Es war eine sorgfältig vorbereitete, gewaltsame Eroberung eines souveränen Territoriums in einem unabhängigen europäischen Land: Am 27. Februar 2014 umstellten russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen den Luftwaffenstützpunkt Belbek in der Autonomen Republik Krim in der Ukraine. Am nächsten Tag besetzten sie den Flughafen von Simferopol, über den zahlreiche weitere Truppen eingeflogen wurden, um die Schwarzmeerhalbinsel einzunehmen.
In Nachrichtensendungen und sozialen Medien reagierten Russen auf die Besetzung von 2014 mit einem höhnischen Meme: KrymNasch, „Die Krim gehört uns“ – eine klassische imperialistische Botschaft. Mit unverfrorenen, beharrlichen Ansprüchen auf Gebiete lenken Imperien gern von Zweifeln hinsichtlich ihrer eigenen politischen Legitimität ab. KrymNasch markiert den Höhepunkt eines Diskurses über den Besitz der Krim, der in der russischen Kultur und Gesellschaft seit Langem geführt wird und in dem die Halbinsel als Objekt der Begierde, der Eroberung und der Kontrolle dargestellt wird.
Für die Krimtataren ist die Krim jedoch kein Objekt, kein Territorium, das man erobern und besitzen kann. Für die größte indigene Bevölkerungsgruppe der Halbinsel, die sunnitischen Nachkommen verschiedener ethnischer Gruppen, deren Wurzeln bis in die Antike und zu den mongolischen Nomaden der Goldenen Horde im 13. Jahrhundert zurückreichen, ist die Krim Teil ihrer kollektiven Subjektivität und damit eng mit ihrer nationalen Identität verwoben – für sie heißt es nicht „Die Krim gehört uns“, sondern „Die Krim sind wir“. Die enge Beziehung zwischen den Krimtataren und ihrer angestammten Heimat steht in direktem Gegensatz zu der Behauptung, die Krim sei „immerwährendes russisches Land“, wie Putin hartnäckig behauptet.
In traditionellen westlichen Geschichtsanalysen über die Krim, die sich dem Einfluss der russischen Geschichtsschreibung mit ihrer imperialistischen Agenda nicht entziehen konnten, wurden die Krimtataren trotz ihrer zentralen Bedeutung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Krim lange vernachlässigt. Und seit 2014 hat die Forschung die Krimtataren praktisch vergessen, ihre Bestrebungen und Kämpfe unter russischer Besatzung werden heruntergespielt und ignoriert. Wenn man die Erfahrungen der Krimtataren in den Vordergrund rückt, leistet man daher einen wesentlichen Beitrag dazu, die Slawistik und Osteuropawissenschaften von ihrem kolonialen Erbe zu befreien, und beginnt damit, die Krim gewissermaßen „epistemisch zu deokkupieren“.
Der Sündenfall: Russische Kolonisierung
Die vielfältigen und komplexen Erfahrungen der Krimtataren zu erforschen, bedeutet, sich mit einem entscheidenden historischen Phänomen zu befassen, das in herkömmlichen akademischen Studien über die Krim allzu oft unter den Teppich gekehrt wird: dem Siedlerkolonialismus. Von Siedlerkolonialismus spricht man, wenn ein Reich oder Staat in einem eroberten Gebiet die einheimische Bevölkerung verdrängt und ersetzt. Oder wie der Historiker Patrick Wolfe erklärt: „Siedlerkolonien werden nicht in erster Linie gegründet, um einen Mehrwert aus der Arbeit der angestammten Bevölkerung zu erzielen. Vielmehr geht es darum, Einheimische zu verdrängen (oder sie zu ersetzen); wie Deborah Bird Rose betont, muss die ursprüngliche Bevölkerung gar nicht viel tun, um im Weg zu sein, es genügt, wenn sie in ihrer Heimat bleiben will."
Von den russischen Besatzern wird diese Vergangenheit nun verschüttet oder ausgelöscht, etwa wenn Schützengräben in alte krimtatarische Grabhügel gegraben oder Balken aus dem Hansaray, dem Palast des krimtatarischen Khans in Bağçasaray (krimtatarische Bezeichnung für Bachtschissarai), herausgerissen werden.
Mit dem Untergang des Khanats setzte der russische Siedlerkolonialismus ein, der zur Vertreibung der Krimtataren aus ihrer Heimat und der Unterdrückung ihrer Kultur führte. Im 19. Jahrhundert flohen die Krimtataren in mehreren Wellen ins Osmanische Reich. Einen Höhepunkt erreichte die Auswanderung nach dem Krimkrieg, bei dem die Krimtataren fälschlicherweise und nicht zum letzten Mal des kollektiven Verrats bezichtigt wurden.
Im 20. Jahrhundert wollte Stalin vollenden, was Alexander II. begonnen hatte. Im Mai 1944, nach dem Rückzug der deutschen Wehrmacht von der Krim, ließ er die verbliebene krimtatarische Bevölkerung – etwa 200000 Menschen – nach Zentralasien und in andere abgelegene Regionen der Sowjetunion deportieren. Stalins Gräueltat – in der Sprache der Krimtataren Sürgün („Das Exil“) genannt – hat heute eine tragische Parallele, wenn aus der besetzten Ukraine Tausende Zivilisten verschleppt werden; eine Maßnahme, die laut Amnesty International als Kriegsverbrechen oder gar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten ist.
Bei Stalins Aktion, die am 18. Mai 1944 in der Nacht begann, hatten die Krimtataren nur wenige Minuten Zeit, um ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen, dann wurden sie mit Waffengewalt aus ihren Häusern geholt und von Tausenden Mitarbeitern des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) in die Viehwaggons wartender Züge getrieben, die sie nach Zentralasien oder ins Uralgebirge brachten. Zeugenaussagen zufolge wurden die Kranken und Verletzten, die nicht transportfähig waren, „liquidiert“. Auch diejenigen, die sich dem Deportationsbefehl widersetzten, wurden erschossen.
Ortsnamen und -bezeichnungen der Krimtataren wurden von der Landkarte getilgt und aus Nachschlagewerken entfernt, ihre Häuser und ihr Besitz wurde unter den slawischen Siedlern verteilt, die vom sowjetischen Staat angeworben worden waren. Allein in den Jahren 1944 bis 1946 wurden über 64000 Siedler aus fünf Oblasten der Russischen SFSR und vier Oblasten der Ukrainischen SSR auf die Krim transportiert, wo ihnen Häuser der Krimtataren zugewiesen wurden, für deren Instandsetzung sie staatliche Zuschüsse erhielten. In den 1950er Jahren trafen Zehntausende weitere Siedler ein.
Die Wiederbesiedlung der Halbinsel konnte jedoch den Verlust der Krimtataren und ihrer Erfahrung beim Anbau von Wein und Tabak nicht wettmachen. Auch nach dem Krieg kam die Wirtschaft der Krim nicht so recht in Schwung.
Chruschtschows Schwiegersohn, der Journalist und Herausgeber Alexei Adschubei, bezeichnete die Abtretung als „geschäftliche Transaktion“, die der wirtschaftlichen Entwicklung der Krim diene. Tatsächlich sollte sie sich schon bald auszahlen. 1957 nahmen die ukrainischen Behörden in Kyjiw ein Projekt in Angriff, das jahrzehntelang ein russischer Wunschtraum gewesen war: den Bau des Nord-Krim-Kanals, der das Wasser des bei Cherson aufgestauten Dnepr zur Versorgung der Bevölkerung und Bewässerung der Felder auf die Halbinsel leitet. Die wirtschaftliche Lage auf der Krim, vor allem der Landwirtschaft, verbesserte sich erheblich. Auch der Tourismus blühte auf: Entlang der Südküste entstanden riesige Sanatorien für die sowjetische Elite, die das Bild eines sowjetischen Shangri-La am Schwarzen Meer prägten.
Erst in späteren Jahren wurde der Erfolg der Ukraine bei der Entwicklung der Krim in Abrede gestellt und die Übergabe an die Ukraine in hartnäckigen Desinformationskampagnen als „Geschenk Chruschtschows“ – oder schlimmer noch, als „Chruschtschows Fehler“ – mythologisiert. Doch die Übergabe der Krim an die Ukraine war kein Fehler. Es war ihre Rettung.
Beispiel für Resilienz: Die nationale Bewegung der Krimtataren
Während sich die sowjetisch-ukrainischen Behörden um eine Wiederbelebung der Krim bemühten, kämpften die Krimtataren mit dem Trauma der Vertreibung und des Exils. Ihre Reaktion darauf war die Bildung der größten, am besten organisierten und dauerhaftesten Protestbewegung der sowjetischen Geschichte. Die Kampagne für Anerkennung und Repatriierung basierte auf den Grundsätzen des gewaltlosen Widerstands gegen Unrecht und staatliche Unterdrückung. Damit hatte sie nachhaltigen Einfluss auf die organisatorische Infrastruktur und die moralische Ausrichtung der sowjetrussischen Dissidentenbewegung. So standen beispielsweise die „Informationsbulletins“ der Krimtataren, in denen staatliche Missstände dokumentiert und offene Briefe zusammengestellt wurden, Pate für die akribische und sachliche Samisdat-Zeitschrift „Chronika tekuschtschych sobytij“ („Chronik der laufenden Ereignisse“). Zugleich fungierten ihre „Initiativgruppen“ als Vorbild und Namensgeber für die „Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR“, deren Arbeit als erste autonome Nichtregierungsorganisation der Sowjetunion als bahnbrechend gilt.
Zu den Anführern der krimtatarischen Bewegung jener Zeit gehörte Mustafa Dschemiljew (Mustafa Cemiloğlu, auch bekannt als Mustafa Abdülcemil Qırımoğlu), den Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich zum Helden der Ukraine ernannt hat.
Doch die Auflösung der Sowjetunion bot wenig Gelegenheit für ein Happy End, sondern brachte Armut und neuerliche Kämpfe gegen den politischen und kulturellen Chauvinismus. Dschemiljew und die gewählte Nationalversammlung, der Medschlis des Krimtatarischen Volkes, setzten auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem neuen unabhängigen ukrainischen Staat, um die Wiedereingliederung der Krimtataren auf der Krim zu erleichtern. Die lokale ukrainische Gemeinschaft, die mit der „Kryms’ka svitlytsia“ auch die einzige ukrainischsprachige Zeitung auf der Krim herausgibt, unterstützte die Krimtataren mit voller Tatkraft und betonte in zahlreichen Ausgaben der Zeitung die Bedeutung des kulturellen Austauschs und der Solidarität zwischen Ukrainern und Krimtataren. In einer Ausgabe von 1993 beschrieb der Dichter, Redakteur und Aktivist Aider Osman die gegenseitige kulturelle Selbsthilfe als Mittel zum Überleben: „Für die Krimtataren sind wieder schwierige Zeiten angebrochen, und in dieser komplizierten Situation spüren sie die Unterstützung durch das ukrainische Volk. Edle Ukraine! Sie hat den Krimtataren die starke Hand der Freundschaft gereicht, und zwar genau in dem Moment, als sie die Hoffnung zu verlieren begannen. Dies ist ein historisches Bekenntnis. Die Geschichte kennt viele Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern, doch das heutige Bekenntnis ist einzigartig und ewig."
Trotz aller Mängel und Frustrationen war die Beziehung zwischen Kyjiw und den krimtatarischen und ukrainischen Gemeinschaften der Krim in den 1990er Jahren ein „im gesamten postsowjetischen Raum einzigartiges, fast einmaliges Beispiel für die Loyalität eines kleinen Volkes gegenüber einem jungen unabhängigen Staat“, wie die Historikerin Swetlana Tscherwonnaja erklärt.
Die brutale Annexion der Krim durch Russland veränderte alles. Praktisch über Nacht wurden Aktivisten, die mit dem Medschlis in Verbindung standen, von den de facto wieder russischen Behörden verfolgt, inhaftiert und ausgewiesen. Öffentliches Gedenken an die Deportation vom 18. Mai 1944 wurde verboten. Zehntausende Krimtataren flohen von der Krim in die Ukraine und bilden damit die größte Gruppe von Binnenvertriebenen im Land. Dschemiljew und dem Vorsitzenden des Medschlis, Refat Tschubarow, wurde verboten, auch nur einen Fuß auf die Halbinsel zu setzen. Andere wie Ilmi Umerow – stellvertretender Vorsitzender des Medschlis, der im Mai 2016 gegenüber russischen Sicherheitsdiensten erklärte: „Ich betrachte die Krim nicht als Teil der Russländischen Föderation“ – wurden in einer psychiatrischen Klinik zwangsbehandelt.
Verbündete
Seit der russischen Großinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich das komplizierte Verhältnis zwischen Ukrainern und Krimtataren verändert; die Solidarität untereinander hat einen enormen Schub erhalten. Das erstaunliche Bild, das sich daraus ergibt, hält Lehren für den europäischen Liberalismus und sogar den globalen Islam bereit. Es ist das Porträt der sunnitisch-muslimischen Ureinwohner der Krim, die die nationale Identität eines Landes mitgestalten, das der Historiker Karl Schlögel als „Europa im Kleinen“ bezeichnet.
Im August 2022, sechs Monate nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine, nahm Präsident Selenskyj eine Videoansprache von seinem Schreibtisch in der Bankowa-Straße in Kyjiw auf. Flankiert von zwei eingerollten Flaggen sprach er zu seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in dem unverblümten, persönlichen Stil, der zu seinem Markenzeichen geworden ist. Sein Thema war die Krim. „Der russische Krieg gegen die Ukraine und gegen das gesamte freie Europa hat mit der Krim begonnen“, erklärte er. „Und er wird mit der Krim enden – mit ihrer Befreiung."
Selenskyjs kühne Voraussage war gleichzeitig eine dringende Mahnung. Die Krim ist der Ausgangspunkt von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, dem größten und gefährlichsten bewaffneten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Februar 2014 begann Russland den Krieg mit der militärischen Einnahme der Krim; im Februar 2022 eskalierte der Konflikt mit einer Invasion der restlichen Ukraine, die zum Teil von der Krim aus gestartet wurde. Seitdem bietet die ukrainische Bevölkerung den russischen Eroberungsversuchen die Stirn und widersetzt sich zu einem entsetzlich hohen Preis und trotz einer Vielzahl russischer Kriegsverbrechen dem Neoimperialismus des Kremls auf eine Weise, die die Welt in Staunen versetzt. Derzeit kämpfen die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive um jeden Meter, um den russischen Angriff auf das souveräne Gebiet der Ukraine abzuwehren und einen Völkermord zu verhindern. Sie leisten etwas, was viele westliche Experten noch vor wenigen Monaten für unwahrscheinlich oder gar unmöglich hielten: Sie greifen strategische russische Militäreinrichtungen auf der Krim an und erschüttern damit einmal mehr unsere konventionellen Annahmen.
Die Beschäftigung mit den Krimtataren im Zusammenhang mit der Krim und ihrer Geschichte bietet einen Schlüssel zur Entkolonialisierung unseres Fachs und zum Verständnis der heutigen Ukraine und ihrer lebendigen zivilen nationalen Identität, die derzeit vielleicht die stärkste Kraft zur Verteidigung der liberalen Demokratie ist. Im September 2023 rückte die Rolle der Krimtataren bei dieser Verteidigung ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als Präsident Selenskyj den krimtatarischen Geschäftsmann, Aktivisten und Politiker Rustem Umjerow zum Verteidigungsminister ernannte. Wie Selenskyj wagt sich auch Umjerow mit seinen Voraussagen weit vor. In einer Rede vor dem ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, erklärte er: „Als Kind habe ich die Härten des russischen Kolonialismus miterlebt, der den einheimischen Krimtataren das Gefühl geben sollte, dass sie Fremde in ihrem eigenen Land sind. Das ist ihnen damals nicht gelungen, und es wird ihnen nie gelingen."
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim.