Am 3. März 2014 kommt der 39-jährige Krimtatar Reschat Ametow, der auf dem Bau und als Fahrer arbeitet, um 9 Uhr morgens auf den zentralen Platz von Simferopol gefahren. Noch immer trägt der Platz den Namen von Lenin, dem Führer des Weltproletariats. Ametow will vor dem Ministerrat, der wenige Tage zuvor von russischen Truppen besetzt wurde, eine Mahnwache für die territoriale Einheit der Ukraine abhalten. Kaum hat er seinen Posten bezogen, kommen drei Männer – zwei in Tarnuniform, einer in Zivil –, packen ihn bei den Armen, zerren ihn in ein Auto und fahren davon. Reschat wird nie wieder lebend gesehen. Am 15. März wird seine Leiche, von Folterspuren gezeichnet, in der Nähe des Dorfes Semljanytschne 60 Kilometer von Simferopol entfernt gefunden. Der Kopf ist mit Klebeband umwickelt, die Handgelenke zeigen Spuren von Handschellen. Getötet wurde er durch einen Schuss ins linke Auge. Reschat Ametow war das erste zivile Opfer im Krieg Russlands gegen die Ukraine. An seiner Beerdigung auf dem Friedhof von Simferopol nahmen mehr als 2000 Menschen teil, er hinterließ drei Kinder. Dieser Mord war das erste Warnsignal für die Zivilgesellschaft auf der Krim und ließ erahnen, welche Methoden Russland dort anwenden würde.
Bereits eine knappe Woche zuvor, am 26. Februar, hatte der Medschlis, das höchste politische Gremium der Krimtataren, die Bewohner der Halbinsel zu einer Kundgebung gegen den Separatismus vor dem Regionalparlament der Krim aufgerufen. Denn dieses sollte an jenem Tag über die Ansetzung eines Referendums über die Loslösung der Krim von der Ukraine entscheiden. Knapp zehntausend Menschen folgten dem Aufruf, überwiegend Krimtataren und proukrainische Aktivisten. Die von anderen Teilen der Halbinsel nach Simferopol zu einer Gegendemonstration beorderten Vertreter prorussischer Organisationen brachten es nur auf wenige Tausend Teilnehmer. Die geplante Plenarsitzung fand an diesem Tag nicht statt, sodass die proukrainischen Protestierenden die Demonstration mit einem Gefühl des Sieges verließen. Es war der letzte große Protest auf der Krim, dann kam die Besatzung.
Am 27. Februar 2014 um 5 Uhr morgens drangen die sogenannten „grünen Männchen“, schwer bewaffnete russische Militäreinheiten in grünen Uniformen ohne offizielle Hoheitsabzeichen, in das Parlament und den Ministerrat ein und besetzten die Gebäude. Damals sprach noch niemand von „Annexion“ oder „temporärer Besatzung“. Es kursierten widersprüchliche Informationen, die Abgeordneten des Regionalparlaments stimmten jedoch – unter Androhung von Gewalt – angeblich (das Wahlergebnis ist nirgends dokumentiert) für ein Referendum über die Ausweitung der Krim-Autonomie, sprachen dem Ministerkabinett das Misstrauen aus, setzten den amtierenden Ministerpräsidenten ab und ernannten den Vorsitzenden der bis dahin bedeutungslosen prorussischen Partei Russische Einheit, Sergej Aksjonow, zu seinem Nachfolger.
Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Morgen, als zwar keiner richtig wusste, was vor sich ging, aber allen klar war, dass Gefahr im Verzug ist. Ich rief also zwei enge krimtatarische Freundinnen an, mit denen ich während der Maidan-Proteste im Winter 2013/14 in Kyjiw oft zusammen gewesen war. Sie lebten jetzt in Lwiw und Kyjiw. Sewhil Mussajewa ist heute Chefredakteurin des größten ukrainischen Online-Mediums „Ukrainska Prawda“, und Tamila Taschewa ist die Ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten auf der Krim. Wir beschlossen, eine Facebook-Seite einzurichten, auf der wir zeitnah und objektiv über die Ereignisse auf der Krim berichten wollten. Und wir hatten auch gleich einen passenden Namen parat: KrimSOS. Schon kurze Zeit später half die Organisation Binnenflüchtlingen von der Krim und aus der Ostukraine, beobachtete die Menschenrechtslage auf der Halbinsel, unterstützte Familien von politischen Gefangenen und unabhängige Initiativen, die trotz des enormen Drucks der russischen Besatzungsbehörden vor Ort tätig wurden, bot juristische, soziale und psychologische Beratung an und setzte sich bei ukrainischen Behörden und im Ausland für die Belange der Krim ein. Seit Juli 2014 ist KrimSOS der geschäftsführende Partner des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge in der Ukraine.
In den ersten Besatzungstagen organisierte eine engagierte Gruppe von Bürgern ehrenamtliche Aktivitäten, bei denen Freiwillige unter anderem Essen, zum Beispiel Plow, zubereiteten und den ukrainischen Truppen, die von russischen Einheiten blockiert wurden, über den Zaun hinweg zukommen ließen. Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, demonstrierten Zehntausende Frauen in knapp tausend Orten überall auf der Krim für die territoriale Einheit der Ukraine. Entlang von Straßen und Autobahnen bildeten sie lange Menschenketten, schwenkten ukrainische und krimtatarische Flaggen und skandierten Slogans für Frieden und Einheit. Die öffentlichen Kundgebungen für die Unteilbarkeit der Ukraine und gegen die Präsenz russischer Truppen auf der Krim wurden noch mehrere Wochen fortgesetzt, wobei die Zahl der Teilnehmer stetig stieg.
Am 16. März 2014 wurde unter Androhung von Gewalt das Referendum über den rechtlichen Status der Halbinsel abgehalten, dessen Ergebnis die allermeisten Staaten nicht anerkannten. Bereits am 18. März verkündete Wladimir Putin den „Anschluss“ der Krim an Russland. Daraufhin setzten Repressionen ein, ein weiteres Mal werden die Halbinsel und ihre Bewohner kolonialisiert.
Seither sind von ukrainischen Menschenrechtsorganisationen mehr als fünftausend Fälle von Menschenrechtsverletzungen registriert worden. Die Opfer sind zumeist Krimtataren oder proukrainische Aktivisten. Das Spektrum der Verstöße ist weit: Den Betroffenen wird das Recht auf Versammlungsfreiheit vorenthalten, sie werden in der Ausübung ihrer religiösen und nationalen Rechte beschnitten, es kommt zu zahlreichen Hausdurchsuchungen und Verschleppungen. Nach Angaben der Mission des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik Krim gibt es derzeit 186 ukrainische politische Gefangene auf der Krim, darunter 123 Krimtataren.
Die Menschenrechtsverletzungen sind jedoch nur das markanteste Zeichen der russischen Rekolonisierungsbestrebungen. Die Besatzung hat das Alltagsleben aller Krim-Bewohner – Russen, Ukrainer und Krimtataren – einschneidend verändert. Ob eine Person die russische oder die ukrainische Seite unterstützt, hängt jedoch nicht von der nationalen Zugehörigkeit, sondern von den Werten und Einstellungen des Einzelnen ab. Während manche sich die Sowjetzeit zurückwünschen, sich von der russischen Propaganda vereinnahmen lassen und auf den „Zaren mit der starken Hand“ setzen, der ihnen möglichst alle Verantwortung abnimmt, möchten andere, dass ihre Kinder in einer offenen demokratischen Gesellschaft und als Teil einer europäischen Familie leben können. Wie sich das Leben der Menschen auf der Krim im Zuge des massiven, von der russischen neokolonialen Politik ausgelösten Wandels verändert hat, werde ich im Folgenden schildern.
Zerstörung der krimtatarischen Institutionen
Die Krimtataren sind eines der drei Völker, die traditionell auf der Krim ansässig sind. Im Laufe ihrer Geschichte wurde die Halbinsel von verschiedenen ethnischen Gruppen besiedelt, unter anderem von Taurern, Skythen, Alanen, Griechen, Goten, Italienern, Türken und West-Kiptschaken. Vereint hat sie das gemeinsame Siedlungsgebiet – die Krim –, die krimtatarische Sprache, die zu den Turksprachen gehört, und die sunnitische Ausrichtung des Islam. Die Herausbildung des krimtatarischen Volkes fand ihren Abschluss mit Gründung eines eigenen Staates – des Khanats der Krim – im Jahr 1441, der bis zur Eroberung der Halbinsel durch die russische Zarin Katharina II. im 18. Jahrhundert Bestand hatte.
Als das Russische Reich 1917 zusammenbrach und die Region von Revolutionskriegen erschüttert wurde, kam es zum Versuch, die krimtatarische Staatlichkeit wiederherzustellen, als der Kurultai, die Volksversammlung der Krimtataren, einberufen und die Volksrepublik Krim ausgerufen wurde. Sie war die erste demokratische islamische Republik der Welt, deren Verfassung Frauen und Männern gleichermaßen das Wahlrecht gewährte. Bereits im Februar 1918 hielten jedoch die Bolschewiki auf der Krim Einzug und setzten die Führer der krimtatarischen Republik ab, die infolgedessen aufhörte zu existieren.
Insbesondere der 18. Mai 1944 gilt als schwarzer Tag in der Geschichte der Krimtataren. An diesem Tag begannen die von Stalin angeordneten Deportationen, durch die innerhalb weniger Tage alle Krimtataren zwangsweise von der Krim nach Zentralasien, Sibirien und in den Ural umgesiedelt wurden. Nahezu die Hälfte überlebte die Deportationen nicht. Sage und schreibe 45 Jahre friedlichen Widerstand leisteten die Krimtataren während der Sowjetzeit, ehe sie die Erlaubnis bekamen, in ihre angestammten Gebiete zurückzukehren. Weder von der Sowjetunion noch von deren Nachfolgestaat Russland erhielten sie irgendeine Form von Entschädigung, Unterstützung oder auch nur eine Entschuldigung. Sie begannen bei null und wollten natürlich auch ihre demokratischen Institutionen wiederherstellen. 1991 trat der zweite Kurultai zusammen und setzte den Medschlis des Krimtatarischen Volkes ein, ihr höchstes Vertretungsorgan. Geleitet wurde er von Mustafa Dschemiljew, einem bekannten sowjetischen Dissidenten, der wegen seines gewaltlosen Kampfes für die Rechte der Krimtataren insgesamt 15 Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern gesessen hatte. 2013 übernahm sein Stellvertreter, Refat Tschubarow, das Amt. Bis zum Beginn der russischen Besatzung verfügte der Medschlis über ein umfangreiches Netz an Zweigstellen in Städten und Dörfern auf der gesamten Halbinsel.
Im April 2016 verboten die russländischen Besatzungsbehörden den Medschlis des Krimtatarischen Volkes und erklärten ihn zu einer extremistischen Organisation. Verboten wurde er indessen nicht, weil er tatsächlich extremistisch agiert hätte, sondern weil er sich öffentlich gegen die Annexion der Krim positionierte und für die territoriale Einheit der Ukraine eintrat. Mit dem Verbot des Medschlis sind die Krimtataren der russischen Verfolgung praktisch schutzlos ausgeliefert. Die führenden Köpfe der Krimtataren, Dschemiljew und Tschubarow, sowie weitere Volksvertreter wurden ins Exil gedrängt und dürfen nicht auf die Krim einreisen. Auch gegen die stellvertretenden Vorsitzenden des Medschlis wurde ein Strafverfahren eingeleitet: Achtem Tschijhos wurde verhaftet, und Ilmi Umerow wurde beschuldigt, die territoriale Integrität Russlands verletzt zu haben, verurteilt und zur Zwangsbehandlung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Durch die Vermittlung der Türkei kamen beide 2017 in einem Austausch frei und wurden nach Kyjiw gebracht.
Im Mai 2016 wurde Erwin Ibrahimow, der dem Medschlis von Bachtschissarai angehörte, von Unbekannten in russischer Polizeiuniform entführt. Er ist bis zum heutigen Tag verschollen. Im September 2021 wurde der Journalist und erste Stellvertreter des Medschlis, Nariman Dscheljal, der seit der Besetzung der Krim am deutlichsten seine Stimme für eine freie Krim erhoben hat, in Haft genommen. Inhaftiert wurden ebenfalls die beiden Brüder Assan und Asis Achmetow, die man während der ersten Tage in Isolationshaft folterte, um ihnen Geständnisse abzuringen. Gegen die drei wurde eine absurde Anschuldigung vorgebracht: Angeblich hätten sie einen Bombenanschlag auf die Gasleitung in einem Dorf auf der Krim verübt. Tatsächlich hielt sich Dscheljal an diesem Tag nachweislich in Kyjiw auf und nahm an einer Konferenz der Krim-Plattform teil. Die Krim-Plattform ist ein von der Ukraine initiierter, dauerhaft agierender internationaler Verbund zur Beendigung der Krim-Besatzung. An der Konferenz nahmen 46 Delegationen von Staaten und internationalen Organisationen teil, darunter auch Präsidenten. Dscheljal wurde vom Besatzungsgericht der Krim zu 17 Jahren Haft verurteilt – das war Russlands Antwort auf sein Engagement bei der Krim-Plattform.
Die russländischen Behörden haben es auf die nationale und religiöse Identität der Krimtataren abgesehen, auch wenn die meisten Anklagen unter den Punkten „Terrorismus“ und „Extremismus“ erhoben werden. So wurden beispielsweise alle Mitglieder der Menschenrechtsinitiative Solidarität auf der Krim, in der sich zivilgesellschaftlich engagierte Journalisten, Anwälte und Angehörige politischer Gefangener zusammengeschlossen haben, um Aktionen und Hausdurchsuchungen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB bei Krimtataren auf der Halbinsel publik zu machen, unter Berufung auf diese Straftatbestände verurteilt.
Als Gegengewicht zu den „nicht genehmen“ Institutionen und Persönlichkeiten wurden prorussische Vereinigungen gegründet, die den Medschlis ersetzen und zu einer prorussischen Stimme der einheimischen Bevölkerung werden sollten. Da sich die Krimtataren jedoch ihrer historischen Tradition demokratischer Herrschaft bewusst sind, ihre Erinnerung pflegen und Menschenwürde und Freiheit als zentrale Werte vertreten, haben sie sich diesen Organisationen nicht angeschlossen.
Militarisierung
Bis 2014 war die Krim das wichtigste Urlaubsgebiet der Ukraine. Jeden Sommer reisten Millionen von Erholungssuchenden dorthin. Die im Westen vom Schwarzen Meer und im Osten vom Asowschen Meer umschlossene Halbinsel ist berühmt für atemberaubende Landschaften, ihre Südküste mit tropischem und subtropischem Klima, eine besondere Flora und Fauna, Heilschlämme, auserlesene Weine und Speisen sowie die einzigartige krimtatarische Kultur und Architektur. Sie war zudem Ausrichtungsort für zahlreiche international renommierte Veranstaltungen, unter anderem „Kazantip“, ein Festival für elektronische Musik, die internationale Rallye „Prime Yalta Rally“ sowie die geopolitische Konferenz „Yalta European Strategy“, auf der führende Politiker und Experten die Zukunft der Ukraine und der Europäischen Union diskutierten.
Seit der Annexion können diese und andere wichtige Veranstaltungen nicht mehr auf der Krim stattfinden. Manche haben in einer anderen Region der Ukraine eine neue Heimat gefunden. Die Krim ist heute ein russischer Militärstützpunkt. Umfangreiche, zuvor eingemottete Militärtechnik aus der Sowjetzeit wird wieder in Betrieb genommen. Russland schickt militärische Ausrüstung, Truppen und Sicherheitsdienstler. Seit dem russischen Großangriff auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 werden von der Krim permanent Raketen auf die Ukraine abgefeuert, die Halbinsel ist zu einem Aufmarschgebiet von Truppen für weitere Angriffe geworden.
Seit September 2022 versucht Russland zudem, Personen aus den besetzten Gebieten unter Zwang für die Armee zu rekrutieren. Am schlimmsten betroffen sind die Krimtataren: Im ersten Kriegsmonat gingen 90 Prozent aller Einberufungen an sie, obwohl sie nur 13,5 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Damit rächt sich die Besatzungsmacht für ihre proukrainische Haltung und ihr Streben nach Souveränität. Völkerrechtlich gesehen ist diese besondere Form der Repression ein Kriegsverbrechen. Laut Genfer Flüchtlingskonvention darf eine Besatzungsmacht Personen, die unter ihrer Obhut stehen, nicht zwingen, in ihren Streitkräften oder Hilfstruppen Dienst zu tun. Dieses Verbrechen könnte zu einem erneuten Völkermord an der angestammten Bevölkerung der Krim führen. Russland schickt die Krimtataren in den Kampf gegen ihr eigenes Land sowie gegen andere Krimtataren, die in den ukrainischen Streitkräften kämpfen. Das ist der Versuch, die männliche Bevölkerung auszulöschen und die ansässige Bevölkerung ein weiteres Mal aus ihren Siedlungsgebieten zu vertreiben. Allein seit September 2022 haben Zehntausende Krimtataren die Halbinsel verlassen.
Besonders gefährlich ist die mentale Militarisierung, die bereits im Kindesalter beginnt. In den Kindergärten müssen die Kinder an sogenannten Gedenktagen Georgsbänder (schwarz-orange gestreifte militärische Abzeichen) und stilisierte Uniformen der Sowjetarmee tragen. Nach der 5. Klasse werden die Kinder gedrängt, der paramilitärischen Organisation Junarmija (Junge Armee) beizutreten, die bis Ende 2024 zehn Prozent aller Schüler in ihren Reihen versammeln will. Außerdem sollen Kadettenklassen eingerichtet werden, geplant sind 160 Klassen in 50 Schulen. In diesen Verbänden werden die russische Armee und der Krieg verherrlicht, die „russische Größe“ und das neue Heldentum beschworen, die Ukraine zum Erzfeind Russlands erklärt und die Besatzung der Halbinsel glorifiziert. Krimtatarische Kinder, die sich weigern, an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen, werden benachteiligt und diskriminiert. Ja, bereits Kindergartenkinder werden schikaniert, wenn sie kein Familienfoto vom separatistischen „Krim-Frühling 2014“ vorweisen können.
Bevölkerungsaustausch
Nach Schätzungen ukrainischer Nichtregierungsorganisationen haben etwa 70000 Einwohner als Folge der Besatzung die Halbinsel verlassen, mehr als die Hälfte davon Krimtataren. Viele Fachkräfte sind abgewandert. Gegangen sind vor allem die Leistungsträger, die ihre Tätigkeit unter der Besatzung nicht mehr fortsetzen konnten. Young Professionals, Studierende, Unternehmer, soziale und politische Aktivisten, Journalisten, Künstler und Pädagogen haben sich inzwischen in Kyjiw, Lwiw, Cherson, Dnipro und anderen Regionen der Ukraine, in anderen europäischen Ländern, in der Türkei oder Nordamerika ein neues Leben aufgebaut.
Aber es gibt auch einen gegenläufigen Trend. Die Halbinsel wird von Russen kolonisiert, die mit ihren Familien auf die Krim ziehen, darunter Militärs, Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Geheimdienstmitarbeiter, Wirtschaftsvertreter und Rentner. Sie kaufen Wohneigentum oder erhalten es zu vergünstigten Bedingungen. Es gibt Sonderprogramme, die die Übersiedlung auf die Krim für bestimmte soziale Gruppen attraktiv machen soll, unter anderem für Landärzte und Dorflehrer. Heute beläuft sich die Zahl der Russen, die seit 2014 auf die Krim gezogen sind, nach Schätzungen der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte auf bis zu 800000, sie stellen mittlerweile ein Drittel der Gesamtbevölkerung.
In den vergangenen 240 Jahren hat Russland mit seiner imperialen Politik immer wieder versucht, die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Krim-Bevölkerung zu verändern und die dort ansässigen Krimtataren zu verdrängen oder auszulöschen. 1783, vor der Annexion durch Katharina II., waren beispielsweise 95 Prozent der Bevölkerung der Halbinsel Krimtataren, heute sind es, wie gesagt, nur noch etwas über 13 Prozent.
Schaffung einer neuen, künstlichen Identität
Wenn sich die Identität eines Menschen verändert, ist dieser Wandel vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber er bestimmt künftige Verhaltensmuster. Auch Gruppen können einem solchen Wandel ausgesetzt sein, wenn man ihnen das Wertvollste – ihre Freiheit – nimmt und sie unterwirft und belügt. So verfährt Russland mit den Bewohnern der Krim, denn es empfindet ihre ausgeprägte ukrainische und krimtatarische Identität als bedrohlich.
Von Anfang an unterdrückte Russland die Meinungsfreiheit, um die Verbreitung von unabhängigen Informationen zu verhindern. Bis 2014 hatte es einen Boom krimtatarischer Medien gegeben, der maßgeblich zur Belebung der krimtatarischen Kultur beitrug. Hörer und Leser konnten zahlreiche Beiträge zu den unterschiedlichsten Themen in ihrer Muttersprache rezipieren. Gleichzeitig wurden ukrainischsprachige Medien gegründet, und die ukrainischen Leitmedien unterhielten Niederlassungen auf der Halbinsel. Nach 2014 mussten diese Medien aufgrund des umfassenden Drucks, der Repressionen gegen Journalisten und des Entzugs von Sende- und Drucklizenzen durch die russische Regulierungsbehörde entweder nach Kyjiw übersiedeln, wie etwa der erste krimtatarische Fernsehsender ATR, die Schwarzmeer-TV-und-Radio-Gesellschaft und die Nachrichtenagentur QHA, oder im Eigenverlag mit kleinen Auflagen und ohne Vertriebsnetz halblegal weiterarbeiten. Viele freie Journalisten haben die Halbinsel verlassen; wer geblieben ist, schreibt zumeist unter Pseudonym, andere haben ihren Beruf aufgegeben. Die Besatzungsbehörden haben inzwischen neue ukrainische und krimtatarische Medien ins Leben gerufen, die russische Propaganda verbreiten und auf Desinformation programmiert sind. Dies war der erste Schritt zur Isolierung der Halbinsel und zur Formung kremltreuer Untertanen.
Darüber hinaus setzt die russische neoimperiale Politik darauf, die historischen und kulturellen Bindungen der Krim an das ukrainische Festland zu zerstören und die Halbinsel in allen Belangen Russland zu unterwerfen. So wurde etwa der Besuch der Wahllokale bei der Wahl zu den Gemeinderäten der Russländischen Föderation überwacht. Auch werden den Bewohnern russische Pässe aufgenötigt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besitzen die meisten Krim-Bewohner zwei Pässe – den ukrainischen und den russischen –, da sie ohne Letzteren keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen können. Sie werden zur Teilnahme an politischen Aktionen zwangsverpflichtet. Die Geschichte der Krim wird verzerrt dargestellt, der Schulunterricht ist von Propaganda geprägt.
In der Öffentlichkeit kursiert seit einiger Zeit der Begriff „Krimvolk“. Es ist der Versuch, alle auf der Krim lebenden Personen ungeachtet ihrer Herkunft unter einer Kategorie zusammenzufassen, um so den Mythos von der Krim als ewig russländisches Gebiet fortzuschreiben und der Selbstidentifikation der Krimtataren und Ukrainer etwas entgegenzusetzen. Ähnliche Narrative wurden bereits während der Sowjetjahre verbreitet. Seinerzeit sprach man vom „Sowjetvolk“, um die nationalen Eigenheiten der Völker zu verwischen, alle Spuren von Eigenständigkeit zu beseitigen und die Menschen zu einer leicht lenkbaren Masse zu machen, deren größte Gemeinsamkeit darin bestand, einen sowjetischen Pass zu besitzen.
Außerdem kommt es zur Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses der Krimtataren, weil die historische Erinnerung und das materielle und immaterielle Erbe zerstört werden, denn es steht dem Mythos von der russischen Krim im Wege. Äußerst prekär ist der Status des Krimtatarischen. Nach Angaben der Unesco droht die Sprache auszusterben. Seit der Besetzung der Halbinsel wurde der Krimtatarisch-Unterricht in den Schulen systematisch reduziert; derzeit haben nur noch drei Prozent der Schüler die Möglichkeit, die Sprache zu erlernen, und auch das nur fakultativ. Deshalb gründen Eltern nun Privatinitiativen, um Sprachkurse anzubieten. Andere vermitteln Krimtatarisch im Homeschooling. Noch schlechter ist es um den Ukrainisch-Unterricht bestellt. Seit dem Schuljahr 2023/24 wird Ukrainisch nicht mehr angeboten, nicht einmal als Wahlfach.
Ein Beispiel für die barbarische Zerstörung des materiellen Kulturerbes ist die Beschädigung des Khan-Palastes in Bachtschissarai. Der Palast ist ein Baudenkmal aus dem 16. Jahrhundert und ein wichtiges Symbol der krimtatarischen Identität. Während der Restaurierungsarbeiten, die bereits seit mehreren Jahren liefen, wurden historische Baumaterialien durch heutige ersetzt. So wurden zum Beispiel statt handgefertigter Dachziegel moderne Ziegel aus spanischer Serienproduktion angebracht, die Originalholzbalken wurden zerstört, und infolge zu schwerer Baugerüste ist in einer Fassade ein Riss entstanden.
Der russländische Repressionsapparat versucht sogar, den Krimtataren ihr Recht auf Erinnerung zu nehmen, indem er unter anderem das öffentliche Gedenken an die Opfer von Stalins Völkermord 1944 unterbindet. 2014 verboten die Besatzungsbehörden die Gedenkversammlung auf dem zentralen Platz von Simferopol, zu der traditionell jedes Jahr Krimtataren von der gesamten Halbinsel zusammenkommen. Die Kundgebungsteilnehmer mussten auf den städtischen Friedhof ausweichen, der von russischen Sicherheitskräften umstellt und von Hubschraubern überwacht wurde, deren Fluggeräusche die Gedenkredner übertönten. In den folgenden Jahren untersagten die Besatzer das öffentliche Gedenken an die Opfer des Völkermordes und warnten die krimtatarischen Aktivisten im Vorfeld vor den drohenden Konsequenzen jeglicher Art öffentlicher Gedenkaktivitäten.
Die wichtigste Kraft im Kampf gegen die Assimilierung der ukrainischen Gemeinde war seit dem Beginn der Besatzung die orthodoxe Kirche der Ukraine, die Menschen zusammenbrachte und Raum für den Erhalt von Sprache, Tradition und Religion bot. Die Besatzungsbehörden verfolgten allerdings auch Priester und Gemeindemitglieder. Sie verschleppten und folterten sie, beschlagnahmten das Eigentum der Kirche und ihre Gotteshäuser. Metropolit Klyment, der Vorsteher der Gemeinde, erklärte die Kirche zur ukrainischen Ortskirche, hielt Gottesdienste auf Ukrainisch ab und betete für die Ukraine. Doch seit 2023 existiert die Krim-Diözese praktisch nicht mehr, wegen der drohenden Einberufung zur Armee mussten alle Priester die Krim verlassen.
Seit Februar 2022 haben die sogenannten Krim-Gerichte 472 Bewohner der Krim wegen Verunglimpfung der russischen Armee zivil- oder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, weil sie ihre ukrainische Identität und ihre Antikriegshaltung öffentlich gezeigt haben – etwa durch das Tragen ukrainischer Symbole, das Singen der ukrainischen Hymne oder das Tanzen zu ukrainischen Liedern, das Aufbringen von Aufschriften wie „Mariupol“, „Butscha“ oder „Irpin“ auf Bänken in Sewastopol oder das Verteilen von Flugblättern zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte. Im Mai 2023 übergoss der Künstler Bohdan Sisa die Türen und die Fassade der Besatzungsverwaltung in Jewpatorija mit blauer und gelber Farbe. Daraufhin wurde er von russischen Sicherheitskräften entführt, gefoltert, eingesperrt und unter anderem des Terrorismus angeklagt. Ihm drohen 15 Jahre Haft.
Seit 2022 wendet Russland die auf der Krim erprobten Methoden auch in anderen besetzten Gebieten an, unter anderem in Saporischschja und Cherson. Trotz der Versuche Russlands, öffentliche Loyalitätsbekundungen der Krim-Bewohner zu erzwingen, hält ein großer Teil von ihnen an freiheitlich-demokratischen Grundwerten fest. Die Menschen hoffen weiter auf ein Ende der Besatzung. Sie finden Kraft, um auf vielfache Weise Widerstand zu leisten, damit sie in Zukunft wieder frei auf der Halbinsel leben können. Ausdruck dafür sind die krimtatarische und die ukrainische Flagge, deren beider Farben gelb und blau sind.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Frankfurt/O.