Bis zur russischen Besetzung der Krim Ende Februar 2014 war die Halbinsel für große Teile der deutschen Öffentlichkeit fast ausschließlich als Tourismusdestination im Bewusstsein präsent. Die Häfen an der spektakulären Südküste gehörten zu den festen Ankerpunkten der Kreuzfahrten durch das Schwarze Meer, über die Geschichte der Krim hingegen bestanden hierzulande bestenfalls vage Vorstellungen. Das ist angesichts der allgemeinen weitgehenden Unkenntnis über die Länder Osteuropas und insbesondere über die Ukraine nicht verwunderlich. Der deutsche Blick in Richtung Osten wurde lange Zeit durch den in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen „Russlandkomplex“ geprägt,
Eine der prominentesten Exponentinnen dieser Denkweise bleibt Gabriele Krone-Schmalz, die ihr symbolisches Kapital als Russlandexpertin bis heute aus ihrer Position als ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau bezieht und 2014 die Annexion der Krim als Notwehrakt Russlands gegenüber dem Westen rechtfertigte.
Dass Krone-Schmalz mit ihren Aussagen zur „Krim-Krise“ auf so große Resonanz stieß, hing nicht allein mit dem Fortwirken des „Russlandkomplexes“ zusammen; dass die „großen Mächte“ sich untereinander über die Territorien anderer Länder verständigen, erscheint vielen immer noch dem natürlichen Lauf der Dinge zu entsprechen. Es zeugt darüber hinaus sowohl von der allgemeinen Unkenntnis von der Geschichte dieser Halbinsel wie von einem spezifischen Unwissen, was die mit den Deutschen verbundenen Aspekte dieser Vergangenheit betrifft. Bezeichnenderweise erinnert man sich vor allem an zwei Ereignisse, die beide – wenngleich in unterschiedlichem Maße – mythologisiert wurden: den Besuch von Willy Brandt als Bundeskanzler bei Leonid Breschnew in dessen Sommerresidenz Oreanda im September 1971 und den Flugzeugabsturz von Joseph Beuys im Norden der Halbinsel im März 1944.
Brandt und Beuys
Von Brandts zweitägigem Besuch sind ikonische Fotografien überliefert, die ihn unter anderem lässig mit Sonnenbrille neben Breschnew in einem Schnellboot sitzend bei einem Ausflug entlang der Küste zeigen. Ein Jahr nach Unterzeichnung der Moskauer Verträge lag dem sowjetischen Staats- und Parteichef viel daran, dem westdeutschen Gast eine möglichst angenehme Gesprächsatmosphäre zu vermitteln, um die Entspannungspolitik voranzutreiben. Schon direkt auf dem Flughafen in Simferopol, so Brandt einige Jahre später in seinen Memoiren, habe man die Delegation zu einem „kleinen Imbiss in einer Art von VIP-Gebäude“ geleitet. Dieser entpuppte sich als mehrstündiges Gelage mit „aufgelockerter Unterhaltung“ und reichlich Alkohol. „Es mag sein, dass auch die Trinkfestigkeit der Gäste erprobt werden sollte. Wenn ja, habe ich den Test gut bestanden.“ Kaum Beachtung in späteren Darstellungen fand hingegen Brandts kurze Bemerkung über einen regionalen Parteifunktionär, früher Arzt in der Roten Armee, der sich unter den Anwesenden befunden und bemerkenswert „vorurteilsfrei“ über das Kriegsgeschehen auf der Krim gesprochen habe, vor allem über die letzten Kämpfe mit der Wehrmacht 1944.
Dies hätte ein Ansatzpunkt sein können, in Rückblicken auf die einschneidenden Aspekte der historischen Verbindungen der Deutschen zur Krim einzugehen – die Besatzung der Halbinsel im Zweiten Weltkrieg und die damals verübten Massenverbrechen. Doch wurden sie durch die Aufregung über Brandts Badehosen-Diplomatie überdeckt. (Der Kanzler hatte mit dem Kremlchef sogar gemeinsam im Meer gebadet; Erich Honecker wurde fünf Jahre später von Breschnew in Oreanda weit kühler empfangen und blieb nur wenige Stunden.)
Noch irritierender ist das Desinteresse am Kriegsgeschehen im Fall des Flugzeugabsturzes von Joseph Beuys – schließlich war dies das überwölbende Setting, in dem er sein künstlerisches Erweckungserlebnis verortete. Während der Rückzugskämpfe im März 1944, so erzählte Beuys wiederholt, sei er mit seinem Flugzeug abgeschossen worden, nomadisierende Tataren hätten ihn aus dem eingeschneiten Wrack befreit, in ihr Zelt getragen, mit Fett eingerieben und in Filz eingewickelt, um seine Auskühlung zu behandeln, und ihm dann Honig eingeflößt, um ihn zu Kräften kommen zu lassen. Das passte als mythologisierte Erzählung in das anthroposophische Kunstkonzept von Beuys, hatte mit der Realität aber wenig gemein.
Was als harmloser Privatmythos eines Künstlers erscheint, reiht sich in die zahllosen Erzählungen deutscher Kriegsteilnehmer ein, in denen das eigene Leid überhöht, das der Menschen in den überfallenen Ländern hingegen ausgeblendet wird. Dabei gab es im Fall der Krim einen Mythos, der schon zu Beuys’ Lebzeiten eine kritische Aufarbeitung verdient hätte, da die NS-Besatzer aus ihm heraus monströse Pläne für die Halbinsel entwickelt hatten: die Gründung eines „Gotengaus“ als Vorposten deutschen Lebensraumes.
Ostimperiale Ambitionen im Ersten Weltkrieg
Ideen für eine dauerhafte deutsche Vereinnahmung der Halbinsel gab es bereits in der Endphase des Ersten Weltkrieges, als die 52. Armee des deutschen Ostheeres im April 1918 die Krim besetzt hatte. Das widersprach den Bestimmungen des erst wenige Wochen zuvor zwischen Deutschland und Sowjetrussland geschlossenen Friedensvertrages von Brest-Litowsk – und war auch nicht mit der Reichsregierung in Berlin abgestimmt. Nachdem schon die neu entstandene Ukrainische Volksrepublik noch während der Friedensverhandlungen mit Moskau durch den Vormarsch deutscher Truppen de facto zu einem Protektorat des Reiches geworden war, wollte die Regierung den endgültigen imperial overstretch durch die Besetzung der Krim vermeiden.
Die Krim gehörte damals noch zu Russland, und im Auswärtigen Amt hielt man es für ratsam, sich vorerst nicht auf den zukünftigen Status der Halbinsel festzulegen. Zu viel war seinerzeit noch im Fluss. Außenamtschef Richard von Kühlmann meinte im Mai 1918, bei dem „gänzlich unkonsolidierten Charakter der Ukraine und der Unübersichtlichkeit ihrer künftigen Entwicklung“ solle Deutschland „keinen Finger rühren“, um den Anschluss der Krim an den neuen Staat zu fördern. Andererseits liege es nicht im deutschen Interesse, wenn die Halbinsel „großrussisch“ bliebe und die Sowjetregierung den ukrainischen Staat von dort aus in die Zange nehmen könne. Schließlich lehnte er aber auch den Gedanken ab, die Krim dem Osmanischen Reich als Ausgleich für dessen Verluste im Zweistromland und Palästina zu überlassen – das könne dazu führen, dass die Türkei mit dem ukrainischen Verbündeten in Konflikt gerate und sich mit dem britischen Gegner verständige.
Angesichts der Unentschlossenheit der zivilen Reichsführung hatte Erich Ludendorff, stellvertretender Chef der Obersten Heeresleitung und de facto Militärmachthaber, leichtes Spiel, bestehende Vorstellungen eines deutschen Ostimperiums auf die Krim auszuweiten. Er nutzte aus, dass sich dort im Kleinen wiederholte, was in der gesamten Peripherie des zerfallenden russländischen Imperiums zu beobachten war: ein sich über mehrere Jahre hinziehender, meist gewaltsamer Prozess der Emanzipation vom Moskauer Zentrum und des Versuchs, nach Jahrzehnten der Russifizierung und Kolonisierung zu einer nationalen Selbstbestimmung zu gelangen. Auf der Krim hatten die Tataren – wie die Ukrainer in Kyjiw –, als Reaktion auf den bolschewistischen Putsch in Petrograd vom 6. November 1917 ihre Forderungen nach Autonomie innerhalb Russlands zu der nach Unabhängigkeit von Russland ausgeweitet. Die neu gebildete tatarische Regierung der Krimrepublik stützte sich auf zwei aus dem Krieg zurückgekehrte tatarische Kavallerieregimenter, mit denen sie im Januar 1918 gegen die bestehenden Exekutivkomitees der Arbeiter-, Bauern- und Matrosenräte vorging. Die Bolschewiki antworteten darauf mit einem Generalstreik und einem Gegenputsch, in dessen Verlauf sie die tatarischen Regierungstruppen zerschlugen, führende tatarische Politiker ermordeten und wenige Wochen später die „Taurische Sozialistische Sowjetrepublik“ ausriefen.
Ludendorff nahm diesen Konflikt zum Anlass, die Krim von deutschen Einheiten besetzen zu lassen. Als ihn der Reichskanzler Georg von Hertling wenige Wochen später fragte, welche Absichten die Heeresleitung dort eigentlich verfolge, antwortete er, der Einmarsch sei auf Bitten der dortigen Tataren erfolgt; diese hätten um Schutz vor den Bolschewiki ersucht. Wie schon im Fall der Besetzung des Baltikums stellte Ludendorff das von ihm veranlasste militärische Vorgehen also als eine Art antibolschewistische Polizeiaktion dar, mit der er Tatsachen schuf, denen der Reichskanzler hilflos gegenüberstand. Dieses Ausmanövrieren der zivilen Institutionen entsprach einem Vorgehen, das er seit 1915 in „Ober Ost“ eingeübt hatte. Diesen Quasi-Militärstaat hatte Ludendorff als Stabschef des Oberkommandos Ost aus den deutsch besetzten Gebieten unter Militärverwaltung zwischen Kurland und dem nördlichen Belarus gebildet, wo er weitgehend unbehelligt von den zivilen Stellen in Berlin agierte.
Der deutsche Befehlshaber in Krim und Taurien, Robert von Kosch, beauftragte die tatarische Kurultai (Volksversammlung) Anfang Mai 1918 mit der Bildung einer neuen Regierung. Der designierte Premierminister Dschafer Sejdamet war ihm jedoch zu sehr auf eine tatsächlich eigenständige Politik bedacht und wurde daher sogleich in Arrest gesetzt. Eine den Deutschen genehme multiethnische Regierung nahm erst rund zwei Monate nach dem deutschen Einmarsch im Juni 1918 ihre Geschäfte auf, geleitet von Maciej Sulkiewicz, einem Sohn litauischer Tataren und früheren Offizier der zarischen Armee. Neben Tataren gehörten der Regierung Russen, Ukrainer sowie ein Armenier und der Krimdeutsche Thomas Rapp als Minister für Landwirtschaft an.
Parallel dazu hatte Ludendorff sich bemüht, ein weiter ausgreifendes Projekt voranzutreiben: Aus der Krimrepublik und dem nördlich davon gelegenen ukrainischen Gouvernement Taurien sollte ein bis zum Dnipro reichender tatarisch-deutscher Kolonialstaat geformt werden. Anfang Mai 1918 trafen sich im Dorf Byten rund 400 Schwarzmeerdeutsche – nicht nur von der Krim, sondern auch aus Städten wie Odessa, Melitopol, Cherson und Berdjansk – sowie zwei tatarische Delegierte, um über dieses Vorhaben zu beraten. Bezeichnenderweise stellte Friedrich von Lindequist das Projekt vor, der von 1905 bis 1907 als Generalgouverneur in Deutsch-Südwestafrika und nach 1910 als Staatssekretär des Reichskolonialamts amtiert hatte. Ihm zur Seite stand Immanuel Winkler, ein in Bessarabien (heute Republik Moldau) geborener Pfarrer und seit 1917 Delegierter des Allrussländischen Verbandes der russischen Deutschen.
Für Ludendorff klangen derlei Vorstellungen sinnvoll. Er hatte schon für den Militärstaat Ober Ost für die Zeit nach dem Krieg großangelegte Umsiedlungsaktionen angedacht, um den vermeintlichen ethnischen Flickenteppich in den zu annektierenden Gebieten zu ordnen und damit gegenüber Russland zu sichern. Kurzfristig galt es ihm angesichts des fortgesetzten Krieges an der Westfront, die „Vorräte und Ausfuhrhäfen der Krim“ für Deutschland „nutzbar zu machen“ sowie Soldaten aus den Reihen der Russlanddeutschen zu gewinnen. Mittelfristig sollte durch die Ansiedlung der im Osten verbleibenden Russlanddeutschen auf der Krim und in Taurien „ein Staatengebilde entstehen, in dem der deutsche Einfluss vorherrscht und den deutschen wirtschaftlichen Interessen am Schwarzen Meer die erforderliche Sicherheit bietet“.
Um diese Konzeption zu realisieren, drängte er im Sommer 1918 auf die rasche Anerkennung der Krimrepublik und der Regierung Sulkiewicz. Doch Berlin lehnte dies mit Blick auf die gerade wieder aufgenommenen Verhandlungen mit der sowjetischen Führung ab. Gegenüber Moskau hatte man sich verpflichtet, nicht-ukrainische Gebiete nach einem erneuten Friedensschluss zu räumen, und auch die ukrainische Regierung, die nun selbst Ansprüche auf die Krim anmeldete, wollte man nicht verprellen. Ohne Absprache mit dem Auswärtigen Amt schickte Ludendorff daraufhin Finanzminister Tatischtschew im August 1918 nach Berlin, doch dort wollte ihn niemand offiziell empfangen. Der deutsche Außenminister empfahl ihm inoffiziell, die Krimregierung solle den Gedanken der Unabhängigkeit aufgeben und sich Kyjiw annähern.
Besatzung und Massenmord im Zweiten Weltkrieg
Die von der zivilen Reichsleitung von Beginn an als illusorisch angesehen Planungen Ludendorffs erledigten sich mit dem Abzug der deutschen Truppen von der Krim und aus der Ukraine im November 1918. Eine Reihe von Elementen daraus griffen jedoch später die Nationalsozialisten in ihren Planungen für die Verwaltung der besetzten – oder noch zu besetzenden – sowjetischen Gebiete wieder auf. Mit Blick auf die Halbinsel im Schwarzen Meer äußerte Hitler im kleinen Kreis am 16. Juli 1941, diese müsse „von allen Fremden geräumt und deutsch besiedelt werden“. Als referiere er Ludendorffs Krim-Taurien-Fantasie, erklärte der Diktator, die Krim solle „mit einem erheblichen Hinterland (Gebiet nördlich der Krim) Reichsgebiet werden; das Hinterland müsse möglichst groß sein“.
Während Ludendorffs Planungen in der Endphase des Ersten Weltkrieges noch weitgehend utilitaristisch angelegt waren – die Krim war in seinen Augen vorrangig aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen von Interesse –, spielten für die Nationalsozialisten spezifisch völkische Motive eine Rolle. In der Geschichte jener Gruppe der Goten, die sich in der Spätantike auf der Halbinsel angesiedelt hatte (deren Spuren sich dort aber im Frühmittelalter verloren), sahen sie einen historischen Legitimationsansatz für ihre Siedlungsfantasien. Schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion entwickelte sich eine Goten-Manie,
Derweil entwickelte der designierte Generalkommissar Krim-Taurien, Alfred Frauenfeld, ausgreifende Umsiedlungspläne für seinen vorgesehenen Herrschaftsbereich. Der Schriftsteller und „alte Kämpfer“ hatte nach 1930 als NSDAP-Gauleiter in Wien amtiert, war seit 1936 im Auswärtigen Amt tätig und wurde vermutlich von Hitler selbst für diesen Posten ausgewählt. Für den „Aufbaustab Krim“ hatte Frauenfeld ein zunächst „nur für den Dienstgebrauch“ bestimmtes Handbuch verfasst, in dem er statistische Daten, pseudohistorische Deutungsmuster und die zukünftige Gliederung des Generalbezirks zusammenfasste.
Das Scheitern des „Blitzkrieges“ und die sich spätestens Anfang 1943 abzeichnende Niederlage der Deutschen verhinderten jedoch, dass die Umsiedlungspläne realisiert wurden. Die Krim blieb die ganze Zeit der Besatzung über unter Militärverwaltung; Frauenfeld konnte als Generalkommissar seine Herrschaft nur über das nördlich des Asowschen Meeres gelegenen Taurien ausüben. Als die Wehrmacht 1942 ihre Sommeroffensive in Richtung Stalingrad begann, dauerten die Kämpfe auf der Halbinsel noch an. Zur Jahreswende 1941/42 hatte die Rote Armee im Osten der Krim Kertsch zurückerobert, in Sewastopol wehrten die sowjetischen Soldaten die deutschen Belagerer unter Kommandeur Erich von Manstein bis Anfang Juli 1942 ab, ehe sie nach hohen Verlusten auf beiden Seiten kapitulierten.
Mansteins 1955 erstmals erschienene und mehrfach neu aufgelegte Memoiren „Verlorene Siege“ sind ein idealtypisches Beispiel für die Verzerrung des Bildes vom deutschen Vernichtungskrieg. Der verurteilte Kriegsverbrecher präsentierte sich darin als militärischer Fachmann, dem die ideologisch verbohrte NS-Führung immer wieder in die Parade gefahren sei und damit Erfolge auf dem Schlachtfeld vereitelt habe. Vor allem aber stilisierte er sich als Vertreter einer vermeintlich sauberen Wehrmacht, die mit den deutschen Massenverbrechen in den besetzten sowjetischen Gebieten nichts zu tun gehabt habe.
Tatsächlich hatte Manstein dem Judenmord das Wort geredet. So erklärte er Ende November 1941 seinen Untergebenen, sie müssten für „die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, (…) Verständnis aufbringen“. Diese sei auch notwendig, „um alle Erhebungen, die meist von Juden angezettelt werden, im Keime zu ersticken“.
Nur selten ist in zeitgenössischen deutschen Quellen Kritik am Judenmord zu finden. So schilderte der Verbindungsoffizier des Auswärtigen Amtes beim Oberkommando der 11. Armee, Werner Otto von Hentig, das Entsetzen, welches das Massaker an mehr als 12000 Juden in Simferopol im Dezember 1941 in der Bevölkerung ausgelöst habe, „weil natürlich keiner für möglich gehalten hat, dass wir Frauen und Kinder töten“.
Rolle der Krimtataren
Wie ein Teil der Ukrainer hoffte, als Folge des deutsch-sowjetischen Krieges könne der ukrainische Staat wiederentstehen, gab es auch unter den Krimtataren eine Reihe von Personen, die glaubten, der Vormarsch der Wehrmacht könne in eine staatliche Unabhängigkeit der Krim münden. Doch weder zeigte die Türkei großes Interesse, sich für die Sache der Krimtataren einzusetzen, noch waren die Deutschen bereit, wenigstens eine lokale krimtatarische Selbstorganisation zuzulassen. Edige Kirimal, ein Gefolgsmann des krimtatarischen KP-Chefs Weli Ibraimow, der nach dessen Hinrichtung durch die Bolschewiki 1928 ins Ausland geflohen war, antichambrierte im Sommer 1941 in dieser Frage vergeblich in Berlin – was ihn aber nicht davon abhielt, später in die Waffen-SS einzutreten.
Auch ein Teil der auf der Krim verbliebenen Tataren und Krimdeutschen hatte der Ankunft der Wehrmacht zunächst mit Hoffnung entgegengeblickt. Mit der Hinrichtung Ibraimows hatte auf der Krim die Abkehr von der sogenannten Einwurzelungspolitik begonnen. Die nationalkommunistische Förderung der Ethnien an der Peripherie des sowjetischen Imperiums kehrte sich unter Stalin zu einer immer radikaleren Verfolgung um, unter der neben Polen, Deutschen, Ukrainern und Juden auch die Tataren litten. Neben vermeintlichen „Kulaken“ fielen dem Großen Terror zahlreiche tatarische Intellektuelle zum Opfer. Die meisten der rund 52000 Krimdeutschen wiederum waren wenige Wochen nach dem deutschen Überfall zusammen mit den übrigen Russlanddeutschen in den Osten der Sowjetunion deportiert worden, da Stalin sie pauschal der Kollaboration mit den Angreifern verdächtigte. Wie ein Großteil der schätzungsweise 1000 verbliebenen Krimdeutschen sahen viele Krimtataren infolge des erlittenen Terrors in den Soldaten der Wehrmacht ihre Befreier vom sowjetischen Joch und waren anfangs zur Zusammenarbeit mit den Besatzern bereit.
Zwar war diese selbst im Fall des Dienstes in der Hilfspolizei nicht durchweg als „Kollaboration mit dem Feind“ im engeren Sinne zu verstehen. Offiziere der sowjetischen Geheimpolizei stellten oftmals fest, die Beschuldigten hatten sich nichts zuschulden kommen lassen und waren den Einheiten beigetreten, weil es keine andere bezahlte Arbeitsmöglichkeit gab oder weil sie dem Abtransport zur Zwangsarbeit nach Deutschland entgehen wollten. Doch begründete die Sowjetmacht genau mit diesem Argument die fast vollständige Deportation der rund 200000 Krimtataren nach Zentralasien und Sibirien im Mai 1944. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion durften sie beziehungsweise ihre Nachkommen auf die Halbinsel zurückkehren. Als indirekte Opfer des deutschen Überfalls hatten die Krimtataren so lange unter den Folgen des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges zu leiden, wie keine andere Gruppe in Osteuropa.