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Kubanischer Sozialismus | Kuba | bpb.de

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Kubanischer Sozialismus Oder: Revolution als Wille und Vorstellung - Essay

Gerd Koenen

/ 17 Minuten zu lesen

Die kubanische Revolution, die ganz auf Fidel Castro zugeschnitten war, taugt nicht für romantisierende Verklärungen. Es lohnt sich, die Wolken postrevolutionärer Devotion beiseitezuschieben und nüchtern zu fragen, aus welchen Komponenten sich der Castrismus gespeist hat.

Wer aus der sicheren Distanz Europas und in historischer Perspektive über den kubanischen Sozialismus schreibt, muss sich nicht nur hüten, diese hartnäckige Parteidiktatur in die weichen Klänge eines "Buena Vista Social Club" einzuhüllen, die tatsächlich doch den Sound des alten, vorrevolutionären Kubas repräsentieren. Man muss auch den ironischen Blick etwas zügeln, der sich beinahe aufdrängt, sobald man versucht, all die zu Mythen geronnenen Aventüren und Bravados der scheinbar vertrauten, mit Vor- oder Spitznamen angesprochenen Gründerheroen wie "Fidel" oder "Che" auf den profanen Boden der Realgeschichte ihres Landes, ihres Kontinents und ihres Zeitalters zurückzuführen.

Jedenfalls zeigt die verjüngte Staats- und Parteiführung, die 2021 nach über sechs Jahrzehnten faktischer Alleinherrschaft und noch immer unter dem wachsamen Auge Raúls, des jüngeren der beiden Castro-Brüder, installiert worden ist, demonstrativ entschlossen, ihr kollektives Machtmonopol mit drakonischer Härte zu verteidigen. Auch unter den paramilitärischen "Komitees zur Verteidigung der Revolution", die alle Aufweichungen und Unzufriedenheiten im Blick haben und an der Niederschlagung von Unruhen beteiligt sind, wie zuletzt im Sommer 2021, dürfte eine fanatische Bereitschaft zur Behauptung ihrer kleinen und großen Privilegien herrschen, die für sie der Inbegriff von Sozialismus sind. Und dabei können sie sich womöglich sogar getragen fühlen von der passiven Furcht vieler besitzloser Kubaner vor einer Rückkehr der oft erfolgreichen und gutbetuchten Emigranten in Florida, die ihre vor Jahrzehnten enteigneten Wohnungen und Besitztümer zurückfordern könnten, oder auch vor einem Kollaps der letzten, noch so minimalen sozialen Sicherungen und einem Eindringen der Drogen- und Bandenkriminalität, die viele Staaten Mittel- und Lateinamerikas gerade verwüstet.

In den vertrauten Kategorien von Sozialismus vs. Kapitalismus und Internationalismus vs. Imperialismus dürfte diese Situation gleichwohl kaum noch zu beschreiben sein. Auch die sozialistische Republik Kuba hat sich hinter der Fassade ihrer martialischen Revolutionsrhetorik und paternalistischen Fürsorgeversprechen längst in ein vielgliedriges Gesamtunternehmen verwandelt, das die sowjetischen Subventionsmilliarden, von denen es bis 1990 zu einem Gutteil gelebt hatte, durch kapitalistisch erwirtschaftete Deviseneinkünfte ersetzt hat. Das politische und soziologische Zentrum und Rückgrat der Kommunistischen Partei sind nicht mehr bärtige Comandantes und in Moskau geschulte Ideologen, sondern smarte Funktionäre aus Staatsjugend und Massenorganisationen, beamtete Technokraten und professionelle Militärs sowie Geheimdienstkader. Sie haben sich die Claims aufgeteilt, über die sie als Ministeriale, Aufsichtsräte oder Lizenznehmer die humanen und natürlichen Ressourcen des Landes abschöpfen, sei es im Tourismus, in der Erschließung und Ausbeutung der neu entdeckten Öl- und Erzvorkommen, der Langustenzucht oder Zigarrenindustrie oder über die Ausleihe qualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland, darunter vor allem Ärzte und Sanitätspersonal.

Insoweit gleicht der kubanische Einparteienstaat von heute den anderen noch verbliebenen, nominell kommunistischen Regimes in China und Vietnam, oder selbst denen in Nordkorea oder Eritrea – so unterschiedlich sie sonst sind. Und auch das oligarchisch-militaristische Russland Putins als Nachfolger der UdSSR hat, ungeachtet seines weltanschaulichen Farbwechsels, viele Ähnlichkeiten und ist bemüht, die alten Verbindungen teilweise wieder zu reaktivieren.

Kult um den "Máximo Líder"

(© Gerd Koenen)

Was das sozialistische Kuba als Spätkömmling von allen einstigen "Bruderstaaten" typologisch unterschied, war vor allem die Tatsache, dass das ab 1959 errichtete politische Regime einschließlich der 1965 neugegründeten Kommunistischen Staatspartei die Schöpfung eines einzigen Mannes war: die Fidel Castros. Gewiss, alle Kommunistischen Parteien und die von ihnen begründeten und getragenen Staatswesen hatten omnipotente und allwissende Führergestalten, nach denen auch der ideologische Kanon vielfach benannt war, vom "Leninismus" bis zu den "Mao-Zedong-Ideen". Aber die Art und Weise des Castro-Regimes rückte es ebenso in die Nähe der anderen Seite des politischen Spektrums: der Welt der faschistischen Duces und lateinamerikanischen Caudillos, die sich ihre moviementos, ihre "Bewegungen", selbst geschaffen und auf den Leib geschnitten hatten – Figuren wie Benito Mussolini, Francisco Franco oder Juan Perón, in deren Bann der junge Fidel vor, während und nach dem Weltkrieg aufgewachsen war.

Dazu gehörte immer auch das Charisma eines großen Orators, mit dem Castro seine Rolle als Máximo Líder ausstattete. Im Unterschied zu allen Führern Kommunistischer Parteien, die ihr Charisma fast ausschließlich in und mittels der Partei entwickelt hatten, wirkte Castro von Anfang an als moderner Telekrat, klassischer Demagoge und begnadeter Selbstdarsteller, der es verstand, die "Massen" in Séancen, die mindestens zwei und maximal zwölf Stunden dauerten, buchstäblich schwindelig zu reden und in Trance zu versetzen. Statt in Bleisatz gegossener "Gesammelter Werke", wie sie für kommunistische Führer eigentlich obligatorisch waren, hat Castro vor allem Tausende Reden produziert, die nur in sorgsam redigierten Auszügen dokumentiert wurden, einfach weil sie – mit Ausnahme einiger Programmreden – viel zu situativ, zu improvisiert und zu widersprüchlich waren, um als dauerhafte Orientierung zu dienen. Es galt das gesprochene Wort, das wie ein einziger, langer Fließtext auf einer Festplatte laufend ergänzt oder überschrieben werden konnte – eine Machttechnik, die den handfesten Vorteil hatte, dass niemand sich auf etwas berufen konnte, das irgendwann gesagt und gehört worden war.

Zu dieser Situation einer Orwell’schen Zeit- und Gedächtnislosigkeit gehörte, dass die reale Geschichte sich zu einem rein mythischen Geschehen wandelte, das keiner auf historische Fakten und Quellen gestützten Überprüfung zugänglich war, angefangen mit der Biografie des Führers selbst, die sich in eine einzige lange, immer weiter ausgeschmückte, legendäre Erzählung verwandelte. Nur ausländischen Autoren und Forschern war und ist es bis heute möglich, aus verstreuten Daten und verfügbaren Berichten eine halbwegs empirisch gestützte Geschichte von Staat und Partei und eine valide Biografie ihres Gründers, Schöpfers und Comandante en Jefe zu rekonstruieren. Darin ähnelte Kuba dann allerdings doch wieder den kommunistischen Regimes von damals und heute.

Dabei – was für ein farbiger Stoff das in diesem Fall ist! Dieser entfaltet sich freilich erst, wenn man die Wolken postrevolutionärer Devotion, die außer "Fidel" vor allem "Che" als seinen bewaffneten Evangelisten umwehen, beiseiteschiebt und nüchtern und neugierig fragt, aus welchen mentalen, sozialen, kulturellen Komponenten der Castrismus als eine der Variationen des "realen Sozialismus" und Kommunismus des 20. Jahrhunderts sich biografisch und zeitgeschichtlich gespeist hat.

Da wären die frühen Prägungen Fidels als illegitimer Sohn eines analphabetischen spanischen Grundbesitzers und Aufsteigers in die postkoloniale, blütenweiße, spanisch-katholische Oberschicht der Zuckerinsel. Dann seine Jahre als Schüler im erzkatholischen, mit Franco-Spanien eng verbundenen Jesuitenkolleg. Anschließend seine Studienjahre im Pistolero-Milieu der rivalisierenden Gruppen an der Universität von Havanna, die sich gegenseitig mit einem unbegreiflichen sektiererischen Hass verfolgten, obwohl oder gerade weil sie alle ganz ähnlichen Milieus der Mittel- und Oberschicht entstammten und sich obligatorisch als "revolutionär" deklarierten. Oder da wäre Fidels Feuertaufe beim sogenannten Bogotazo, den anarchischen Unruhen in Bogotá nach der Ermordung des kolumbianischen Volkstribunen Jorge Eliécer Gaitán 1948, in die er als Mitglied einer vom argentinischen Caudillo Perón gesponserten Jugendreisegruppe eher zufällig hineingeriet und gleich teilnahm. Die Parole Gaitáns "Ich bin nicht nur ein Mann, ich bin ein Volk" könnte dem jungen Castro durchaus als Leitmotiv gedient haben und als Motto über seinem ganzen Leben stehen.

Tatsächlich folgte seine epische Revolutionskarriere von Anfang an dem Muster eines tollkühnen Ego-Trips, bei dem das schiere Überleben – beim Kamikaze-Angriff auf die Moncada-Kaserne 1953 ebenso wie bei der ähnlich dilettantischen Landungsaktion der überladenen Yacht "Granma" 1956 – immer nur ein neuer Schicksalsbeweis für seine angestrebte Rolle als "Mann der Vorsehung" war. Und wenn der Großteil seiner Gefährten dabei draufging, blähte das nur seinen Nimbus.

Kuba vor 1959

Dabei entsprach das Bild eines von den USA mithilfe einheimischer Marionetten politisch versklavten und wirtschaftlich dominierten, von internationalen Konzernen und einer kleinen Oberschicht ausgebeuteten und von einer Masse verarmter, analphabetischer Arbeiter und Bauern bevölkerten Landes, das Castro zeichnete, kaum der Realität. Kuba war längst nicht mehr die koloniale Zuckerinsel von einst und auch keine der sprichwörtlichen Bananenrepubliken, sondern befand sich in vielseitiger Entwicklung. Seit der Revolution von 1933 war es definitiv unabhängig und relativ demokratisch regiert – wenngleich es weiterhin im Bann- und Einflussbereich der USA stand, was Fluch und Chance zugleich war. Der Anteil von US-Firmen betrug gleichwohl nicht mehr als ein Sechstel des industriellen und agrarischen Anlagevermögens, und auch das Gros der Finanz- oder Versicherungsinstitute war in heimischen Händen. Zugleich war Kuba kein Land der typisch lateinamerikanischen Latifundien und Oligarchien, sondern hatte eine neue, relativ breite postkoloniale Ober- und Mittelklasse hervorgebracht, die zusammen mit den besser bezahlten Industriearbeitern und wohlhabenderen Farmern und Pächtern in den Zucker-, Tabak-, Kaffee-, Obst- und Gemüseanbaugebieten einen – wenn auch unsicheren, stets von Konjunkturen abhängigen – Block der Modernisierungsgewinner bildeten.

Deshalb verfügte das Land nach und neben Argentinien über das höchste Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas, freilich (wie überall) in äußerst ungleicher sozialer und regionaler Verteilung. Das Verkehrs- und Telekommunikationswesen hatte, den Maßstäben der Zeit nach, einen ziemlich fortgeschrittenen Standard, der eher dem Italiens und Spaniens als Guatemalas oder Mexikos entsprach. Auf 40 Einwohner kam ein Auto – deren Ruinen bis heute das beliebteste touristische Fotomotiv sind –, auf 25 Einwohner ein Fernseher und auf 6 ein Radio. Außer Radio- und Fernsehstationen gab es Dutzende von Zeitungen und Zeitschriften und insgesamt einen relativ qualitätsvollen Journalismus, so wie es auch gute Verlage und eine ausstrahlende Literatur- und Kunstszene gab. Auch das allgemeine Schul- und höhere Bildungswesen war vergleichsweise entwickelt. Die Universität von Havanna hatte 20.000 Studenten und Studentinnen, und die Rate der Alphabetisierung lag landesweit bei 76 Prozent, in den groß- und kleinstädtischen Milieus, in denen fast drei Fünftel der Bevölkerung lebten, sogar nahe 100 Prozent. Nur das Gros der guajiros, der Kleinbauern, Teilpächter und Landarbeiter, lebte noch ohne Schulen, Zeitungen und Elektrizität und jenseits des in den Städten zunehmend ausgebauten Gesundheitswesens.

Allerdings zog das in den 1940er und 50er Jahren umgebaute Havanna mit seinen Villen, Hochhäusern, Miet- und Apartmentblocks, mit neuen Straßenzügen, Bahnen und Bussen nicht nur als Hafen-, Handels- und Gewerbezentrum und als kosmopolitische Kulturstadt viele Ressourcen und alle Blicke auf sich, sondern auch als touristisches Sündenbabel, zu dem es mit seinen Nachtklubs, Tanzhallen, Musikbars, Spielcasinos und großen Hotels in den Jahren der Prohibition in den USA geworden war. Eben deshalb galt der Stadt der bewundernde Neid oder auch der Hass vieler Provinzler, nicht zuletzt derer, die dorthin geströmt waren – so wie der aus dem Süden stammende Student und angehende Anwalt Castro, für den Havanna das Haupteinfallstor der korrumpierenden amerikanischen Massen- und Lebenskultur war.

Es geht nicht darum, in das nostalgische Lied von der "Süße" des vorrevolutionären Lebens und alten Regimes einzustimmen, wie man das in der Emigrantenliteratur vieler Länder findet, sondern darum, den sozialökonomischen und kultursoziologischen Blick auf die radikalen Umwälzungen des vergangenen Zeitalters zu schärfen, zu denen die "Kubanische Revolution" von 1959 zweifellos zählte.

"Kubanische Revolution"

Die Anführungsstriche um die Revolution gelten zunächst der Tatsache, dass es sich eher um einen inneren Kollaps des von den USA fallengelassenen und von der eigenen Armee im Stich gelassenen, nachts außer Landes geflohenen, halbdiktatorischen Regimes des Ex-Feldwebels und Parvenüs Fulgenio Batista handelte als etwa um einen Volksaufstand oder siegreichen Guerillakrieg. Umgeben von übergelaufenen Militärs konnte Castro an Neujahr 1959 auf einem Panzer stehend kampflos in die Hauptstadt einfahren.

Die Gruppen bäuerlicher Kindersoldaten, die die Vorhut unter Guevara und dann Castros triumphalen Einzug begleiteten, hatten eher psychologische als militärische Bedeutung. Anfang 1957 hatte Castros Guerilla in der Sierra Maestra gerade einmal 50 Köpfe gezählt; Anfang 1958 waren es dann 180, und am Ende maximal 800 Bewaffnete, die auf sein Kommando hörten. Die ganz auf ihn zugeschnittene "Bewegung 26. Juli" war Teil einer breiten Front oppositioneller Kräfte, die Teile der etablierten, von Batista beiseite gedrängten Parteien der Auténticos und Ortodoxos sowie eine Reihe neuer, vor allem aus den Universitäten sich rekrutierender Kampforganisationen umfasste. Diese städtischen Gruppen brachten etwa die gleiche Zahl Bewaffneter auf die Beine und zeichneten sich durch tollkühne Aktionen aus, erlitten aber durch Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen ungleich schwerere Verluste als Castros Leute, die ihr Pulver in den Bergen trocken hielten, bevor sie kurz vor Toresschluss in die Ebene hinabstiegen und die Städte einnahmen.

Dass Castro innerhalb der eigenen Bewegung wie in allen Verhandlungen mit anderen Oppositionsgruppen hartnäckig auf einer prinzipiellen Prädominanz der sierra (der Berge) über den llano (die Ebene) bestand, sollte ein moralisches und symbolisches Übergewicht des bäuerlichen Hinterlandes über die bürgerlichen städtischen Milieus signalisieren. Dabei kam der Nachschub für seine Bergguerilla ebenfalls aus den Städten, und zwar aus denselben bürgerlichen Ober- und Mittelschichten, die auch die anderen bewaffnet oder halblegal operierenden Parteien und Gruppen stützten. Pauschal gesprochen, schüttelte das kubanische Bürgertum das zunehmend mafiotisch-kriminelle Regime um Batista ab und war danach bereit, dem charismatischen Anwalt Castro als Ministerpräsidenten ein Kabinett hochkompetenter Fachleute zur Seite zu stellen, alles unter der Präsidentschaft des angesehenen Richters Manuel Urrutia.

Nähe und Distanz zu Moskau

Wie Castro es binnen kürzester Zeit schaffte, sich all der hinderlichen Begleiter und Verbündeten zu entledigen, die ihm nur dazu dienten, das Bürgertum und die besorgten Behörden in Washington vorerst ruhig zu stellen, zeugte jedenfalls von beachtlichem politischen Geschick. Er spielte die einen gegen die anderen aus, versprach freie Wahlen zu Beginn des folgenden Jahres und trat in dichter Folge vor großen Massen auf, vor denen er unter frenetischem Jubel von einer Zukunft sprach, in der Kuba den Wohlstand Europas und Nordamerikas bald übertreffen werde. Dahinein mischte er kryptische Sätze wie: "Die Revolution ergreift die Macht, ohne jemandem verpflichtet zu sein." Die niemandem verpflichtete "Revolution", das war er.

Gegenüber Journalisten und auf einer Blitzreise in die USA distanzierte Castro sich von der Sowjetunion und von den kubanischen Kommunisten, die seit den 1930er Jahren eine kleine, aber sehr erfahrene und in erprobter Halblegalität ausharrende Sonderformation bildeten. In Wirklichkeit hatte er bereits in der Sierra – insbesondere über seinen Bruder Raúl und Guevara – feste konspirative Verbindungen zu ihnen hergestellt. In geheimen Konferenzen arbeiteten ihre und seine Leute unter Federführung Guevaras, der so etwas wie der freie Radikale des neuen Regimes war, ein neues Agrargesetz aus, über das der Landwirtschaftsminister, ein Mann des "26. Juli" und erfahrener Agronom, nicht einmal informiert wurde, weshalb er wie gewünscht zurücktrat.

Auch die "Säuberung" von Armee, Justiz und Polizei, der Aufbau einer neuen Geheimpolizei, in der Kader aus dem Sicherheitsapparat der KP eine Schlüsselrolle einnahmen, und die Welle von Verhaftungen, Schauprozessen und Hinrichtungen gegen "Batista-Schergen" lösten Proteste und Rücktritte aus. Als Präsident Urrutia diese Maßnahmen zwar verteidigte, sich aber von den Kommunisten distanzierte, bezichtige Castro ihn der "Untergrabung der revolutionären Einheit" und erklärte seinerseits auf einer großen Kundgebung seinen Rücktritt – mit dem erwünschten Resultat, dass "die Massen" stattdessen den Rücktritt des Präsidenten verlangten. Mit bewegter Geste gab Castro daraufhin den "Forderungen des Volkes" nach und trat sein Amt wieder an, während der Präsident und alle übrigen Widersacher unter Hausarrest gestellt oder außer Landes getrieben wurden.

Das alles schien dem Handbuch einer kommunistischen Machtübernahme stalinistischen Typs entnommen. Nur stellte sich heraus, dass die als "führende Partei" vorgesehenen Kommunisten dem neuen Máximo Líder ihrerseits lediglich als Steigbügelhalter dienten und sich bald mit Anschuldigungen der Illoyalität konfrontiert sahen, während ihre arrestierten Führer demütigende Selbstkritiken abliefern mussten, die einer Selbstentmannung glichen.

Mehr noch: Im Dezember 1961 eröffnete Castro in einem sorgsam inszenierten, live übertragenen Auftritt seinem Volk, dass er nach ausführlichem Studium ein überzeugter Marxist-Leninist geworden oder im Kern schon immer gewesen sei und identifizierte seinen idealtypisch nachkonstruierten "Bildungsroman" unmittelbar mit dem Schicksal des Landes. Das glich nicht nur einer Art Massentaufe "seines" Volkes, das ab jetzt obligatorisch diese wissenschaftliche Universallehre katechetisch zu erlernen hatte, sondern war zugleich die Vorankündigung der Gründung einer ganz auf seine Person zugeschnittenen Kommunistischen Staatspartei, die er 1965 nach vielen Intrigen und Querelen aus der Taufe hob.

Vor allem war das aber eine Bewerbungsrede für die Aufnahme in das von der Sowjetunion geführte "sozialistische Lager" – ein Angebot, das die Führung in Moskau angesichts der sich zuspitzenden Berlin-Krise und der neuen Eiszeit mit den USA nach der Wahl John F. Kennedys 1960 nur zögernd annahm. Denn zum einen stellte die immer militantere Rhetorik Castros und Guevaras zur baldigen Befreiung Lateinamerikas als einer angeblichen Halbkolonie des US-Imperialismus, verbunden mit ersten, rasch gescheiterten Anläufen eines Revolutionsexports nach eigenem Vorbild, die eben erst entwickelte Theorie einer prinzipiell möglichen "friedlichen Koexistenz" der beiden konkurrierenden Weltsysteme infrage. Zum anderen war die Revolution in Guevaras Grundsatzschrift über den Guerillakrieg und in der von Castro verkündeten "Deklaration von Havanna" das Werk einer Gruppe entschlossener Männer, deren strategisch ausgewählter "Guerillafokus" sich vor allem auf die bäuerlichen Massen statt nach den gültigen sowjetischen Handbüchern auf die jeweilige Arbeiterklasse und das nationale Bürgertum stützen sollte. Beides schien eher den maoistischen Doktrinen nahezustehen, die die Führung der KPdSU in dem sich aufheizenden Disput mit Peking gerade als Häresie und Abenteurertum verdammte.

Ähnlich bedenklich erschien, dass Castro, vorangetrieben von dem zum Wirtschaftsdiktator ernannten und mit den Landesverhältnissen kaum vertrauten Guevara und entgegen dem Rat der sowjetischen Experten, die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft Kubas in kürzester Zeit auf ein Gleis setzte, das binnen zwei bis drei Jahren auf die fast totale Verstaatlichung der industriellen und agrarischen Betriebe und Naturressourcen und eine Kollektivierung aller menschlichen und technischen Potenziale hinauslief – ein Prozess, für den Stalins Sowjetunion 15 Jahre und Maos China immerhin 7 Jahre gebraucht hatten.

Anfangs war dieser Weg mit einem begeisternden revolutionären deficit spending gepflastert, mit dem die sozialen Versprechen eingelöst werden sollten, die Castros Griff zur Alleinherrschaft von Anfang an begleitet und begründet hatten. Durch niedrige Preise in den überall eröffneten "Volksläden", durch den landesweiten Bau von Schulen, Krankenstationen, Kulturhäusern, Infrastrukturen, deren Nutzung fast kostenlos war, und von Wohnungen mit fertigen Bädern und Küchen zu minimalen Mieten schien sich der Lebensstandard für viele klar zu verbessern. 1961/62 platzte diese "sozialistische Spekulationsblase", wie man sie nüchtern nennen könnte, allerdings. Im Jahr darauf wurde die Libreta, die Rationierungskarte für Grundnahrungsmittel, eingeführt – die ein Provisorium hätte sein sollen, aber bis heute existiert und ersatzweise zum Ausweis einer egalitären Gerechtigkeit verklärt wurde, während sie doch eher das Signum einer Subsistenzwirtschaft neuen Typs war. An die Stelle materieller Anreize sollten jetzt "moralische" Impulse die Leistungsbereitschaft der Arbeiter auf dem Land und in der Stadt vorantreiben. Mehr noch: In der Salz- und Schweißpfanne eines Katalogs revolutionärer Sekundärtugenden und -pflichten sollte ein "neuer Mensch" geboren werden. Auch das klang in Moskauer Ohren ziemlich "kulturrevolutionär" und chinesisch.

Aber es ging nicht um rein doktrinäre Differenzen, sondern um Weltpolitik. Indem Castro sich und sein Land in einer eigentlich nicht vorgesehenen Weise in das "sozialistische Weltlager" hineindrängte, verpflichtete er die Moskauer Führung zu einer massiven Aufrüstung der kubanischen Armee – etwas, das sich durch die fortgesetzten, von der CIA gesponserten Landungsaktionen militanter Anti-Castro-Kämpfer, vor allem die spektakulär gescheiterte Schweinebucht-Invasion im April 1961, immerhin halbwegs rechtfertigen ließ. Ungleich ernster war dagegen das Ansinnen der kubanischen Führung 1962, angesichts einer angeblich bevorstehenden Invasion ihre direkt vor der US-Küste liegende Insel unter den Atomschirm der UdSSR zu nehmen. Regierungschef Nikita Chruschtschow entschloss sich nach langem Zaudern aus ganz eigenen globalstrategischen Erwägungen, in einer geheimen Operation auf zivilen Frachtschiffen eine Streitmacht von 42000 Soldaten zu entsenden, die 40 getarnte Abschussrampen für atomar bestückte Raketen installieren und sie durch Flakstellungen und Boden-Luft-Raketen sowie 80 Bomber und Abfangjäger plus anderem Gerät sichern sollten.

Die US-Führung unter Kennedy, die sehr verspätet und bruchstückhaft davon Wind bekam, verhängte im Gegenzug eine Seeblockade, die als Kuba-Krise in die Geschichtsbücher eingegangen ist und die Welt an den Rand eines atomaren Konflikts brachte – bis Chruschtschow nach Zusagen der USA über eine Nicht-Invasion Kubas, das somit Teil des sowjetischen Lagers bleiben konnte, sowie komplementäre Rückzüge im weltweiten Raketenschach seine Truppen und Atomraketen zurückbeorderte. Welche Rolle die ihm brieflich übermittelten Ansinnen Castros dabei gespielt haben, im Falle eines Angriffs der USA einen atomaren Erstschlag zu führen und New York zu pulverisieren, bleibt für Interpretationen offen. Die Kubaner selbst, deren heroische Bereitschaft, zur Verteidigung ihrer Revolution notfalls atomar zu verglühen, Guevara in einem Artikel später rühmte, wussten jedenfalls von alldem nichts; und wissen es auch heute wohl nur aus fremden, nicht aus eigenen Quellen.

Was bleibt?

Der spezifische Radikalismus und die erstaunliche, über ein halbes Jahrhundert hinweg bewiesene politische Unnachgiebigkeit der von Castro in erster Person geführten und über seine Abdankung 2008 und seinen Tod 2016 hinaus noch dominierten kubanischen Revolution kann sicherlich als ein gewaltsames nation-building und sich Losreißen vom übermächtigen Nachbarn USA verstanden werden.

Im Zuge dessen hat die Insel allerdings nicht nur einen Exodus des Großteils ihrer alten Eliten und ihres neuen Mittelstands, sondern auch vieler aktiver und nonkonformistischer Elemente aus allen Schichten erlebt – in immer neuen Schüben, und begleitet von einer Hasspropaganda, die sie pauschal als gusanos, als "Würmer", oder in stalinistischem Jargon als "Schädlinge" diffamierte. Über eine Million Menschen, ein Zehntel der ursprünglichen Bevölkerung, ist über inzwischen sechs Jahrzehnte gegangen, und Tausende, vielleicht Zehntausende sind bei dem Versuch umgekommen, mit Booten, Flößen oder in aufgeblasenen Reifen nordamerikanischen Boden zu erreichen. Das Meer um Kuba leerte sich, weil alle Fischerboote oder Segeljachten weg oder beschlagnahmt wurden.

Ebenso unbegreiflich könnte man freilich die komplementäre politische Unnachgiebigkeit und Revanchelüsternheit der Emigrationsgemeinde in Florida finden, die jede Aufhebung der unsinnigen Embargo-Politik der US-Regierungen bis heute blockiert – welche wiederum die entscheidende Überlebensbedingung des Regimes der Kommunistischen Partei Kubas bildet. Die Diaspora in Florida dürfte die einzige dieser Art sein, die sich selbst vom Verkehr mit ihrem Herkunftsland abschließt, das gleichzeitig von ihren Überweisungen lebt.

Nicht zu dämonisieren oder zu romantisieren, aber auch nicht zu bagatellisieren ist wiederum die Erinnerung an die von Kuba initiierten und gesponserten Guerilla-Epen, in denen, einer fixen Idee Castros wie Guevaras folgend, "die Anden die Sierra Maestra Lateinamerikas" werden sollten – eine absurde Verschätzung des geopolitischen Maßstabs um etwa das Dreißigfache. "Operation Fantasma" hieß denn auch im internen Geheimdienstjargon die generalstabsmäßig angesetzte Operation Guevaras in Bolivien, die mit seinem Märtyrertod im Oktober 1967 endete. Alles in allem hat dieses Gespenst einer kontinentalen Revolution eine lange Kette sinnloser Bürgerkriege und Opfergänge inspiriert – und gleichzeitig die sterile US-Paranoia einer antiamerikanischen Weltverschwörung über Jahrzehnte befeuert.

Dasselbe gilt für die noch sinnloseren und opferreicheren Militärinterventionen Kubas in Afrika, vom Kongo über Angola bis Äthiopien in den 1970er und 80er Jahren, die wenig mehr waren als Hilfs- und Stellvertreteroperationen einer überspannten sowjetischen Weltpolitik. Wie viele Tausend oder Zehntausend junge Kubaner dabei umgekommen sind, ist bis heute Staatsgeheimnis.

Diese ganze, mittlerweile 60 Jahre andauernde Geschichte eines kubanischen Sozialismus, aus so vielen gerechten Motiven und so vielen Enthusiasmen sie sich gespeist hat, bedeutete im historischen Resultat nicht nur eine brachiale sozialökonomische Entdifferenzierung und Vergröberung der Gesellschaft, sondern die Politik der Castros lief auf eine aktive "Unterentwicklung" dieses vergleichsweise entwickelten Landes hinaus, das zeitweise tatsächlich zu der buchstäblichen "Zuckerplantage" degenerierte, die Vater Castro betrieben hatte.

Die insulare Selbstisolation bedeutete auch eine schmerzliche Auflösung kultureller Verknüpfungen, allein schon durch den Kehraus alles Englischsprachigen. Selbst die Musik, die seit der Reise des US-Gitarristen Ry Cooder Mitte der 1990er Jahre im Zuge der touristischen Öffnung des Landes und seit dem Film "Buena Vista Social Club" von Wim Wenders wie nichts anderes mit einem revolutionär-lebenslustigen Kuba identifiziert wird, ist eher eine melancholische Reminiszenz. Denn die steinalten Musiker, die ihren nostalgischen "Buena Vista Social Club" wiederentdeckten oder neu erfanden, holten ja Instrumente wieder hervor, die sie lange weggelegt hatten, und sie spielten die vorrevolutionären Lieder, vor allem den Son, der in den 1940er und 50er Jahren eine kubanische Variante des Blues war und im engen Austausch zwischen Havanna, New Orleans und New York entstanden war.

Auch diese wunderbaren Klänge und Lieder können die Verluste der Vergangenheit und die Härte der Gegenwart nicht mildern, geschweige denn ausgleichen. Und die stagnante Ruhe, unter der die Insel heute – nach den Unruhen im Sommer 2021 – liegt, dürfte die vor einem Sturm sein, der sich erneut zu einem weltpolitischen Konflikt auswachsen könnte.

ist Publizist und Historiker. Er schrieb unter anderem "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus" (2017) sowie "Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara-Projekt" (2008).
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