde damit beauftragt, Film- und Tonaufnahmen über die Bundesrepublik in die kubanische Medienlandschaft einzuspeisen. Zudem steigerte sie die Auflage ihres Bulletins sowie die Frequenz ihrer Film- und politischen Diskussionsabende. Alle Bemühungen waren aber vergeblich. Schon kurz nach dem Berliner Mauerbau im August 1961 erschienen in der Tageszeitung "Revolución" Artikel und Karikaturen, die Bundeskanzler Konrad Adenauer mit Adolf Hitler verglichen. In internen Dokumenten unterstrichen kubanische Funktionäre überdies den "faschistoiden Charakter" der Bundesregierung und fertigten eine Liste an, auf der sie alle Funktionsträger mit nationalsozialistischer Vergangenheit aufführten. Als im Herbst 1961 der neue Botschafter Graf Karl von Spreti in Havanna eintraf, empfing ihn kein einziges hoch- oder höherrangiges Mitglied der Revolutionsführung. Die Bundesrepublik, stellte von Spreti kurze Zeit später fest, gelte nach den USA mittlerweile als "Landesfeind No. 2"
Ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen kam aber noch nicht infrage. Seit dem Frühjahr 1960 rechnete man in Bonn fest mit einem von den USA initiierten Umsturz, der in der Karibik Tabula rasa machen und das Fundament für einen Neuanfang legen würde. Weitreichende Entscheidungen zögerte man deshalb absichtlich hinaus, "bis sich die Situation auf Kuba geklärt hat",
Darüber hinaus existierte noch der "Faktor DDR", der die Bundesregierung in ein Dilemma brachte: Einerseits erforderte die Loyalität zu Washington, den US-Wirtschaftssanktionen nicht entgegenzuarbeiten, andererseits barg eine allzu offensive Unterstützung der USA die Gefahr, dass Castro die DDR völkerrechtlich anerkannte. Um ihre Verbündeten nicht und die kubanische Revolutionsführung nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen, sprachen westdeutsche Politiker und Diplomaten alle Entscheidungen mit ihren US-Kollegen ab. Bis zum Herbst 1962 stellten sie dabei regelmäßig fest, dass man im Weißen Haus "Verständnis"
Der "Faktor Bonn"
Die diplomatische Aufwertung der DDR war indes genau der Fixpunkt, auf den Staats- und Parteichef Walter Ulbricht und das SED-Politbüro hinarbeiteten. 1955 hatte die Bundesrepublik mit der sogenannten Hallstein-Doktrin eine politische Leitlinie verabschiedet, die Drittstaaten mit dem Abbruch aller diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen drohte, sollten sie das sozialistische Deutschland anerkennen.
Die Revolutionsregierung schob diesen Plänen jedoch zunächst einen Riegel vor. Wie Mitglieder der Kommunistischen Partei Kubas (1944 umbenannt in Partido Socialista Popular, PSP) ihren deutschen Genossen im April 1960 erklärten, könne man es sich aktuell nicht leisten, die Handelskontakte zur Bundesrepublik aufs Spiel zu setzen oder die USA mit vorschnellen Entscheidungen zu provozieren. Stattdessen schlugen sie eine "evolutionäre Entwicklung der Dinge" vor,
Castro selbst ließ jedoch sowohl mit einer persönlichen Audienz als auch mit positiven Signalen auf sich warten. Auf Anraten der PSP ging die SED darum dazu über, die Revolutionsführung mit finanziellen und wirtschaftlichen Hilfszusagen zu ködern. Mehrmals schlug Castro in den Folgejahren aus dem Anerkennungsdrang der SED Kapital, denn subtil eingestreute Verweise auf die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik bewirkten fast immer, dass Ost-Berlin mehr gab, als ursprünglich vorgesehen. Der Erfolg dieser Wirtschafts- und Finanzspritzen wiederum ließ nicht lange auf sich warten: Mit dem Bankenabkommen vom Februar 1960 stimmte Havanna der Einrichtung von Handelsvertretungen zu, die bereits im Mai 1961 zu einer Handelsmission mit weitreichenden Befugnissen aufgewertet wurde.
Nur die Umwandlung dieser Mission in eine Botschaft zögerte sich hinaus. Kubanischerseits hatte man zwar mittlerweile jegliche Vorsicht abgelegt und versuchte sogar, das Prozedere zu beschleunigen. Aber dann war es Ende 1961 die SED, die für Zurückhaltung plädierte. Offensichtlich auf Anordnung des Kremls musste sich Ulbricht in dieser Angelegenheit in Zurückhaltung üben. Erst als sich ab dem Spätsommer 1962 die internationale Krise um Kuba zuspitzte, kam die Anerkennungsfrage wieder auf den Tisch.
Deutsche Schiffe im Visier der USA
Bezeichnenderweise waren es im Oktober 1962 deutsche Schiffe, die auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise auch die Konkurrenz der beiden deutschen Staaten auf die Spitze trieben. Zunächst gerieten Frachter aus der Bundesrepublik ins Visier der USA. In einem verschlüsselten Fernschreiben aus dem Nato-Hauptquartier in Paris teilte Washington dem Auswärtigen Amt Anfang September 1962 mit, Informationen über Waffenlieferungen in bundesdeutschen Schiffen nach Kuba zu besitzen. Die Ladungen per se seien eigentlich unbedenklich, weil Castro keine militärische Gefahr für die USA darstelle. Wichtig sei jedoch die Stimmung der US-Bevölkerung, in der es nach den Meldungen über sowjetische Waffenlieferung für Castro brodele. Von der Bundesregierung erwarte man folglich, sowohl alle militärischen als auch alle zivilen Lieferungen einzustellen, "da auch jedes schiff, das mit anderen guetern nach kuba fahre, neutrale oder ostblocktonnage fuer waffentransporte freimache".
In Bonn sorgte diese Nachricht erwartbar für Aufregung. Tröpfchenweise gingen in den folgenden Wochen Informationen über Charterverträge ein, die während der Monate davor zwischen westdeutschen Reedereien und Schiffsgesellschaften des Ostblocks geschlossen worden waren. Es stellte sich heraus, dass ihre Frachter Kuba zwar angesteuert, aber nach Kriegswaffengesetz keine genehmigungspflichtigen Waffen geladen hatten. Anfang Oktober 1962 wurde daher eine Gesetzesnovelle beschlossen, die solche Charterverträge mit Ostblockstaaten genehmigungspflichtig machte.
Auf die Öffentlichkeit in den USA wirkten diese Maßnahmen indes kaum besänftigend. Während in der Presse Gerüchte über eine ernsthafte Verstimmung zwischen Bonn und dem Weißen Haus zirkulierten, riefen die US-Hafenarbeitergewerkschaften zu einem Boykott aller Schiffe auf, die Kuba seit dem 1. Januar 1962 angesteuert hatten.
Offensichtlich war die Kuba-Politik der Bundesrepublik im Herbst 1962 an die Toleranzgrenze des Weißen Hauses gelangt. Washington forderte jetzt eine Loyalität, die eine unbedingte Unterstützung der Sanktionen gegen Kuba vorsah. Mit "Genugtuung", konstatierte zumindest das Generalkonsulat in New Orleans zwei Wochen später, habe die Bevölkerung die neue Position der westdeutschen Regierung zur Kenntnis genommen. Knapp neun Monate später galt diese dann schon als ungeschriebenes Gesetz. Mit Rücksicht auf die freundschaftlichen Beziehungen zu den USA, erklärte das Bundesministerium für Verkehr im Juli 1963, müsse "das Anlaufen kubanischer Häfen (…) aus politischen Gründen als unerwünscht bezeichnet werden".
Während die Bundesrepublik ihre Schiffe seit Mitte Oktober bewusst von Kuba ablenkte, steuerte Ende Oktober ein DDR-Urlaubsschiff mit 700 Passagieren direkt auf Kuba und die US-amerikanische Seeblockade zu. Ob Ulbricht die Dramatik der Ereignisse bei der Abreise der "Völkerfreundschaft" aus Rostock vorausgesehen hatte, ist unklar. Als die US-Marine ihre Kriegsschiffe am 24. Oktober in Stellung brachte, war die "Völkerfreundschaft" jedenfalls immer noch etwa drei Tagesreisen von Havanna entfernt. Laut Darstellung der SED passierte sie am 25. Oktober schließlich die Frontlinien auf hoher See, weil sowohl Treibstoff als auch Lebensmittelvorräte drastisch zur Neige gingen. Beides wurde bei der Ankunft in Havanna allerdings nicht wieder aufgefüllt. Die Tatsache, dass Ulbricht die "Völkerfreundschaft" nicht von Kuba ablenkte, spricht daher dafür, dass er eine direkte Konfrontation mit den USA in gewisser Weise in Kauf nahm.
John F. Kennedy hingegen war im ersten Moment unsicher, wie mit dem Urlaubsschiff des sozialistischen Deutschlands umzugehen sei. Einerseits lastete erheblicher öffentlicher Druck auf ihm, wie sich schon bei der Einstellung des westdeutschen Seeverkehrs mit Kuba gezeigt hatte, andererseits war die "Völkerfreundschaft" eindeutig kein sowjetischer Frachter mit militärischer Ladung – und ein gewaltsames Abdrängen hätte den Konflikt mit Moskau rasch eskalieren lassen können.
Die SED hatte damit einen propagandistischen Sieg über die Bundesrepublik errungen. In den Tageszeitungen brüstete sie sich, trotz der Seeblockade den Liefer- und Personenverkehr mit der Insel aufrechterhalten zu haben
Der wichtigste Erfolg des Herbstes 1962 war jedoch die Entscheidung des Kremls, Kuba die diplomatische Anerkennung der DDR zu gestatten. Über die genauen Beweggründe hierfür liegen keine Informationen vor. Sicher ist nur, dass dieser Entschluss nicht erst Ende Oktober, sondern einige Wochen zuvor gefasst worden war.
Nur ein Pyrrhus-Sieg?
Dass dieser Erfolg der SED noch im gleichen Jahr ins Wanken geriet, hing mit der Art und Weise zusammen, wie der Kreml im Herbst 1962 nach dem Ende der Kuba-Krise die Vereinbarungen mit den USA umgesetzt hatte: Die Tatsache, dass der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow die auf Kuba stationierten Raketen abgezogen hatte, ohne Castro zu konsultieren, versetzte nicht nur den sowjetisch-kubanischen Beziehungen "tiefe Narben",
Anfangs wurden die Krisensymptome noch nicht als solche wahrgenommen. Aus Sicht der DDR-Regierung enttäuschend war aber die Tatsache, dass Castro bei seinen Reisen in den sozialistischen Osten keine Zeit fand, einen Zwischenstopp in der DDR einzulegen. Selbst als Ulbricht ihn persönlich einlud und bat, anlässlich des Besuchs von John F. Kennedy in West-Berlin eine Gegenrede in Ost-Berlin zu halten, folgte keine befriedigende Antwort. Seit der zweiten Jahreshälfte 1963 registrierte die frisch akkreditierte DDR-Botschaft in Havanna zudem, dass ihr Einfluss auf die Berichterstattung über die DDR deutlich sank und sich die Revolutionsführung darum bemühte, Handelsvertretungen in der Bundesrepublik und West-Berlin zu installieren.
(© picture-alliance, B2566 Zentralbild ADN | ADN Zentralbild)
(© picture-alliance, B2566 Zentralbild ADN | ADN Zentralbild)
Endgültig nervös wurde die SED-Führung, als sich Havanna immer deutlicher von der Sowjetunion abzugrenzen begann. Spätestens seit dem Frühjahr 1966 wirkten Castros Schmähreden gegen den Kreml, als wolle er die Beziehungen zu Moskau aufkündigen. Da kein Zweifel daran bestand, dass die diplomatische Existenz der DDR auf Kuba an die Präsenz der Sowjetunion gekoppelt war, gab es durchaus Befürchtungen, dass im Falle des Falles die Bundesrepublik wieder auf die Insel zurückkehren würde. Indizien, die ein solches Szenario in die Reichweite des Möglichen rückten, gab es viele. So lief der Handel zwischen Kuba und der Bundesrepublik seit 1963 zwar über Drittländer, intensivierte sich aber ab 1966 deutlich. Zudem tummelten sich nicht nur immer mehr westdeutsche Wirtschaftsvertreter in Havanna, sondern zunehmend auch westdeutsche Journalisten.
Als die Revolutionsregierung am Jahresende 1967 auch gegen die SED die rhetorische Keule schwang, begannen ihre Funktionäre in der Botschaft, über Gegenmaßnahmen nachzudenken. In Moskau und in Ost-Berlin, wetterten kubanische Delegierte im Dezember, säßen versteinerte Dogmatiker, denen "eine revolutionäre Haltung zum Bürgerkrieg" fehle.
Letztlich war es aber nicht Ost-Berlin, sondern der Kreml, der dem Revolutionsexport Castros und Guevaras einen Riegel vorschob. Zu sehr gefährdeten die Vorbereitungen von "Che" für einen Guerillakrieg in Lateinamerika die Windstille zwischen den Blockmächten. Im Frühjahr 1967 drohte Moskau zuerst mit Worten, reduzierte dann seine Erdölexporte und setzte am Jahresende schließlich seine Wirtschaftsverhandlungen mit Kuba aus.
Dieses Friedensangebot kam im Kreml an: Castros Äußerungen, so der sowjetische Botschafter in Havanna, seien eine große Unterstützung und ein wichtiges Signal für alle nicht-sozialistischen Länder. Ähnlich beurteilte auch die SED-Führung diese Entwicklung. Ihre anfänglichen Zweifel an der neuen Friedfertigkeit der Revolutionsführung lösten sich rasch in Luft auf, da diese nun alles dafür zu tun schien, um ihr Verhältnis zu Ost-Berlin zu neuem Leben zu erwecken. Schließlich beendete sie nicht nur ihr Kokettieren mit der Bundesrepublik, sondern bemühte sich aktiv um eine Intensivierung der Beziehungen zwischen den Regierungsparteien beider Länder. Gleichzeitig baute man in Havanna jetzt alle Barrieren ab, die zwischen 1963 und 1968 den kulturellen Austausch sowie die Zusammenarbeit im Bildungswesen behindert hatten.
Ihren Platz an der karibischen Sonne hatte die DDR-Führung letztlich also erst am Ende des Jahrzehnts eingenommen. Nachdem der "Faktor Bonn" endgültig vom Tisch und Castro auf Sowjetkurs gebracht worden war, richteten sich die beiden sozialistischen Regierungen neu aufeinander aus. Anfang der 1970er Jahre begaben sie sich gleichermaßen in ihre "verspäteten Flitterwochen"