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Erschöpfte Revolution | Kuba | bpb.de

Kuba Editorial Erschöpfte Revolution. Kuba 60 Jahre nach der Raketenkrise - Essay "Gute Kunst zwingt die Mächtigen, zu reagieren" – Ein Gespräch über Kunst und Aktivismus in Kuba Kleine Geschichte des Widerstands in Kuba Kubanischer Sozialismus. Oder: Revolution als Wille und Vorstellung - Essay Von Kuba zur Ukraine. Zwei Nuklearkrisen im Vergleich Die Kuba-Krise 1962. Vorgeschichte und Verlauf Kalter Krieg um den Platz an der Sonne. Kuba und der deutsch-deutsche Systemwettstreit Karte

Erschöpfte Revolution Kuba 60 Jahre nach der Raketenkrise - Essay

Bert Hoffmann

/ 17 Minuten zu lesen

Die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine sind auch für Kuba große Belastungen. Wirtschaftliche Probleme und zunehmende Ungleichheit sorgen für Unzufriedenheit. Zugleich könnte das Land erneut zur Projektionsfläche geopolitischer Machtkämpfe werden.

Eine Autostunde westlich von Havanna, an einem verlassenen Fleckchen Erde, wo Dornengestrüpp den trockenen Weg überwuchert, war vor 60 Jahren das Zentrum der Weltpolitik: Hier standen die mit Atomsprengköpfen bestückten sowjetischen Raketen, die damals die Welt in Atem hielten. Von den Abschussrampen ist nur noch ein Betonfundament geblieben. Ausgemergelte Kühe suchen Verwertbares in der dürren Vegetation. Zehn Gehminuten entfernt liegen zwischen niedrigen Bäumen Dutzende zersprengter Betonbögen, die einst das Silo für den Treibstoff der Raketen bildeten.

(© Bert Hoffmann)

Der alte Bauer José Testón lebt hier seit 20 Jahren. Aus zwei dieser wuchtigen Betonteile hat er ein Gehege für seine vier Schweine gebaut. Er weiß um die historische Bedeutung des Orts. Drängender aber ist für ihn die Situation seiner Mangobäume. Sie sind sein Schatz – eigentlich. Doch bei der letzten Ernte sind ihm die reifen Früchte auf dem Hof verfault. Nie hat er die Plastikkisten geliefert bekommen, in die er sie hätte stapeln sollen, und nie sind die Laster gekommen, die sie zum Markt hätten bringen sollen. Fehlender Treibstoff, fehlende Ersatzteile, fehlende Koordination. Die Planwirtschaft funktioniert nicht mehr, und die Marktwirtschaft noch nicht. Der alte Testón nimmt es hin wie Hurrikans und Dürren – Schicksal. Etliche Säcke hat er per Pferd in den Ort zum Verkauf gebracht. Auf seinem Stück Land baut er Knollengewächse und etwas Gemüse zur Selbstversorgung an. Er braucht nicht viel.

Aber Kuba braucht mehr, bräuchte auch seine Mangos, bräuchte viel mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse auf den Märkten. Denn die Versorgungslage ist prekär geworden. Die staatlichen Läden sind leer, und auf den Märkten sind die Preise für viele unerschwinglich geworden. Stromsperren sind wieder Teil des Alltags, weil Öl fehlt, weil die altersschwachen Kraftwerke kaputt gehen und weil nie nennenswert in Sonnen- und Windenergie investiert wurde. Die Gesellschaft ist erschöpft, die Stimmung auf einem Tiefpunkt. Mehr als 100.000 Kubaner und Kubanerinnen haben die Insel im vergangenen Jahr verlassen.

In der Nach-Castro-Ära

Über fast fünf Jahrzehnte hinweg war die Kubanische Revolution untrennbar mit Fidel Castro verbunden, ihrem charismatischen Führer, der die Karibikinsel 90 Meilen vor den Küsten der USA 1959 auf die große Bühne der Weltgeschichte katapultiert hatte. Das Bündnis mit der Sowjetunion brachte im Kalten Krieg Kuba nicht nur Raketen auf die Insel, sondern für die unteren Gesellschaftsschichten auch einen nie gekannten sozialen Aufstieg. Viele aus den alten Ober- und Mittelschichten verließen das Land. Aber die Zuckerrohrschnitter auf dem Land bekamen feste Löhne, Zugang zu Ärzten und Schulen, und ihre Söhne und Töchter konnten Lehrerinnen oder Ingenieure werden. Niemand wurde reich, aber auch niemand war mehr bitterarm. Dank großzügiger Subventionen aus Moskau versorgte Kubas sozialistischer Staat seine Bürgerinnen und Bürger mit dem Nötigen. Gesundheits- wie auch Bildungssystem wurden zu international gerühmten Errungenschaften. Ein bescheidener Wohlfahrtsstaat in den Tropen.

Dies alles ist lange her. Es ist nicht mehr eine, sondern es sind schon zwei Generationen, die diese "guten alten Zeiten" nur noch vom Hörensagen kennen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre, als dem Land über Nacht 85 Prozent seines Außenhandels wegbrachen, stürzte Kuba tief in die Krise. Erst nun traf das schon kurz nach der Revolution verhängte Wirtschaftsembargo der USA das Land mit voller Wucht.

Ohne die Verbündeten in Übersee sahen viele schon das Ende auch des kubanischen Sozialismus gekommen. Doch in Havanna schaltete man um auf Kriegswirtschaft: Alles wurde rationiert, die Lichter gingen aus, und "Fidel" schwor die Bevölkerung auf Durchhalteparolen ein. Heute fühlen sich viele an diese Zeiten erinnert – nur ohne Fidel und mit einer desillusionierten Gesellschaft, in der längst große soziale Unterschiede entstanden sind. Damals sank der Lebensstandard für alle; heute hat ein Teil regelmäßige US-Dollar-Einkünfte, während diejenigen mit Peso-Gehältern nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.

In der Not der 1990er Jahre hatte auch Castro Zugeständnisse machen müssen: Agrarmärkte einführen, kleine Selbstständige zulassen, internationalen Tourismus ins Land holen, Kapitalisten zu Joint Ventures einladen, gar Devisenshops eröffnen und den US-Dollar legalisieren, um die Geldsendungen der einst als "Würmer" verschrienen Emigranten aus den USA ins Land zu locken. Doch als 1999 mit Hugo Chávez ein Verehrer Fidels im ölreichen Venezuela an die Macht kam, war erneut ein Verbündeter gefunden, der die Insel großzügig unterstützte. Die ungeliebte Reform der eigenen Wirtschaft schien da nicht mehr nötig.

Erst als Castro 2006 schwer erkrankte und die Amtsgeschäfte an seinen Bruder Raúl – jahrzehntelang Armeeminister und zweiter Mann im Staate – übergab, hob dieser eine schrittweise Reform hin zu mehr Markt im Sozialismus auf die politische Agenda. Sein Versprechen war, knapp gesagt: weniger Blick auf die Weltgeschichte, mehr Pragmatismus für den kubanischen Alltag, weniger große Reden, dafür mehr Essen auf dem Küchentisch. So charismatisch wie Fidel lange Zeit gewesen war – auch sein Charisma war keine unendliche Ressource. Am Ende gingen auch bei ihm die Leute nicht mehr zur Kundgebung, um sich am Feuer seiner Rhetorik zu wärmen, sondern weil sie in ihrem Betrieb oder der Parteigruppe nicht negativ auffallen wollten. Deshalb weckte Raúls Zugang Hoffnungen bei vielen. Es gab Veränderungen: mehr Freiräume für Selbstständige, private Restaurants und Bed and Breakfasts, eine Migrationsreform, die den Kubanern und Kubanerinnen weitgehende Reisefreiheit gab und einen emsigen Kleinstimporthandel in Gang setzte, und auch mehr Zugang zu Mobiltelefonen und Internet, als lange denkbar schien.

Letztlich aber gelang es Raúl Castro nie, sein Versprechen von "mehr Essen auf dem Tisch" zu erfüllen. Immer wieder folgten auf zwei Reformschritte nach vorn einer oder zwei zurück. Die Konservativen im Apparat drängten mehr auf Eindämmung denn auf Entwicklung des privaten Sektors. Rechtssicherheit für die neuen Wirtschaftssubjekte lag den regierenden Revolutionären immer fern. Nie konnte sich eine kohärente Reformdynamik entwickeln. Besonders bitter: Auch die Nahrungsmittelproduktion stagnierte.

(© Bert Hoffmann)

Doch dann schien ein Wendepunkt erreicht. Als im Dezember 2014 Raúl Castro und US-Präsident Barack Obama in einem Überraschungs-Coup die Annäherung der beiden verfeindeten Länder auf den Weg brachten, schien Kuba endlich eine neue Perspektive zu erhalten: Raus aus der Logik des Kalten Krieges, eine Reform von innen heraus, ohne Unterwerfung unter den Nachbarn im Norden, wirtschaftliche Entwicklung, ohne das gewachsene soziale Gefüge komplett zu zerreißen. Obama kam zum spektakulären Staatsbesuch auf die Insel, und zum Umsonst-und-Draußen-Konzert der Rolling Stones 2016 strömten eine halbe Million Kubaner. Die neue Ära schien zum Greifen nahe.

Der Honeymoon zwischen Washington und Havanna währte jedoch nur kurz. Fidel, eigentlich schon auf dem Altenteil, teilte Querschläge gegen seinen Bruder aus, die Hardliner traten auf die Reformbremse. Und in Washington folgte 2016 der Wahlsieg Donald Trumps. Statt Entspannungspolitik gab es nun wieder giftige Kalte-Kriegs-Rhetorik und eine Verschärfung der US-Sanktionen, die die Wirtschaft der Insel weiter strangulierte.

Der kubanischen Führung ist es gelungen, die lange Herrschaft Fidel Castros bruchlos in ein viel bürokratischeres Regime unter Raúl Castro zu überführen. In der Folge vollzog sich 2018 ein weiterer, fast geräuschloser Übergang zu Miguel Díaz-Canel, einem blassen technokratischen Parteikader der nächsten Generation, der heute kubanischer Staatspräsident ist. Oberste Priorität war immer, keine Risse innerhalb der Elite zuzulassen. Dies war aber nur um den Preis einer abgewürgten Wirtschaftsreform und einer Absage an eine gesellschaftliche Öffnung zu erreichen. Beides aber wäre erforderlich gewesen, um in der Bevölkerung Unterstützung zu gewinnen. Doch nicht "Change we can believe in" wurde versprochen, sondern maximale Kontinuität beschworen. Im Ergebnis ging der Einstieg in die Post-Castro-Ära so zwar einher mit dem Erhalt des politischen Status quo von Sozialismus und Einparteienherrschaft, aber auch mit einer fortschreitenden Entfremdung von der Bevölkerung und einem spürbaren Verlust an Legitimation.

Corona auf Kuba

Die Corona-Pandemie hat die Situation in Kuba auf dramatische Weise verschärft. Wie in allen tourismusabhängigen Staaten der Karibik brach der Hauptwirtschaftszweig über Nacht weg. Auch die zweite zentrale Devisenquelle, die Rücküberweisungen der in die USA emigrierten Kubaner, brach ein. Die strengeren US-Sanktionen hatten die offiziellen Wege des Geldtransfers dichtgemacht, über 400 Western-Union-Büros auf der Insel mussten schließen. In der Folge waren die kubano-amerikanischen Familien auf Personen angewiesen, deren Geschäft es war, zwischen Miami und Havanna hin und her zu reisen und Geld, Handys und andere Waren mitzunehmen. Doch mit dem eingestellten Flugverkehr war dieser Weg versperrt. In Kuba taten der harte Lockdown und die Ausgangssperren ihr Übriges, um weite Teile der heimischen Produktion zum Erliegen zu bringen.

Mit Covid-19 aber schlug auch die Stunde der großen Bio-Tech-Zentren, die im Westen Havannas liegen und die einzige wirklich moderne Industrie des Landes bilden. Mit enormem Aufwand seit den 1980er Jahren auf Initiative Fidel Castros aufgebaut, waren sie zwar von teuren Technologieimporten abhängig, aber mit ihnen konnte Kuba seine große Investition in Bildung und Gesundheit ökonomisch in Wert setzen. Kubanischen Forschern gelangen bemerkenswerte Erfolge in der Entwicklung von Medikamenten und Vakzinen. Ein großer Teil der im Land verbrauchten Pharmaprodukte werden hier hergestellt, und es konnten substanzielle Exporte erreicht werden – wenn auch fast nur in Länder des Globalen Südens, denn die Anerkennungs- und Zulassungsverfahren für die EU oder die USA sind dermaßen komplex und vermachtet, dass sie für eine Produktion wie die kubanische praktisch unüberwindbar sind.

In der Pandemie nun traf die Staatsführung die riskante Entscheidung, keine russischen oder chinesischen oder sonstigen Vakzine zu importieren, sondern allein auf die Entwicklung eigener Impfstoffe zu vertrauen. Und das, was milliardenschwere westliche Pharmakonzerne – Hoechst, Bayer, Schering, LaRoche, Merck und wie sie alle heißen – bis auf wenige Ausnahmen nicht schafften, den kubanischen Forschern gelang es: Sie entwickelten Anti-Covid-Vakzine, die nicht nur in einschlägigen Studien Wirksamkeit zeigten, sondern auch den Praxistest bei der Bewältigung der Pandemie bestanden. Allerdings verzögerte sich die Massenproduktion, und bevor die staatliche Impfkampagne flächendeckend greifen konnte, erreichte die Delta-Variante die Insel – mit verheerenden Folgen. Die Kubaner mussten erleben, wie ihr hochgelobtes Gesundheitssystem von Covid überrannt wurde. Die Versorgung in den Krankenhäusern lief auf Grund. Die Fabrik, die 95 Prozent des medizinischen Sauerstoffs des Landes herstellte, kollabierte und fiel in der kritischsten Zeit aus. Erschwerend kam der hohe Anteil alter Menschen in Kuba hinzu: Mehr als 16 Prozent der kubanischen Bevölkerung sind über 65 Jahre alt, verglichen mit 9 Prozent im lateinamerikanischen Durchschnitt.

Kubas offizielle Zahlen zu Covid-Toten – rund 8500 bis August 2022 – ergeben dabei kein vollständiges Bild. Aussagekräftiger dürften die Daten für die "Übersterblichkeit" sein, also die Zahl an Toten in einer bestimmten Zeitspanne, die über die statistisch zu erwartende "Normalsterblichkeit" hinausgeht. Während der drei Monate der Delta-Welle stieg dieser Wert dramatisch an, auf ein Sechsfaches der offiziell registrierten Covid-Todesfälle. Damit gehört Kuba zu einem der am härtesten getroffenen Länder weltweit.

Als die Impfkampagne dann in der zweiten Jahreshälfte 2021 anlief, war sie vorbildlich – und zeigte die zu Recht gerühmte Seite des kubanischen Gesundheitssystems. Ende des Jahres waren nicht weniger als 85 Prozent der Bevölkerung vollständig mit den einheimischen Vakzinen geimpft. Trotz dieses Erfolgs blieb die Pandemie auf der Insel als gesellschaftliches Trauma zurück. Dies nicht nur wegen der rigiden Lockdown-Maßnahmen und der ökonomischen Nöte, sondern auch wegen der dramatischen Überlastung der Krankenhäuser, in deren Folge fast jede und jeder Todesfälle in Familie, Nachbarschaft oder Betrieb erleben musste.

Krise, Protest und Resignation

Am 11. Juli 2021 entlud sich die während der Covid-Zeit aufgestaute Frustration. Als in einer Kleinstadt unweit von Havanna Hunderte auf die Straße gingen, verbreiteten sich die Bilder davon wie ein Lauffeuer von Handy zu Handy. Auf der ganzen Insel kam es zu spontanen Protesten. Verglichen mit Millionen-Demos andernorts war diese Mobilisierung zahlenmäßig überschaubar; in Kuba aber, wo Demonstrationen gegen die Regierung nicht erlaubt sind, waren es die ersten landesweiten Straßenproteste seit über sechs Jahrzehnten. Entsprechend groß ist die Bedeutung dieses 11. Juli, oder "11 J", wie er auf der Insel abgekürzt wird.

Die Proteste selbst hatte die Staatsmacht innerhalb eines Tages aufgelöst. In Havanna gingen in Zivil gekleidete Sicherheitskräfte mit Knüppeln und Metallstangen gegen Demonstranten vor. In La Güinera, einem Vorort der Hauptstadt, wurde ein Protestierender von Polizeikräften erschossen. Mehr als tausend wurden verhaftet. Obgleich die Proteste weitgehend friedlich geblieben und nur vereinzelt Scheiben zu Bruch gegangen oder Polizeifahrzeuge umgekippt worden waren, verhängten die Gerichte in den anschließenden Prozessen drakonische Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis. Offenkundig ging es nicht um ein angemessenes Strafmaß, sondern um exemplarisch harte Strafen als Abschreckung. Seitdem herrscht Ruhe auf den Straßen. Aber die Wut über die prekäre Wirtschaftslage ist geblieben, und bei vielen auch die Frustration über eine Regierung, die zu keiner politischen Öffnung bereit zu sein scheint.

In dieser Situation ist Auswanderung zum Ventil geworden. In dem Maße, in dem sich das Land wieder dem internationalen Flugverkehr öffnete, setzte eine neue Welle der Massenauswanderung ein. Seitdem Nicaragua Kubaner ab November 2021 visafrei einreisen lässt, ist das Land zum Sprungbrett in die USA geworden. Wie so viele Migranten aus Zentralamerika geht es auf dem Landweg zur mexikanischen Grenze und von dort illegal in die USA. Im Unterschied zu anderen Migranten aber sind Kubaner durch ein US-Gesetz aus der Zeit des Kalten Krieges vor Abschiebung geschützt: Sie können in den USA bleiben und dort nach einer Weile Bleibestatus, Arbeitserlaubnis und schließlich die Staatsbürgerschaft erhalten. Zwischen Oktober 2021 und April 2022 haben rund 115.000 Kubaner allein auf diesem Weg die Insel verlassen. Hinzu kommen Tausende weitere in andere Länder, nach Spanien, Serbien oder wo auch immer sie Flug und Visa bekommen können. Es sind vor allem die jungen Kubaner und Kubanerinnen, die keine Perspektive mehr sehen und das Land verlassen, und die doch für die Zukunft Kubas so dringend auf der Insel gebraucht würden.

Gespaltene Währungswelten

Die Regierung Díaz-Canel hat die von Raúl Castro geerbte wirtschaftspolitische Reformagenda keineswegs begraben, nur stehen zu viele Interessen im Weg, die eine erfolgreiche Umsetzung verhindern. Besonders deutlich wird dies bei der Währungsfrage, die die Gesellschaft tief spaltet. Denn seitdem in der Krise der 1990er Jahre Fidel Castro den US-Dollar als Rettungsanker für die sozialistische Ökonomie legalisieren musste, koexistieren zwei parallele Währungswelten: auf der einen Seite der Peso, in dem der Staat Löhne und Gehälter zahlt, auf der anderen eine Hartwährung, die im Wesentlichen von den Überweisungen der Verwandten im Ausland und dem Tourismus gespeist wird und mit der man in den Devisenshops jene Dinge kaufen kann, die in den Staatsläden Mangelware sind.

Die Form dieser Hartwährung hat sich über die Jahre immer wieder verändert: Ursprünglich waren es schlicht die grünen US-Dollar-Scheine; als diese verbannt wurden, trat an ihre Stelle ein 1:1 zum Dollar fixierter "Konvertibler Peso" (CUC); dieser wurde wiederum Anfang 2021 abgeschafft. Seitdem gibt es die ebenfalls 1:1 zum Dollar gesetzte "Moneda Libremente Convertible" (MLC), die "frei konvertierbare Währung", die nicht in Form von Scheinen, sondern nur als Kartengeld existiert. Geblieben ist aber immer ein krasses Missverhältnis zwischen Peso und Hartwährung. Lange lag dieses bei ungefähr 1:25, sprich 25 Pesos für einen Dollar. Die regulären, in Pesos ausgezahlten Löhne entsprachen damit lediglich 30, 50 oder im Höchstfall 100 Dollar im Monat. Ein Kellner im Touristenhotel konnte an einem Tag also mehr an Trinkgeld einnehmen, als ein Stahlarbeiter im Monat verdiente. So etwas zerreißt eine Gesellschaft.

Abhilfe sollte eine Währungsreform schaffen, die den Peso wieder zur alleinigen Währung im Land macht. Doch zu groß schienen vielen im Apparat die Gefahren von Inflation und dem Druck, unrentable Staatsbetriebe schließen oder Arbeiter entlassen zu müssen. Zuerst, so ihr Argument, müssten bessere Bedingungen geschaffen werden: ein wachsender nicht-staatlicher Sektor in der Wirtschaft, der in der Lage ist, Arbeitskräfte aufzunehmen, und mehr Geld im Staatshaushalt, um soziale Nöte abfedern zu können. Doch diese besseren Zeiten kamen nie. Stattdessen schlitterte der wichtigste Verbündete, Venezuela, immer weiter in seine eigene Krise, sodass die großzügigen Öllieferungen zusammenschrumpften. Als in Brasilien 2019 die linke Regierung durch den extrem rechten Präsidenten Jair Bolsonaro abgelöst wurde, bedeutete dies das Aus für das große Programm entsandter kubanischer Ärzte in dem Land, das Kuba mehr Devisen brachte als alle Einkünfte aus Tabak und Rum zusammen. Dann kam Trump, dann Covid. Als die Regierung in Havanna zum 1. Januar 2021 endlich die so lange angekündigte Währungsreform vollzog, geschah dies unter den denkbar schlechtesten Bedingungen.

Entsprechend waren die Folgen: Wo die Preise nicht künstlich festgezurrt waren, trieb die Inflation sie rasch in die Höhe; wo die Preise staatlich festgelegt waren, gab es kaum noch etwas zu kaufen. Ein absolutes Minimum an Reis, Bohnen, Zucker und anderem Grundbedarf wird weiterhin über Rationierungskarten verteilt. Darüber hinaus aber fehlt dem Staat schlicht das Geld, um Waren zu hoch subventionierten Peso-Preisen zu verkaufen. Der Ausweg war, wie schon in den 1990er Jahren, die Ausweitung separater Devisenshops. Dort bezahlt man in MLC, also mit Bankkarten, die an ein Hartwährungskonto bei einer kubanischen Bank gekoppelt sind. Die hat aber nicht jeder. Wer keine Verwandten im Ausland oder anderweitig Dollareinkünfte hat, etwa als Künstler oder im Tourismus, bleibt außen vor. Natürlich gibt es Ausnahmen: Armeegeneräle und hochrangige Parteikader haben Privilegien, auch verdiente Sportler oder Ärzte im Auslandseinsatz. Aber die allermeisten, die auf Peso-Einkünfte angewiesen sind, sehen sich langen Schlangen und leeren Regalen gegenüber – und auf dem Schwarzmarkt aus dem Ruder laufenden Preisen. Wie hoch die Inflation tatsächlich ist, darüber geben die offiziellen Statistiken wenig Auskunft. Ein verlässlicher Indikator aber ist der Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt. In den 20 Monaten nach der Währungsreform hat sich der Dollar-Kurs dort fast verfünffacht.

Sicher, in Kuba gehen alle Kinder zur Schule, auch wenn die Qualität der Bildung nicht mehr die gleiche ist wie früher; alle haben kostenlosen Zugang zu Ärzten und Krankenhäusern, obwohl der Mangel an Medikamenten inzwischen etliche Behandlungen unmöglich macht; und in Kuba gibt es, im Unterschied zu so vielen Ländern Lateinamerikas, keine No-go-Areas, in denen kriminelle Banden das Sagen haben. Das alles ist nicht wenig. Aber gleichzeitig ist die Verarmung breiter Teile der Gesellschaft nicht mehr zu übersehen. Und die Kluft zwischen den Währungswelten wirkt noch bitterer, weil sich die Versorgungslage in der staatlichen Peso-Wirtschaft seit Beginn der Pandemie so dramatisch verschlechtert hat.

Putins langer Schatten

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat Kubas Sorgen weiter vergrößert. Bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung über die Verurteilung des russischen Angriffs am 2. März 2022 votierte Kuba in einem diplomatischen Drahtseilakt mit Enthaltung. Mit Blick auf die USA ist es für Kuba geradezu zwingend, auf dem Prinzip der unverletzlichen Souveränität von Staaten vor den Türen einer Großmacht zu bestehen. Aber ansonsten folgen Kubas Staatsmedien voll und ganz der Moskauer Erzählung, dass Russland sich nur gegen die Einkesselung durch die Nato und ein faschistisches Regime in der Ukraine verteidige. Letzten Endes gilt hier immer noch: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und wenn Putin gegen die USA steht, dann steht Kuba an seiner Seite.

Ökonomisch sind die negativen Folgen des Krieges für Kuba unmittelbar spürbar. Touristen aus Russland, die sich in den vergangenen Jahren zu einer substanziellen Kundschaft für Kubas All-inclusive-Strandhotels entwickelt hatten, kommen nicht mehr, seit die Flugrouten aus Moskau unter die westlichen Sanktionen fallen. Zudem leidet Kuba, wie so viele andere Länder auch, unter den massiv gestiegenen Kosten für Lebensmittel und Treibstoff, Dünger und Schiffstransporte.

Umso schwerer wiegt das Fehlen einer robusten landwirtschaftlichen Eigenproduktion. So, wie die Mangos des alten José Testón nicht zum Verbraucher kommen, so bringen auch die meisten landwirtschaftlichen Staatsbetriebe nicht annähernd das auf die Märkte, was sie sollten. Galt Kuba einst als die "Zuckerinsel" der Welt, fuhr das Land im vergangenen Jahr sogar beim Zucker einen historischen Negativrekord ein, der kaum mehr als den Eigenbedarf deckt.

Von den USA ist auch nach Trump wenig zu erwarten. Präsident Joe Biden hat die aktive Entspannungspolitik Obamas nicht aufgegriffen, sondern nur an kleineren Stellschrauben vormalige Verschärfungen zurückgedreht. Washingtons Sanktionen verhindern nicht nur Kubas Handel mit seinem natürlichen Markt 90 Meilen nördlich, sondern auch Tourismus aus den USA. Und sie haben Auswirkungen weit über die USA hinaus. Auch deutsche Banken scheuen Transaktionen, die Kuba berühren, aus Sorge vor Repressalien der USA. Zudem haben die Trump-Jahre die exilkubanische Community in den USA radikalisiert. Ihre Wortführer treten aggressiver und unversöhnlicher denn je auf. Ein Beispiel sind die Boykott-Kampagnen gegen alle Künstler, Musiker oder Wissenschaftler, die in offiziellen kubanischen Institutionen auftreten oder arbeiten. Das öffentliche Klima ist von toxischer Intoleranz geprägt. Praktisch jedem in Kuba, der nicht tot oder im Gefängnis ist, droht, von den Kommentatoren in Miami als Handlanger des Regimes gebrandmarkt zu werden.

Angesichts der kritischen Lage bleibt in Kuba die Hoffnung, dass aus der Not heraus Reformen doch mutiger angegangen werden als früher. Kleinere und mittlere private Unternehmen werden nicht mehr nur als ungeliebtes Zugeständnis gesehen, sondern sind legalisiert und gelten offiziell als Bausteine der angestrebten Wirtschaftsordnung. Zudem dürfte sich der pandemiebedingt eingebrochene Tourismus allmählich wieder erholen. Eine andere Hoffnung sind die Impfstoffe gegen Covid, aber auch andere medizinische Erzeugnisse, die im Prinzip in Länder des Globalen Südens exportiert werden können. Eine weitere Hoffnung ist, dass in Lateinamerika nach den Wahlsiegen linker Kandidaten in Chile und Kolumbien – und möglicherweise im Oktober auch in Brasilien – wieder ein günstigeres internationales Klima herrschen könnte, das erneut zu Verträgen über die Entsendung kubanischer Ärzte führen könnte.

Doch wie weit diese Hoffnungen tragen, ist ungewiss. In den Nöten des Alltags haben viele Kubaner die Geduld verloren, auf ihre ungewisse Erfüllung zu warten. Zudem hat die harte Reaktion auf die Straßenproteste 2021 bei vielen die Zuversicht zunichte gemacht, dass ein politischer und sozialer Wandel von innen, wie schrittweise oder begrenzt auch immer, in absehbarer Zeit möglich wäre. Die Regierung hat ihre Macht demonstriert, aber ihr sozialer Rückhalt schwindet. Zur Rückkehr des Kalten Krieges auf der globalen Ebene kommt so auch eine starke Polarisierung im Inneren.

Schon vor der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine hatte Putin Kuba als Bühne genutzt, um Russlands internationale Ambitionen zu untermauern. Moskau erließ Havanna 90 Prozent seiner Schulden und spendierte eine Modernisierung des maroden Eisenbahnsystems. Zum 500. Geburtstag Havannas 2019 schenkte Russland der kubanischen Hauptstadt die Vergoldung der Kuppel des Capitolio mit echtem Blattgold. Damit einher gingen aber auch Statements des russischen Verteidigungsministeriums, man überlege, ehemalige militärische Stützpunkte auf der Insel wiederzubeleben. Noch deutlicher wurde die Machtdemonstration im Sommer 2019, als die russische Kriegsmarine eine ihrer modernsten Fregatten den Hafen von Havanna anlaufen ließ. Und im Januar 2022, kurz vor dem Einmarsch in der Ukraine, erneuerte Putins Außenminister Sergej Lawrow die Aussage, dass er Pläne zur Stationierung russischer Truppen in Kuba nicht ausschließen möchte. 60 Jahre nach der Raketenkrise steht über Kuba so – neben allen Problemen, die die Insel ohnehin plagen – erneut der düstere Schatten, zur Projektionsfläche für den geopolitischen Machtkampf der Großmächte des Kalten Krieges zu werden.

ist Lateinamerika-Experte am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) Hamburg und Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
E-Mail Link: bert.hoffmann@giga-hamburg.de