Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Krim und die Krimtataren | Krim | bpb.de

Krim Editorial Zwischen Angst und Widerstand. Leben auf der Krim Rekonstruktion einer Annexion Gibt es ein Russland ohne Krim? Die Krim und die Krimtataren Schatten der Weltkriege. Die Deutschen und die Krim Kurze Geschichte einer besonderen Halbinsel

Die Krim und die Krimtataren Eine historische Perspektive

Rory Finnin

/ 16 Minuten zu lesen

In der Geschichtsschreibung über die Krim wurden die Krimtataren lange Zeit vernachlässigt. Dabei sind sie von zentraler Bedeutung für die Vergangenheit und Zukunft der Halbinsel. Die Berücksichtigung ihrer Erfahrungen trägt dazu bei, die Krim zu dekolonisieren.

Es war eine sorgfältig vorbereitete, gewaltsame Eroberung eines souveränen Territoriums in einem unabhängigen europäischen Land: Am 27. Februar 2014 umstellten russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen den Luftwaffenstützpunkt Belbek in der Autonomen Republik Krim in der Ukraine. Am nächsten Tag besetzten sie den Flughafen von Simferopol, über den zahlreiche weitere Truppen eingeflogen wurden, um die Schwarzmeerhalbinsel einzunehmen. Lokale Aktivisten reagierten, indem sie Freiwillige mobilisierten, die das ukrainische Militär mit Lebensmitteln und Vorräten versorgten, und internationalen Journalisten Zugang zu unabhängigen Informationen verschafften. Unterdessen erging sich Wladimir Putin in Moskau in Lügen und Ausflüchten und bezeichnete seine Invasionstruppen als „lokale Selbstverteidigungseinheiten“. Während die Weltöffentlichkeit ratlos und verwirrt auf die Krim blickte, walzten russische Panzer die Mauern des Stützpunkts nieder und beschossen Mi-8-Hubschrauber ukrainische Marineangehörige, die sodann aus ihren Kasernen gezerrt, gedemütigt und in Handschellen abgeführt wurden. Die Annexion der Krim markiert nicht nur den Punkt, an dem zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg das Territorium eines europäischen Landes durch ein anderes Land gewaltsam besetzt wurde, sondern steht auch für den Beginn eines langen, quälenden Jahrzehnts der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, deren Ende nicht absehbar ist – es sei denn, der Westen bekennt sich klar und deutlich dazu, die Grundsätze des Völkerrechts zu verteidigen.

In Nachrichtensendungen und sozialen Medien reagierten Russen auf die Besetzung von 2014 mit einem höhnischen Meme: KrymNasch, „Die Krim gehört uns“ – eine klassische imperialistische Botschaft. Mit unverfrorenen, beharrlichen Ansprüchen auf Gebiete lenken Imperien gern von Zweifeln hinsichtlich ihrer eigenen politischen Legitimität ab. KrymNasch markiert den Höhepunkt eines Diskurses über den Besitz der Krim, der in der russischen Kultur und Gesellschaft seit Langem geführt wird und in dem die Halbinsel als Objekt der Begierde, der Eroberung und der Kontrolle dargestellt wird.

Für die Krimtataren ist die Krim jedoch kein Objekt, kein Territorium, das man erobern und besitzen kann. Für die größte indigene Bevölkerungsgruppe der Halbinsel, die sunnitischen Nachkommen verschiedener ethnischer Gruppen, deren Wurzeln bis in die Antike und zu den mongolischen Nomaden der Goldenen Horde im 13. Jahrhundert zurückreichen, ist die Krim Teil ihrer kollektiven Subjektivität und damit eng mit ihrer nationalen Identität verwoben – für sie heißt es nicht „Die Krim gehört uns“, sondern „Die Krim sind wir“. Die enge Beziehung zwischen den Krimtataren und ihrer angestammten Heimat steht in direktem Gegensatz zu der Behauptung, die Krim sei „immerwährendes russisches Land“, wie Putin hartnäckig behauptet. Aus diesem Grund haben russische wie sowjetische Anführer seit Jahrhunderten versucht, die Krimtataren durch Ausgrenzung, Unterdrückung und ethnische Säuberung ins Abseits zu drängen und auszurotten. Diese Kampagne dauert auch heute noch an, inmitten der Schrecken der russischen Großinvasion in die Ukraine. Unverhältnismäßig viele junge Krimtataren werden von den russischen Besatzern zum Militärdienst gezwungen. Aktivisten und Journalisten der Krimtataren werden mit willkürlichen Verhaftungen und drakonischen Gefängnisstrafen drangsaliert, und die seit Langem bestehende pazifistische muslimische nationale Bewegung wird durch brutale Aktionen herausgefordert.

In traditionellen westlichen Geschichtsanalysen über die Krim, die sich dem Einfluss der russischen Geschichtsschreibung mit ihrer imperialistischen Agenda nicht entziehen konnten, wurden die Krimtataren trotz ihrer zentralen Bedeutung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Krim lange vernachlässigt. Und seit 2014 hat die Forschung die Krimtataren praktisch vergessen, ihre Bestrebungen und Kämpfe unter russischer Besatzung werden heruntergespielt und ignoriert. Wenn man die Erfahrungen der Krimtataren in den Vordergrund rückt, leistet man daher einen wesentlichen Beitrag dazu, die Slawistik und Osteuropawissenschaften von ihrem kolonialen Erbe zu befreien, und beginnt damit, die Krim gewissermaßen „epistemisch zu deokkupieren“.

Der Sündenfall: Russische Kolonisierung

Die vielfältigen und komplexen Erfahrungen der Krimtataren zu erforschen, bedeutet, sich mit einem entscheidenden historischen Phänomen zu befassen, das in herkömmlichen akademischen Studien über die Krim allzu oft unter den Teppich gekehrt wird: dem Siedlerkolonialismus. Von Siedlerkolonialismus spricht man, wenn ein Reich oder Staat in einem eroberten Gebiet die einheimische Bevölkerung verdrängt und ersetzt. Oder wie der Historiker Patrick Wolfe erklärt: „Siedlerkolonien werden nicht in erster Linie gegründet, um einen Mehrwert aus der Arbeit der angestammten Bevölkerung zu erzielen. Vielmehr geht es darum, Einheimische zu verdrängen (oder sie zu ersetzen); wie Deborah Bird Rose betont, muss die ursprüngliche Bevölkerung gar nicht viel tun, um im Weg zu sein, es genügt, wenn sie in ihrer Heimat bleiben will." Die Krim ist nicht nur ein Gebiet des Siedlerkolonialismus, sondern auch mit ideologischer Bedeutung aufgeladen und wird in der sowjetischen und russischen Vorstellungswelt als homogener Raum gesehen, dicht gefüllt mit einer Rhetorik des „Ruhms“ und des „Heldentums“. Die lebendige Vergangenheit der angestammten Bevölkerung hat darin keinen Platz und wird entsprechend totgeschwiegen.

Von den russischen Besatzern wird diese Vergangenheit nun verschüttet oder ausgelöscht, etwa wenn Schützengräben in alte krimtatarische Grabhügel gegraben oder Balken aus dem Hansaray, dem Palast des krimtatarischen Khans in Bağçasaray (krimtatarische Bezeichnung für Bachtschissarai), herausgerissen werden. Über drei Jahrhunderte lang, von 1443 bis 1783, herrschten die Khane der Krimtataren über die Halbinsel und die Steppenregion der Südukraine. Unter ihrer Regierung blühte der Handel mit Weizen, Salz und Sklaven; die gesamte Schwarzmeerregion war durchzogen von Handelswegen, die bis heute Spuren hinterlassen haben. Die reiche Kultur und Literatur standen in regem Austausch mit türkischen, persischen und arabischen Traditionen und zogen Schriftsteller und Wissenschaftler wie Joseph von Hammer-Purgstall, Iwan Franko und Ahatanhel Krymskyj in ihren Bann. Im 17. Jahrhundert waren die Krimtataren dank ihrer militärischen Fähigkeiten aktiv daran beteiligt, die Landkarte Europas zu verändern, als sich ihr Khan mit dem kosakischen Hetman Bohdan Chmelnyzkyj gegen den polnischen König verbündete und so der ukrainische Kosaken-Protostaat (1649–1764) entstand. Doch bereits im 18. Jahrhundert erlebte das Khanat einen jähen geopolitischen Niedergang. Zwischen 1772 und 1782 fiel die russische Zarin Katharina II. viermal auf der Krim ein. 1783 gelang es ihr schließlich, das Khanat zu erobern und ins Russische Reich einzugliedern. Als sie 1787 triumphierend in den Hansaray einzog, drehten die krimtatarischen Einwohner von Bağçasaray ihrem Eroberern trotzig den Rücken zu.

Mit dem Untergang des Khanats setzte der russische Siedlerkolonialismus ein, der zur Vertreibung der Krimtataren aus ihrer Heimat und der Unterdrückung ihrer Kultur führte. Im 19. Jahrhundert flohen die Krimtataren in mehreren Wellen ins Osmanische Reich. Einen Höhepunkt erreichte die Auswanderung nach dem Krimkrieg, bei dem die Krimtataren fälschlicherweise und nicht zum letzten Mal des kollektiven Verrats bezichtigt wurden. 1857 sprach Zar Alexander II. ganz offen von der „Säuberung [otschischtschenije] der gesamten Krim von den Tataren“, um sie durch „Bauern aus den inneren Provinzen“ zu ersetzen. Zu der Zeit stellten die Krimtataren fast 80 Prozent der Einwohner der Krim. Bis 1900 sank ihr Anteil auf etwa 25 Prozent.

Im 20. Jahrhundert wollte Stalin vollenden, was Alexander II. begonnen hatte. Im Mai 1944, nach dem Rückzug der deutschen Wehrmacht von der Krim, ließ er die verbliebene krimtatarische Bevölkerung – etwa 200000 Menschen – nach Zentralasien und in andere abgelegene Regionen der Sowjetunion deportieren. Stalins Gräueltat – in der Sprache der Krimtataren Sürgün („Das Exil“) genannt – hat heute eine tragische Parallele, wenn aus der besetzten Ukraine Tausende Zivilisten verschleppt werden; eine Maßnahme, die laut Amnesty International als Kriegsverbrechen oder gar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten ist.

Bei Stalins Aktion, die am 18. Mai 1944 in der Nacht begann, hatten die Krimtataren nur wenige Minuten Zeit, um ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen, dann wurden sie mit Waffengewalt aus ihren Häusern geholt und von Tausenden Mitarbeitern des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) in die Viehwaggons wartender Züge getrieben, die sie nach Zentralasien oder ins Uralgebirge brachten. Zeugenaussagen zufolge wurden die Kranken und Verletzten, die nicht transportfähig waren, „liquidiert“. Auch diejenigen, die sich dem Deportationsbefehl widersetzten, wurden erschossen. Bei der brutalen Vertreibungs- und Enteignungsaktion wurden in Waggons, die für „40 Personen oder 8 Pferde“ gedacht waren, bis zu 200 Männer, Frauen und Kinder gepfercht. Die Türen der Waggons ließen sich 18 Tage lang nicht öffnen. Es gab keine Toiletten und auch kein Trinkwasser: Die Deportierten lebten von Regenwasser, das durch Ritzen und Löcher in die Waggons drang. Tausende Deportierte starben aufgrund der unmenschlichen Bedingungen während des Transports, der fehlenden Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln und der Misshandlungen durch die Männer des NKWD. Nach der Ankunft am Zielort ging das Sterben weiter: In den spetsposeleniia („Sondersiedlungen“) kamen Tausende durch Hunger, Kälte und Krankheiten um. Viele Krimtataren sind der Ansicht, dass in den ersten Jahren des Exils die Hälfte ihrer Bevölkerung ihr Leben verlor.

Ortsnamen und -bezeichnungen der Krimtataren wurden von der Landkarte getilgt und aus Nachschlagewerken entfernt, ihre Häuser und ihr Besitz wurde unter den slawischen Siedlern verteilt, die vom sowjetischen Staat angeworben worden waren. Allein in den Jahren 1944 bis 1946 wurden über 64000 Siedler aus fünf Oblasten der Russischen SFSR und vier Oblasten der Ukrainischen SSR auf die Krim transportiert, wo ihnen Häuser der Krimtataren zugewiesen wurden, für deren Instandsetzung sie staatliche Zuschüsse erhielten. In den 1950er Jahren trafen Zehntausende weitere Siedler ein. Die sowjetischen Behörden beschrieben das Vorhaben, die Demografie der Halbinsel dauerhaft zu verändern, in anschaulichen Worten als die Aufgabe, „die Krim zu einer neuen Krim mit ihrer eigenen russischen Form zu machen“.

Die Wiederbesiedlung der Halbinsel konnte jedoch den Verlust der Krimtataren und ihrer Erfahrung beim Anbau von Wein und Tabak nicht wettmachen. Auch nach dem Krieg kam die Wirtschaft der Krim nicht so recht in Schwung. Laut Dmitri Poljanski, der von 1953 bis 1954 der KP der Krim vorstand, vertrat der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow die Ansicht, dass „Russland der Entwicklung der Krim wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe“ und „die Ukraine die Krim effektiver verwalten könne“. Und so verkündete die Leitung des Obersten Sowjets im Februar 1954, dass Russland die Oblast Krim offiziell an die Sowjetrepublik Ukraine übergebe. Die Diskussion über diese Entscheidung hatte der russische Politiker Michail Tarasow mit den Worten eröffnet, die Krim sei eine „natürliche Fortsetzung der südlichen Steppe der Ukraine“, deren Wirtschaft mit der ukrainischen „eng verbunden“ sei.

Chruschtschows Schwiegersohn, der Journalist und Herausgeber Alexei Adschubei, bezeichnete die Abtretung als „geschäftliche Transaktion“, die der wirtschaftlichen Entwicklung der Krim diene. Tatsächlich sollte sie sich schon bald auszahlen. 1957 nahmen die ukrainischen Behörden in Kyjiw ein Projekt in Angriff, das jahrzehntelang ein russischer Wunschtraum gewesen war: den Bau des Nord-Krim-Kanals, der das Wasser des bei Cherson aufgestauten Dnepr zur Versorgung der Bevölkerung und Bewässerung der Felder auf die Halbinsel leitet. Die wirtschaftliche Lage auf der Krim, vor allem der Landwirtschaft, verbesserte sich erheblich. Auch der Tourismus blühte auf: Entlang der Südküste entstanden riesige Sanatorien für die sowjetische Elite, die das Bild eines sowjetischen Shangri-La am Schwarzen Meer prägten.

Erst in späteren Jahren wurde der Erfolg der Ukraine bei der Entwicklung der Krim in Abrede gestellt und die Übergabe an die Ukraine in hartnäckigen Desinformationskampagnen als „Geschenk Chruschtschows“ – oder schlimmer noch, als „Chruschtschows Fehler“ – mythologisiert. Doch die Übergabe der Krim an die Ukraine war kein Fehler. Es war ihre Rettung.

Beispiel für Resilienz: Die nationale Bewegung der Krimtataren

Während sich die sowjetisch-ukrainischen Behörden um eine Wiederbelebung der Krim bemühten, kämpften die Krimtataren mit dem Trauma der Vertreibung und des Exils. Ihre Reaktion darauf war die Bildung der größten, am besten organisierten und dauerhaftesten Protestbewegung der sowjetischen Geschichte. Die Kampagne für Anerkennung und Repatriierung basierte auf den Grundsätzen des gewaltlosen Widerstands gegen Unrecht und staatliche Unterdrückung. Damit hatte sie nachhaltigen Einfluss auf die organisatorische Infrastruktur und die moralische Ausrichtung der sowjetrussischen Dissidentenbewegung. So standen beispielsweise die „Informationsbulletins“ der Krimtataren, in denen staatliche Missstände dokumentiert und offene Briefe zusammengestellt wurden, Pate für die akribische und sachliche Samisdat-Zeitschrift „Chronika tekuschtschych sobytij“ („Chronik der laufenden Ereignisse“). Zugleich fungierten ihre „Initiativgruppen“ als Vorbild und Namensgeber für die „Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR“, deren Arbeit als erste autonome Nichtregierungsorganisation der Sowjetunion als bahnbrechend gilt.

Zu den Anführern der krimtatarischen Bewegung jener Zeit gehörte Mustafa Dschemiljew (Mustafa Cemiloğlu, auch bekannt als Mustafa Abdülcemil Qırımoğlu), den Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich zum Helden der Ukraine ernannt hat. Dschemiljew mag klein von Wuchs sein, doch er ist ein Gigant. Als Kleinkind überlebte er die Deportation nach Zentralasien; als junger Mann überlebte er den Gulag und hielt Mitte der 1970er Jahre 303 Tage lang einen Hungerstreik durch, der weltweit für Aufsehen sorgte. Unter seiner Führung konnten sich die Krimtataren gegen das sowjetische System behaupten und erstritten sich gegen Ende von Gorbatschows Herrschaft das Recht auf Rückkehr auf die Krim. Nachdem Dschemiljew sein Leben lang für die Rückkehr der Krimtataren gekämpft hatte, ließ er sich 1989 wieder in seiner alten Heimat nieder.

Doch die Auflösung der Sowjetunion bot wenig Gelegenheit für ein Happy End, sondern brachte Armut und neuerliche Kämpfe gegen den politischen und kulturellen Chauvinismus. Dschemiljew und die gewählte Nationalversammlung, der Medschlis des Krimtatarischen Volkes, setzten auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem neuen unabhängigen ukrainischen Staat, um die Wiedereingliederung der Krimtataren auf der Krim zu erleichtern. Die lokale ukrainische Gemeinschaft, die mit der „Kryms’ka svitlytsia“ auch die einzige ukrainischsprachige Zeitung auf der Krim herausgibt, unterstützte die Krimtataren mit voller Tatkraft und betonte in zahlreichen Ausgaben der Zeitung die Bedeutung des kulturellen Austauschs und der Solidarität zwischen Ukrainern und Krimtataren. In einer Ausgabe von 1993 beschrieb der Dichter, Redakteur und Aktivist Aider Osman die gegenseitige kulturelle Selbsthilfe als Mittel zum Überleben: „Für die Krimtataren sind wieder schwierige Zeiten angebrochen, und in dieser komplizierten Situation spüren sie die Unterstützung durch das ukrainische Volk. Edle Ukraine! Sie hat den Krimtataren die starke Hand der Freundschaft gereicht, und zwar genau in dem Moment, als sie die Hoffnung zu verlieren begannen. Dies ist ein historisches Bekenntnis. Die Geschichte kennt viele Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern, doch das heutige Bekenntnis ist einzigartig und ewig."

Trotz aller Mängel und Frustrationen war die Beziehung zwischen Kyjiw und den krimtatarischen und ukrainischen Gemeinschaften der Krim in den 1990er Jahren ein „im gesamten postsowjetischen Raum einzigartiges, fast einmaliges Beispiel für die Loyalität eines kleinen Volkes gegenüber einem jungen unabhängigen Staat“, wie die Historikerin Swetlana Tscherwonnaja erklärt. Gleichwohl führte dies bis 2013 nicht zur Verwirklichung eines zentralen Anliegens der krimtatarischen Bewegung: die offizielle Anerkennung als indigenes Volk der Ukraine. Dies geschah erst im März 2014, nachdem die russischen Streitkräfte die Kontrolle über die Halbinsel übernommen hatten – als es zu spät war.

Die brutale Annexion der Krim durch Russland veränderte alles. Praktisch über Nacht wurden Aktivisten, die mit dem Medschlis in Verbindung standen, von den de facto wieder russischen Behörden verfolgt, inhaftiert und ausgewiesen. Öffentliches Gedenken an die Deportation vom 18. Mai 1944 wurde verboten. Zehntausende Krimtataren flohen von der Krim in die Ukraine und bilden damit die größte Gruppe von Binnenvertriebenen im Land. Dschemiljew und dem Vorsitzenden des Medschlis, Refat Tschubarow, wurde verboten, auch nur einen Fuß auf die Halbinsel zu setzen. Andere wie Ilmi Umerow – stellvertretender Vorsitzender des Medschlis, der im Mai 2016 gegenüber russischen Sicherheitsdiensten erklärte: „Ich betrachte die Krim nicht als Teil der Russländischen Föderation“ – wurden in einer psychiatrischen Klinik zwangsbehandelt.

Verbündete

Seit der russischen Großinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich das komplizierte Verhältnis zwischen Ukrainern und Krimtataren verändert; die Solidarität untereinander hat einen enormen Schub erhalten. Das erstaunliche Bild, das sich daraus ergibt, hält Lehren für den europäischen Liberalismus und sogar den globalen Islam bereit. Es ist das Porträt der sunnitisch-muslimischen Ureinwohner der Krim, die die nationale Identität eines Landes mitgestalten, das der Historiker Karl Schlögel als „Europa im Kleinen“ bezeichnet.

Im August 2022, sechs Monate nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine, nahm Präsident Selenskyj eine Videoansprache von seinem Schreibtisch in der Bankowa-Straße in Kyjiw auf. Flankiert von zwei eingerollten Flaggen sprach er zu seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in dem unverblümten, persönlichen Stil, der zu seinem Markenzeichen geworden ist. Sein Thema war die Krim. „Der russische Krieg gegen die Ukraine und gegen das gesamte freie Europa hat mit der Krim begonnen“, erklärte er. „Und er wird mit der Krim enden – mit ihrer Befreiung."

Selenskyjs kühne Voraussage war gleichzeitig eine dringende Mahnung. Die Krim ist der Ausgangspunkt von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, dem größten und gefährlichsten bewaffneten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Februar 2014 begann Russland den Krieg mit der militärischen Einnahme der Krim; im Februar 2022 eskalierte der Konflikt mit einer Invasion der restlichen Ukraine, die zum Teil von der Krim aus gestartet wurde. Seitdem bietet die ukrainische Bevölkerung den russischen Eroberungsversuchen die Stirn und widersetzt sich zu einem entsetzlich hohen Preis und trotz einer Vielzahl russischer Kriegsverbrechen dem Neoimperialismus des Kremls auf eine Weise, die die Welt in Staunen versetzt. Derzeit kämpfen die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive um jeden Meter, um den russischen Angriff auf das souveräne Gebiet der Ukraine abzuwehren und einen Völkermord zu verhindern. Sie leisten etwas, was viele westliche Experten noch vor wenigen Monaten für unwahrscheinlich oder gar unmöglich hielten: Sie greifen strategische russische Militäreinrichtungen auf der Krim an und erschüttern damit einmal mehr unsere konventionellen Annahmen.

Die Beschäftigung mit den Krimtataren im Zusammenhang mit der Krim und ihrer Geschichte bietet einen Schlüssel zur Entkolonialisierung unseres Fachs und zum Verständnis der heutigen Ukraine und ihrer lebendigen zivilen nationalen Identität, die derzeit vielleicht die stärkste Kraft zur Verteidigung der liberalen Demokratie ist. Im September 2023 rückte die Rolle der Krimtataren bei dieser Verteidigung ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als Präsident Selenskyj den krimtatarischen Geschäftsmann, Aktivisten und Politiker Rustem Umjerow zum Verteidigungsminister ernannte. Wie Selenskyj wagt sich auch Umjerow mit seinen Voraussagen weit vor. In einer Rede vor dem ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, erklärte er: „Als Kind habe ich die Härten des russischen Kolonialismus miterlebt, der den einheimischen Krimtataren das Gefühl geben sollte, dass sie Fremde in ihrem eigenen Land sind. Das ist ihnen damals nicht gelungen, und es wird ihnen nie gelingen."

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Artikel basiert auf Material aus Rory Finnin, Blood of Others: Stalin’s Crimean Atrocity and the Poetics of Solidarity, Toronto 2022. Zur Chronologie der Annexion vgl. Michael Kofman et al., Lessons from Russia’s Operations in Crimea and Eastern Ukraine, Santa Monica 2017, S. 8f.

  2. Vladimir Putin Answered Journalists’ Questions on the Situation in Ukraine, 4.3.2014, Externer Link: http://eng.kremlin.ru/news/6763.

  3. Rossijskie wojennyje schturmom wzjali basu morpechow w Feodosii [Russische Einheiten haben die Marineinfanteriebasis in Feodosija gestürmt], 24.3.2014, Externer Link: http://www.rbc.ru/society/24/03/2014/570419f19a794761c0ce843b.

  4. Obraschtschenije Presidenta Rossijskoi Federaziji [Ansprache des Präsidenten der Russländischen Föderation], 18.3.2014, Externer Link: http://kremlin.ru/events/president/news/20603.

  5. Vgl. Council of Europe/Commissioner for Human Rights, Crimean Tatars’ Struggle for Human Rights, 18.4.2023, Externer Link: https://rm.coe.int/1680aaeb4b.

  6. Vgl. etwa Halya Coynash, Crimean Tatar Journalist and Activists Face Huge Sentences in Russia’s Retaliation for Humiliating Attack by Ukraine, 27.12.2023, Externer Link: https://khpg.org/en/1608813229.

  7. Patrick Wolfe, Settler Colonialism and the Transformation of Anthropology. The Politics and Poetics of an Ethnographic Event, London–New York 1999, S. 1. Wolfe zitiert die Anthropologin Deborah Bird Rose, Hidden Histories: Black Stories from Victoria River Downs, Humbert River and Wave Hills Stations, Canberra 1991, S. 46.

  8. Das Innere des Hansaray wurde im Rahmen einer „Potemkinschen Reparatur“, wie sie der krimtatarische Aktivist Edem Dudakov nennt, schwer beschädigt, da die russischen Besatzer Handwerker beauftragten, die auf dem Gebiet völlige Neulinge waren. Siehe Chanskij dworez w Krymu: unitschtoschenije pod prikrytijem restawraziji [Der Khanspalast auf der Krim: Zerstörung unter dem Deckmantel der Restaurierung], 27.12.2017, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=cBhNtYnwLwY.

  9. Vgl. etwa Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der Chane der Krim unter Osmanischer Herrschaft, Wien 1856.

  10. Siehe den Bericht in Louis-Philippe de Ségur, Mémoires ou Souvenirs et anecdotes, Bd. 3, Brüssel 1825, S. 179.

  11. Vgl. Edward J. Lazzerini, The Crimea under Russian Rule, 1783 to the Great Reforms, in: Michael Rywkin (Hrsg.), Russian Colonial Expansion to 1917, London 1988, S. 123–138. Zur krimtatarischen Auswanderung ins Osmanische Reich vgl. Kemal H. Karpat, Ottoman Population, 1830–1914: Demographic and Social Characteristics, Madison 1985.

  12. Russisches historisches Staatsarchiv (RGIA), f. 384, op. 8, d. 434, l. 23, zit. in: Walerij E. Wosgrin, Istorija krymskich tatar [Die Geschichte der Krimtataren], Bd. 2, Simferopol 2013, S. 616.

  13. Vgl. Amnesty International, „Like A Prison Convoy“. Russia’s Unlawful Transfer and Abuse of Civilians in Ukraine During „Filtration“, November 2022, Externer Link: http://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2022/11/EUR5061362022ENGLISH.pdf, S. 31ff.

  14. Vgl. Wosgrin (Anm. 12), Bd. 4, S. 180ff., S. 197.

  15. Refat Kurtijew (Hrsg.), Deportazija krymskich tatar [Die Deportation der Krimtataren], Simferopol 2004, S. 50.

  16. Vgl. Wosgrin (Anm. 12), Bd. 4, S. 197.

  17. Michael Rywkin zufolge kamen bei der Deportation an sich fast 8000 Krimtataren ums Leben. Vgl. Michael Rywkin, Moscow’s Lost Empire, Armonk 1994, S. 67.

  18. Vgl. Brian Glyn Williams, The Crimean Tatars. The Diaspora Experience and the Forging of a Nation, Leiden 2001, S. 237. Im April 1956 wurde die „Sondersiedlungsregelung“ aufgehoben, und Krimtataren durften umziehen, nicht jedoch zurück auf die Krim.

  19. Vgl. Gulnara Bekirowa, Krymskotatarskaja problema w SSSR [Die Frage der Krimtataren in der UdSSR], 1944–1991, Simferopol 2004, S. 108. Williams zufolge war der Anteil der in den ersten fünf Jahren Getöteten vermutlich niedriger und lag bei „vielleicht dreißig Prozent der deportierten Bevölkerung“. Williams (Anm. 18), S. 401.

  20. Vgl. Wiktor Kotyhorenko, Krymskotatarskii repatrijanty: problema sozialnoji adaptaziji [Die krimtatarischen Rückkehrer: Probleme der sozialen Integration], Kyjiw 2005, S. 14.

  21. Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI), f. 14, op. 44, d. 759, l. 103, zit. in: Bekirowa (Anm. 19), S. 44.

  22. Vgl. Constantine Pleshakov, The Crimean Nexus. Putin’s War and the Clash of Civilizations, New Haven–London 2017, S. 90.

  23. Olga Gleser et al., Krym w fewrale 1954 [Die Krim im Februar 1954], in: Moskowskije nowosti, 2.2.1992, S. 10.

  24. Stenogramma asedaniia Presidiuma Vercahownogo Sowjeta SSSR [Mitschrift der Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjet], 14.2.1954, in: Istoritscheeskij archiw 1/1992, S. 48.

  25. Vgl. Gorbanewskaja ob osnovaniji „Chroniki tekuschtschich sobytiji“ [Gorbanewskaja zur Gründung der Zeitschrift „Chronik der aktuellen Ereignisse"], in: Chronika saschtschity praw w SSSR 29/1978, S. 46. Zur Initiativgruppe für die Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion vgl. Robert Horvath, Breaking the Totalitarian Ice: The Initiative Group for the Defense of Human Rights in the USSR, in: Human Rights Quarterly 1/2014, S. 147–175.

  26. Vgl. Wladyslawa Prysjaschnjuk, Mustafi Dschemiljewu pryswoily svannia Heroja Ukrajiny [Wladylaw Prysjaschnjuk wurde der Titel Held der Ukraine verliehen], 13.11.2023, Externer Link: https://suspilne.media/616009-mustafi-dzemilevu-prisvoili-zvanna-geroa-ukraini.

  27. Aider Osman, Krymskotatarska literatura: mynule ta sutschasne [Krimtatarische Literatur: Vergangenheit und Gegenwart], in: Krymska switlyzja, 29.5.1993, S. 3.

  28. Swetlana M. Tscherwonnaja, Krymskotatarskoje nazional’noje dwischenie [Die krimtatarische Nationalbewegung] (1994–1996), in: Issledowaniia po prikladnoj i neotloschnoi etnologiji 101/1997, S. 16.

  29. Powtorju na dopyti schtschee ras: Krym – ze Ukrajina, – sastupnyk holowy Medschlisu [Ich wiederhole es beim Verhör noch einmal: Die Krim gehört zur Ukraine, – stellvertretender Präsident der Medschlis], 15.5.2016, Externer Link: http://24tv.ua/n686073.

  30. Karl Schlögel, Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, München 2015, S. 62.

  31. My powernemosja w ukrajinskyj Krym [Wir kehren auf die ukrainische Krim zurück], 9.8.2022, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=yDSN7IVV0ZM.

  32. Prysnatschennja Rustema Umerowa Ministrom oborony Ukrajiny [Die Ernennung von Rustem Umerow zum Verteidigungsminister der Ukraine], 6.9.2023, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=3lqZl2jZny0.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Rory Finnin für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

ist Professor für Ukrainian Studies an der University of Cambridge und Fellow am Robinson College in Cambridge. Sein Buch "Blood of Others: Stalin’s Crimean Atrocity and the Poetics of Solidarity" (2022) wurde unter anderem mit dem Best Book Prize der American Association for Ukrainian Studies ausgezeichnet.