In der westlichen Welt wurde das Ende der Sowjetunion lange Zeit als bemerkenswerte Ausnahme unter den imperialen Zusammenbrüchen gedeutet: Hier war ein Großreich zerfallen, ohne dass es dabei zu Krieg und Massengewalt gekommen war.
Der friedliche Wandel im Osten Deutschlands und in Ostmitteleuropa verstellte uns den Blick auf die gewalttätigen Konflikte, die sich im Baltikum, dem Kaukasus und in Zentralasien abspielten. Bereits 1988 kam es in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zu Pogromen, und kurz darauf eskalierte der Krieg um Bergkarabach.
1990er Jahre: der Weg in die Gewalt
Von Weihnachten 1979 bis Januar 1989 führte die UdSSR Krieg in ihrem Nachbarland Afghanistan. Das Ziel der sowjetischen Invasion war ursprünglich die Unterstützung des pro-sowjetischen Regimes gegen eine islamisch inspirierte Rebellion. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich am Hindukusch ein Partisanenkrieg, der von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt wurde. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte die sowjetische Führung verstanden, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Doch erst 1988 gestand sich der Kreml die Niederlage ein und begann den Truppenabzug. Zehntausende sowjetischer Soldaten machten in den 1980er Jahren massive Gewalterfahrungen in Afghanistan.
Im Kongress der Volksdeputierten, einem von Gorbatschow ins Leben gerufenen Parlament, bildeten die afgancy seit 1989 eine "patriotische" Fraktion, die für sich in Anspruch nahm, die Interessen der Armee und eines starken, imperialen Staates zu vertreten. Die Niederlage am Hindukusch führte in vielen Fällen in die politische Radikalisierung. Veteranen des Afghanistankrieges und der Geheimdienste waren neben slawophilen Nationalisten und Monarchie-Nostalgikern die ersten, die sich dem Kurs der Westernisierung und Demokratisierung offensiv entgegenstellten.
Während der Machtkampf zwischen Boris Jelzin und Michail Gorbatschow im Herbst 1991 gewaltfrei ausgetragen wurde, kam es im Oktober 1993 zur militärischen Eskalation zwischen dem russischen Präsidenten und dem Volksdeputiertenkongress beziehungsweise Obersten Sowjet Russlands in Moskau. In dieser Verfassungskrise beanspruchten beide Seiten die Staatsmacht für sich: Jelzin erklärte die Auflösung des Parlaments und das Parlament die Absetzung Jelzins. Im Geiste von 1989 wäre es in dieser Krise sicher möglich gewesen, eine Verhandlungslösung zu finden. Doch dazu kam es nicht. Während sich die Deputierten im "Weißen Haus" in Moskau verbarrikadierten, suchte Jelzin den Schulterschluss mit der Armee, die am 4. Oktober 1993 im Beschuss des Gebäudes durch Panzertruppen gipfelte. Die autokratische Verfassung des neuen Russland wurde gewaltsam durchgesetzt. Das Bombardement des Parlaments und der Einsatz von Panzern in Moskau waren ein schlechtes Omen für die politische Entwicklung. Die Normalisierung militärischer Gewalt begann bereits zu Beginn der 1990er Jahre.
Vom Sturm auf den Obersten Sowjet führte der Weg in den ersten Tschetschenienkrieg. Auch hier wurde 1994 keine Verhandlungslösung mehr gesucht. Der mittlerweile unpopuläre Jelzin glaubte vielmehr, ein kurzer, siegreicher Krieg würde ihm neue Legitimität verschaffen. Doch im Kaukasus wiederholte sich nicht nur das militärische Scheitern des Afghanistaneinsatzes, sondern auch dessen Grausamkeit: Beobachter wurden Zeugen russischer Gräueltaten und Kriegsverbrechen, die in Geiselnahmen, Deportationen und der Zerstörung der Stadt Grosny gipfelten.
Sowohl der autokratische Umbau als auch die Remilitarisierung Russlands begannen unter Jelzins Präsidentschaft. Zugleich stiegen Offiziere aus Militär und Geheimdienst in der russischen Politik auf.
Putins imperiale Mission
Der Politiker Wladimir Putin ist ein Produkt seiner Ausbildung im KGB und der russischen Politik der 1990er Jahre.
Putin ist in der Ordnung von Jalta aufgewachsen, die sein imperiales Denken geprägt hat. Den Verlust der stalinschen Einflusssphäre, die bis nach Berlin reichte, und das Ende der UdSSR hat er bis heute nicht überwunden. In wenigen Jahren stieg er vom Geheimdienstchef zum Premierminister auf. Im Sommer 1999 wählte ihn das Umfeld des kranken Präsidenten Jelzin als neuen Machthaber aus. Putin wurde auserkoren, weil er als Vertreter des Sicherheitsapparates für einen autoritären Kurs stand. Seine Ziele waren die Konsolidierung des Staates und die Wiederherstellung einer russischen Großmachtstellung in Europa und der Welt. Mit seiner Person kehrten die sowjetischen Strukturen und imperiale Mentalität an die Schaltstellen der Macht zurück.
Putins erste Entscheidung als Premierminister war die Wiederaufnahme der militärischen Operationen im abtrünnigen Tschetschenien. Dass er Jelzins Niederlage von 1995 revidierte, legte den Grundstein für sein öffentliches Ansehen und seine Wahl zum Präsidenten im März 2000. Durch den massiven Einsatz von Armee und Geheimdiensten gelang es ihm, die Kaukasusrepublik in einem mehrjährigen brutalen Feldzug zu unterwerfen. Der Zweite Tschetschenienkrieg wurde zum Leitmotiv seiner Ära: Der neue Präsident setzte auf militärische Gewalt, Krieg wurde zu seinem Markenzeichen. Da er seine Politik zunächst noch mit Kooperationsangeboten an den Westen bemäntelte, wurde Putin trotz massiver Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus und autoritärem Umbau im Inneren keineswegs zu einem Paria der internationalen Politik. Im Gegenteil: Im September 2002, während der Tschetschenienkrieg tobte, wurde er vom Deutschen Bundestag eingeladen und mit Ovationen bedacht. Offenbar gaben ihm die deutschen Parlamentarier Carte blanche für sein militärisches Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung. Dabei wurden seit Stalins Zeiten nicht mehr so viele russische Staatsbürger durch ihre eigene Regierung ermordet. Die Massengewalt und die Massaker kehrten zurück, während der Westen die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschloss.
Kurz vor ihrer Ermordung 2006 zog die Journalistin Anna Politkowskaja eine persönliche Bilanz zur russischen Politik. Sie stellte damals bereits die Frage, warum die Gewalttäter nicht verfolgt würden. Zugleich sah sie die Entwicklung der 2000er Jahre in Russland als Resultat vergangener Fehlentscheidungen. Sie beschrieb die Rückkehr der Repression als Konsequenz mangelnder Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte: "Wie eine chronische Krankheit neigt die Geschichte zu Rückfällen. Heilung hätte nur eines bringen können, eine moderne Chemotherapie, die alle todbringenden Zellen vernichtet. Diese Heilungschance wurde verpasst, wir haben sämtliche sowjetische Wanzen aus der UdSSR in das ‚neue Russland‘ mit hinübergeschleppt. Das Ende vom Lied – Staatssicherheit, wohin man blickt."
Die Belege für russische Kriegsverbrechen in beiden Tschetschenienkriegen sind vielfältig. Über Jahre hinweg gab es massive Menschenrechtsverletzungen: Immer wieder kam es zu willkürlichen Tötungen, wurden Menschen deportiert, Dörfer geplündert und Frauen misshandelt. Dies hatten russische Journalistinnen wie Anna Politkowskaja schon früh dokumentiert. Hinzu kommen westliche Institutionen, die sich gezielt mit dem russischen Vorgehen beschäftigt haben. So werden auf der Website des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg Hunderte Fälle von Verbrechen russischer Streitkräfte minutiös dokumentiert.
Auf den Kampf gegen den Separatismus folgte der imperiale Revanchismus. Nach dem offiziellen Ende des Zweiten Tschetschenienkrieges formulierte Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 Russlands neue Mission: den Kampf gegen die vermeintlich vom Westen dominierte Weltordnung. Putin warf den USA vor, dem Rest der Welt ihren Willen aufzuzwingen. Zugleich warnte er die Nato davor, weitere Mitglieder aus Osteuropa aufzunehmen. Diese russischen Drohungen beeindruckten vor allem die Regierung Merkel in Berlin. Zusammen mit den Franzosen verhinderte Angela Merkel 2008 eine zügige Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die westliche Allianz.
Von 1991 bis 2008 führte Moskau Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten und ergriff Partei in postsowjetischen Konflikten von Moldau bis Tadschikistan. Doch im August 2008 führte Russland erstmals offen Krieg gegen einen souveränen Nachbarstaat – Georgien.
Für die russische Elite, aber auch für Wladimir Putin persönlich, hat die Ukraine ein wesentlich größeres Gewicht als Georgien.
Da die Moskauer Einflussnahme auf die ukrainische Innenpolitik 2014 zunächst gescheitert war, griff der Kreml zu militärischen Mitteln, um die Ukraine für ihre Westorientierung zu bestrafen. Unmittelbar nach dem Euromaidan befahl Putin eine verdeckte Militäroperation, die bereits nach wenigen Wochen zur völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim führte. Die ursprüngliche Reaktion des Westens auf diese gewaltsame Veränderung von Grenzen in Europa – ein klarer Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen, den Vertrag von Helsinki und das Budapester Memorandum – blieb verhalten. Zunächst wurden nur einige russische Funktionäre mit einem Einreiseverbot belegt. Die zurückhaltende Reaktion des Westens und der rasche Erfolg auf der Krim haben sicher dazu beigetragen, dass der Kreml sich im Frühjahr 2014 entschloss, die Operationen des russischen Militärs und der Geheimdienste auch auf den Osten und Süden der Ukraine auszudehnen.
Seit Sommer 2014 zielten militärische Interventionen Russlands auf die Zerstückelung der Ukraine und die Zerstörung ihrer Souveränität. Zunächst verdeckt operierend und mithilfe von Söldnern, aber bald auch mit getarnten regulären Einheiten, setzte sich Russland im Donbas fest. Wegen des schlechten Zustands der eigenen Streitkräfte, die über Jahrzehnte vernachlässigt worden waren, wurde die Ukraine zunächst primär von Freiwilligenverbänden und Veteranen des Maidan verteidigt. Trotz dieses Einsatzes irregulärer Kräfte, der den Beginn des Krieges auf beiden Seiten prägte, existieren zahlreiche Belege dafür, dass die gesamte Operation aus Moskau gesteuert wurde.
Trotz zahlreicher Warnungen aus Osteuropa, der Ukraine und den USA hielt die Bundesregierung auch nach dem Angriff auf die Ukraine an der engen Energiepartnerschaft mit Russland fest. Durch den Abschluss des Vertrages über die Ostsee-Pipeline "Nord Stream 2" – primär ein geopolitisches und antiukrainisches Projekt – sandte das politische Berlin 2015 erneut die falschen Signale an Moskau. Die Bundesregierung, so durfte der Kreml annehmen, duldete weiterhin das gewaltsame Vorgehen Russlands und akzeptierte implizit militärische Interventionen im postsowjetischen Raum – so lange diese nicht Nato-Staaten betrafen. Mit dem Vorantreiben von "Nord Stream 2" entgegen jahrelang vorgetragener Proteste internationaler Partner verfolgte Berlin einen Sonderweg und machte sich zum Komplizen der negativen Ukrainepolitik Putins; das Pipelineprojekt war gleichsam das Rapallo der Merkel-Ära. Der faustische Energiepakt mit Russland hat die Reputation der Bundesrepublik in Osteuropa langfristig beschädigt.
Der Weg in den zweiten Ukraine-Krieg
Russlands erste Invasion in die Ukraine endete mit zwei ungleichen Waffenstillstandsverträgen, in denen die Ukraine einen Teil ihrer Souveränität im Donbas abtreten musste: Minsk I und II. Beide Abkommen wurden ohne die USA unter dem Dach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Deutschland und Frankreich mit der Ukraine und Russland verhandelt. Dabei wurde die Fiktion aufrechterhalten, dass es keinen russischen Überfall auf die Ukraine gegeben habe. Auch wurden die von Moskau unterstützten "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk zu Verhandlungspartnern aufgewertet. Die Ukraine wurde in Minsk verpflichtet, eine Verfassungsreform einzuleiten, die zu einer dauerhaften Schwächung des ukrainischen Staates führen würde. Den Separatistengebieten wurde ein "besonderer Status" in Aussicht gestellt. Aufgrund dieser Bedingungen wurden die Minsker Abkommen in der internationalen Öffentlichkeit als persönlicher Sieg des russischen Präsidenten und seiner revanchistischen Politik gedeutet. Ihre militärische Schwäche nötigte die Ukraine dazu, ihnen zuzustimmen. Trotz dieses Ungleichgewichts hat die deutsche Diplomatie bis in die jüngste Vergangenheit nach Wegen gesucht, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen ("Steinmeier-Formel"). Der deutsche Unwille, Russland als Aggressor zu brandmarken und die Ukrainer als rechtmäßige Verteidiger ihrer staatlichen Souveränität zu unterstützen, bedeutete de facto eine Unterstützung der Politik Putins. Die Bestimmungen in den Minsker Verträgen blieben für eine demokratische Ukraine unerfüllbar. Sie hätten eine weitere Aufwertung der Gewaltherrscher und Kollaborateure im Osten des Landes nach sich gezogen.
Wie in Tschetschenien errichtete Russland auch im besetzten Donbas autoritäre Regime mit kriminellen Zügen. In den selbsternannten "Volksrepubliken" fanden jahrelang systematische Menschenrechtsverletzungen statt. Willkürliche Verhaftungen, Folter und lange Strafen gehören seit 2014 zum Alltag im besetzten Donbas.
Für die Ukraine bedeuteten die Verträge Minsk I und II eine militärische Atempause. Nach dem ersten russischen Angriff konnten sich Staat und Gesellschaft zunächst konsolidieren. Der Krieg ging dabei – ohne wirkliche Anteilnahme der europäischen Öffentlichkeit – auf niedrigem Niveau weiter. Eine vollständige Waffenruhe konnte durch die Minsker Verträge nicht erreicht werden. Die Weigerung des Westens, insbesondere auch Deutschlands, die Ukraine mit Logistik und Waffen zu unterstützen, begünstigten den Kreml erneut. Ohne westliche Hilfe konnte die Ukraine kein ausreichendes Abschreckungspotenzial aufbauen. Russland blieb militärisch dominant und konnte sich jederzeit dazu entscheiden, den eingefrorenen Konflikt wieder anzuheizen. Der Westen hat diese russische Eskalationsdominanz bis zum Februar 2022 akzeptiert, obwohl sie seinem Interesse an Frieden und Stabilität widersprach. Letztlich führte die Selbstbeschränkung der westlichen Diplomatie dazu, dass der Kreml nach Belieben bestimmen konnte, ob in Europa Krieg oder Frieden herrscht. Lediglich an der Ostflanke der Nato begann das Bündnis ab 2016 zögerlich, seine militärische Präsenz auszubauen. Zuvor war das Baltikum nur auf dem Papier Teil der Nato – sie bot keinen militärischen Schutz gegen die russische Aggression.
Trotz der westlichen Dialogangebote setzte Putin seine antiukrainische Politik fort. Sein Artikel "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer", der im Juli 2021 auf der Website des Kreml veröffentlicht wurde, markiert einen weiteren Meilenstein.
Die von Russland geführten Kriege im postsowjetischen Raum haben bis 2022 nicht dazu geführt, die eigene Ostpolitik oder die wachsende Energieabhängigkeit grundsätzlich zu diskutieren. Bis zuletzt glaubte das politische Berlin an die Kraft des bilateralen Dialogs. Erst als die Bomben bereits in Kyjiw einschlugen, erkannte Bundeskanzler Olaf Scholz eine "Zeitenwende". Wie in den vergangenen Jahrzehnten geht auch beim zweiten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Verschärfung innenpolitischer Repressionen in Russland mit außenpolitischer Aggression einher – ein Muster, das man bereits in den Tschetschenienkriegen beobachten konnte. Gewalt und Repression bedingen sich: Für Putins Russland bedeutet der Kriegsausbruch den Übergang von der Autokratie zur offenen Diktatur. Die letzten Überreste der demokratischen Fassade, die in den 1990er Jahren errichtet wurde, hat das Regime nun eingerissen.
Für den Westen und Deutschland bleibt die Erkenntnis, dass wir illegitime militärische Gewalt ernster nehmen sollten. Lange Zeit hielten Brüssel und Berlin die postsowjetischen Kriege für Kavaliersdelikte von Boris Jelzin und Wladimir Putin. Tatsächlich bereiteten sie den Weg für eine Normalisierung militärischer Gewalt als Mittel revanchistischer Politik. In die Neuausrichtung deutscher und europäischer Politik gegenüber Russland und anderen autoritären Regimen und Diktaturen sollten die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte einfließen. Zu lange ließen Berliner Regierungen den Kreml gewähren, zu oft wurde mit zweierlei Maß gemessen, zu sehr waren wir auf die Sicherung eines Status quo bedacht, den der Kreml längst militärisch bekämpfte.