Kann Kunst Gesellschaft wirklich verändern?
– Nicht auf einmal als Ganzes, aber Schritt für Schritt. Wir sollten nicht zu viel Druck aufbauen oder zu große Erwartungen haben, weil Kunst nicht alle bürgerlichen Pflichten ersetzen kann, die wir haben, um Gesellschaft zu verändern. Aber wir können die Art und Weise verändern, wie wir Dinge sehen und wie wir Angst und Ungewissheiten verarbeiten.
Mit Ihrem Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR) verbinden Sie Kunst und Aktivismus bereits im Namen. Inwiefern hängt beides für Sie zusammen?
– Sie müssen wissen, dass es in Kuba verboten ist, Aktivist zu sein. Als ich begann, einige Dinge, die in meinem Land geschahen, nicht mehr zu verstehen, hatte ich nicht die Sprache, dies auszudrücken. In Kuba habe ich ohnehin nie etwas über Aktivismus gelernt, weil die Regierung jede Form von zivilgesellschaftlicher Organisation korrumpiert hat, es gibt nur noch staatstreue bürokratische Institutionen. So kam ich fernab meiner Heimat in Kontakt mit Aktivismus, und als ich zurückkam, sagte ich mir: Genau das ist die Sprache, die ich nutzen möchte, um den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Und weil ich Aktivismus als Sprache sehe, als kollektive öffentliche Sprache, war mir klar: Ich möchte sie mit Poesie versehen – also müssen wir unerwartete Dinge tun. Denn schon in Europa und Nordamerika war mir aufgefallen, dass Politiker manchmal nicht zuhören, wenn nicht gerade zwei Millionen Menschen auf die Straße gehen. Oder sie speisen einen mit vorgefertigten Antworten ab. Also müssen wir kreativer sein – und Kunst ist dafür der beste Weg. Das Überraschungsmoment, wenn die Person, die du erreichen willst, noch keine Antwort weiß, ist unsere Gelegenheit, Druck zu erzeugen und soziale Anliegen voranzubringen.
Wie kann der Transfer von Ideen zu Aktionen gelingen?
– Es gibt keine Erfolgsformel, aber es braucht Inspiration, Geduld und Ausdauer. Leider lassen sich mit Kunst und Aktivismus keine Gesetze ändern, aber man kann das allgemeine Bewusstsein beeinflussen. Mich interessiert aber gar nicht so sehr, wie Wandel bewerkstelligt werden kann – denn ich weiß, dass er möglich ist. Mein Augenmerk liegt vielmehr darauf, wie sich Prozesse, in denen einige Freiheiten und Rechte gewonnen wurden, verstetigen lassen, sie also nicht einfach wieder umgedreht werden.
Ist künstlerische oder kulturelle Bildung so etwas wie politische Bildung – vielleicht sogar effektiver?
– Wir können das nicht verallgemeinern und auch nicht auf eine Sache reduzieren. Ich glaube, dass Kunst verschiedene Zwecke hat. Mich interessiert vor allem, wie man Kunst zu einem Instrument für politische Kämpfe machen kann, ohne dass sie zu Propaganda wird. Das ist das Ziel. Denn Kunst ist etwas, das offen und selbstkritisch ist und sich ständig verändert. Wenn man analysiert, wer man ist und was man als Kunst macht, muss man sich ändern. Das ist der Unterschied zu Propaganda: Propaganda besteht aus geschlossenen Aussagen, sie hat keine Nuancen und reduziert die Komplexität der Welt auf Schwarz und Weiß. Kunst tut das nicht.
Was macht gute politische oder aktivistische Kunst aus?
– Ich glaube, gute aktivistische Kunst ist, wenn du andere damit inspirierst, ihnen ein Werkzeug in die Hand gibst. Zugleich sollte man sich im Klaren darüber sein, dass man mit einer Aktion nicht gleich alles erreichen kann, aber dass jede Aktion ein Puzzleteil ist. Gute aktivistische Kunst ist auch, wenn Menschen innehalten und sich fragen: Was tue ich hier? Warum tue ich es? Warum mache ich nichts anderes? Ich glaube, meistens reagiert politische Kunst nur – wenn du etwas im Fernsehen siehst oder eine Nachricht oder ein Gerücht hörst, das dich wütend macht. Gute aktivistische Kunst ist jedoch die Kunst des "noch nicht", des erst noch Kommenden, die die Mächtigen zum Reagieren zwingt. Sie ist auch keine Kunst, um die man passiv herumsteht, sondern die politisch aktiviert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
– Ja, aus dem Jahr 2015. Ich wusste, die kubanische Regierung würde versuchen, mir etwas anzuhängen. Also begann ich eine Performance, die letztlich zur Initialzündung für das INSTAR wurde. Ich begann Hannah Arendt zu lesen, "The Origins of Totalitarianism", und nahm mich dabei rund um die Uhr auf. Ich nutzte also dieselbe Technik, die der Staat nutzte, um mich zu überwachen. Auf diese Weise konnte ich nachweisen, dass ich nichts Verbotenes tat. Und es passierte tatsächlich: Eines Tages verließ ich das Haus, um zu einer nahegelegenen Ausstellung eines Freundes zu gehen. Und mir wurde mitgeteilt: "Sie können nicht eintreten, Sie haben vor drei Tagen an anderer Stelle für einen Skandal gesorgt." Und ich sagte: "Nun, ich habe den Beweis, dass das nicht stimmt."
Sie sind natürlich eine prominente Ausnahme. Inwieweit ist es anderen Künstlerinnen und Künstlern in Kuba möglich, diese Art von Kunst zu machen?
(© bpb)
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– Es ist möglich, aber es hat einen Preis. Letztlich kann jeder diese Art von Kunst machen, weil es Kunst ist, die nicht auf bestimmten handwerklichen Fähigkeiten oder kunsthistorischem Wissen beruht. Es handelt sich um einen Prozess, bei dem Wut in etwas Konstruktives verwandelt wird, das alle anderen mitnimmt. In den vergangenen drei Jahren ist sehr deutlich geworden, dass in Kuba eine sehr breite Bewegung entstanden ist, die Veränderungen verlangt und hierfür auch Kunst nutzt. Tatsächlich haben wir Künstler uns an die Spitze dieser Bewegung gesetzt, unsere Aktionen waren einer der Ausgangspunkte. Aber es stimmt, ich bin sicherer, weil ich sichtbarer bin. Aber auch wenn du sichtbarer bist, ist es manchmal besser, etwas nicht zu tun. Zum Beispiel konnte ich längere Zeit in Kuba nicht rausgehen. Manchmal gab ich meine Ideen an andere weiter, und manchmal erzählten andere mir ihre Ideen, die ich umsetzte, weil es für sie zu riskant gewesen wäre. Es ist also die Frage, wie man seine Privilegien nutzt.
Wie hat sich die Gesamtsituation für Künstler in Kuba in den vergangen Jahren entwickelt?
– Leider sitzen mehrere Künstler im Gefängnis, einige wurden zu fünf und neun Jahren verurteilt. Andere sind im Hausarrest für ein, zwei oder drei Jahre. Aber tatsächlich ist gar nicht so wichtig, was speziell Künstlern geschehen ist. Denn nach den Protesten vom 11. Juli 2021, als das ganze Land spontan auf die Straße ging, machte die Masse der Kubaner uns obsolet: Wenn du am 11. Juli rausgegangen bist, tatest du das nicht als Künstler, sondern als Bürger. Hinzu kommt, dass die Zensur früher eher wertschätzend und vorläufig daherkam. Jemand sprach dich an: "Bitte, tu das nicht, oder willst du dich in Schwierigkeiten bringen?" Heute hingegen gibt es dafür um die zehn Gesetze, die drakonische Strafen vorsehen. Es ist fast, als hätte man die chinesischen und russischen Regeln miteinander kombiniert.
Sie selbst mussten vor etwa einem Jahr Kuba verlassen. Auf welche Weise wurde und wird Druck auf Sie ausgeübt?
– Heute genau vor einem Jahr, es war der 17. August 2021. Nun, ich bin jetzt draußen, also ist es anders. Aber die Regierung macht keine Pause. Es wird nach wie vor schlecht über mich geredet, es werden falsche Gerüchte gestreut, die mich in ein bestimmtes Licht rücken sollen. Ich sage immer: Wenn du Aktivist wirst, musst du aufhören, für andere Dinge zu brennen. Denn in totalitären Systemen ist es so: Wenn herauskommt, dass du neben deinem politischen Anliegen andere Leidenschaften hast, wird das gegen dich verwendet. Aktivist zu sein, ist also eine sehr reale Übung. Man muss einerseits sehr leidenschaftlich sein, andererseits alle anderen Leidenschaften unterdrücken. Aber in meinem Fall hatte die Regierung selbst ein Verlangen, sie wollte, dass ich das Land verlasse. Vier Mal wurde ich angesprochen: "Sie müssen gehen, Sie setzen Ihre Karriere auf’s Spiel", all so was. Beim vierten Mal boten sie mir sogar an, den Flug zu bezahlen – verrückt, oder? Als dann einige Kollegen ins Gefängnis kamen, traf ich eine Entscheidung und schlug einen Tausch vor: Ihr wollt, dass ich gehe? Dann will ich, dass ihr meine Kollegen freilasst. Ich weiß, es war vielleicht ein bisschen arrogant von mir – aber ich wollte zeigen, wie stark die kubanische Zivilgesellschaft bereits ist. Denn traditionell war es immer die Kirche, die eingriff und die Freilassung von politischen Gefangenen aushandelte, oder Ex-Präsidenten aus dem Ausland. Ich versuchte es, und es hat funktioniert. Was eigentlich nur beweist, wie schwach das Regime ist. Im Grunde ist das der heutige Stand. Viele Künstler werden ins Exil gedrängt. Im vergangenen Jahr verließen fast 200.000 Kubaner das Land, und natürlich sind auch Künstler darunter.
Die exilkubanische Community in den USA boykottiert teilweise kubanische Künstler, die in offiziellen kubanischen Institutionen auftreten oder dort arbeiten – was halten Sie davon?
– Ich respektiere den Politisierungsprozess jedes einzelnen Menschen. Auch ich bin nicht eines Tages aufgewacht und war plötzlich Dissidentin. Ich spürte zwar, wie ich zensiert wurde, aber rechtfertigte es sogar, als läge die Schuld bei mir. Ich durchlief einen langen Prozess, bis ich zu dem wurde, was ich bin. Ich denke, niemand hat das Recht, aus seiner Position über andere zu urteilen. Vielmehr sollte man versuchen, die momentane Lage zu verstehen und den Künstlern in Kuba helfen, Dinge anders zu sehen oder frei sprechen zu lernen. Denn oftmals werden wir unterdrückt und merken es nicht einmal, weil wir in diese Situation hineingeboren wurden. Die Unterdrückung ist naturalisiert.
Auf der Documenta präsentieren Sie Künstler, die alle auf irgendeine Weise vom kubanischen Staat zensiert, stigmatisiert oder kriminalisiert wurden. Sie versuchen, eine Gegenerzählung zu zeigen. Welche Aspekte sind Ihnen besonders wichtig?
– Mir ist es sehr wichtig, die Komplexität und das Ausmaß zu zeigen, wie unabhängiges Denken in alle intellektuellen Bereiche Kubas vorgedrungen ist – von Akademikern zu Musikern, Schriftstellern, Künstlern, Theaterleuten und so weiter. Anders als die Regierung behauptet, handelt es sich nicht nur um drei oder vier Leute, es sind Hunderte, es ist eine Bewegung. Das zeigen auch die vielen öffentlichen Veranstaltungen, die wir hier organisieren. Eine andere Sache, die ich hierherbringen wollte: Bitte beurteilt ein Land nicht nach zehn Männern und Mojitos am Strand. Deshalb verändern wir die Ausstellung alle zehn Tage – in gewisser Weise ist es eine Metapher dafür, dass niemand das ganze Kuba begreifen kann. Auch das Gefühl "ich verpasse etwas" ist wichtig. Oft geht Kunst belehrend oder paternalistisch mit dem Publikum um. Hier ist es anders: Wir wollen, dass die Menschen merken, dass sie etwas verpassen – weil es nicht mehr existiert, wie die Freiheit in Kuba, oder weil sie nicht die Möglichkeit hatten, alles zu verstehen.
Und haben Sie den Eindruck, dass das sozial und politisch weich gebettete deutsche Publikum Sie versteht?
– Ich glaube, Deutschland ist einer der besten Orte, diese Werke zu zeigen, weil es hier die DDR gab. Die kubanische Geheimpolizei wurde schließlich vom KGB und der Stasi trainiert, also gibt es vielleicht ein paar Ähnlichkeiten. Natürlich kommen die Menschen in erster Linie, um Kunst zu sehen – und die Kunst, die wir zeigen, ist gut. Das ist wichtig, denn manchmal rechtfertigt die kubanische Regierung Zensur mit Qualitätsgründen. Die Existenz politischer Künstler oder politischer Gefangener zu negieren, ist in meinen Augen das Schlaueste, was die kubanische Regierung je getan hat. Sie finden immer Vorwände. Zum Beispiel wird man als politischer Gefangener offiziell nicht für sein politisches Denken verurteilt, sondern für was weiß ich was – du hast etwas auf die Straße geworfen oder jemanden geschlagen. Es werden Dinge erfunden oder übertrieben, um vermeintlich nicht politisch urteilen zu müssen. Dasselbe geschieht mit der Kunst. Wenn du ein politischer Künstler bist, wirst du nicht wegen des Inhalts zensiert, sondern es wird schlicht gesagt: "Das ist keine gute Kunst." Sie versuchen, dich zu marginalisieren und all deiner Möglichkeiten zu berauben. Es kann sein, dass ein Kurator kommt, um dich zu sehen, und sie zeigen ihm andere Künstler. All das schreckt natürlich andere ab, politische Kunst zu machen. Man sagt ihnen, dass sie hungrig auf der Straße enden werden. Aber diese Documenta beweist das Gegenteil.
Inwiefern hat die öffentliche Debatte um antisemitische Bilder auf der Documenta Ihre Ausstellungsarbeit überschattet?
– Hier in unserem Ausstellungsbereich hatten wir kein Bild, das als antisemitisch angesehen wurde. Ich denke, jeder Künstler hier hat seine lokalen Probleme nach Deutschland mitgebracht. Und es fühlt sich fast so an, als habe auch Deutschland sein eigenes Problem eingebracht, nämlich Antisemitismus und der Umgang mit der Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen und so weiter. Ich bin sehr an Kontroversen interessiert, habe also keine Angst vor ihnen. Wir sind alle Intellektuelle, also sollten wir uns an einen Tisch setzen können und friedlich miteinander streiten. Dies hier nicht zu erleben, hat mich wirklich traurig gemacht. Es macht mir auch Angst, dass wir Debattenräume schließen, in der Welt, nicht nur in Kuba.
Was nehmen Sie von der Documenta hauptsächlich mit? Ist etwas dabei, das Ihnen Hoffnung gibt, dass sich in Kuba irgendetwas verbessert?
– In Kuba: nein [lacht]. Aber in der Welt: ja. Ruangrupa [das indonesische Künstlerkollektiv, das die künstlerische Leitung der Documenta 15 innehatte, Anm. d. Red.] hat eine sehr eigene Art zu kuratieren. Ich habe diese Erfahrung in zwanzig Jahren zum ersten Mal gemacht. Alle lokalen Mitglieder haben sich über zwei Jahre hinweg über Whatsapp ausgetauscht, diskutiert und Ideen entwickelt. Es lief alles auf sehr schöne, natürliche und großzügige Weise. Es war wirklich etwas Besonderes. Ich habe eine Menge darüber gelernt, anderen Raum zu geben. Und sicher werden sich Dinge in der Kunstwelt verändern, denn hier gab es keinerlei kommerziellen Einfluss. Bei anderen großen Projekten erkennt man die Hand des Marktes. Hier aber hatte jeder Künstler dasselbe Budget zur Verfügung. Manche entschieden, die Hälfte davon im eigenen Land zu nutzen, was in Kuba leider nicht möglich war. Bei einer meiner Vernehmungen wurde gar behauptet, das Geld von der Documenta sei von der CIA. Ich antwortete dem Vernehmer: "Oh, bitte, können Sie das im Fernsehen wiederholen?" Was aber noch schöner ist, wenn ein Verständnis dafür entsteht, dass es kein Event ist, wenn man sozial relevante Kunst macht, sondern eine Lebensentscheidung. Und so hoffe ich, dass unsere Zusammenarbeit über die Documenta hinausgehen wird.
Das Interview führte Johannes Piepenbrink auf Englisch am 17. August 2022 in Kassel.
INSTAR
INSTAR ist ein Akronym, aber auch ein Verb (span. incitar, Anm. d. Red.), das "ermutigen", "anstiften" oder "aufstacheln" bedeutet. Die Gruppe arbeitet an der Schnittstelle von künstlerischer Praxis und Aktivismus. Ihr größtes Anliegen ist die Förderung staatsbürgerlicher Bildung und sozialer Gerechtigkeit. Durch kollektive Arbeit entsteht ein institutionelles Modell zum Kampf für Meinungsfreiheit, Einhaltung der Menschenrechte, gerechte Löhne und Arbeitszeiten, bessere Arbeitsbedingungen für Alleinerziehende und gegen Diskriminierung.
Quelle: documenta.de