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Unter dem deutschen Radar | Krieg in Europa | bpb.de

Krieg in Europa Editorial Die europäische Nachkriegsordnung. Ein Nachruf Europas neue (Un-)Sicherheit. Von der Friedens- zur Konfliktordnung Im Osten nichts Neues. Was der Westen übersah – oder ignorierte Unter dem deutschen Radar. Die postsowjetischen Kriege 1991 bis 2022 Zur Gegenwart der Geschichte im russisch-ukrainischen Krieg Das System Putin. Regimepersonalisierung in Russland und der Krieg gegen die Ukraine Desinformation als Waffe. Über einen Krieg, den Russland seit Jahren führt

Unter dem deutschen Radar Die postsowjetischen Kriege 1991 bis 2022

Jan Claas Behrends

/ 16 Minuten zu lesen

Die von Russland geführten Kriege haben bis 2022 nicht dazu geführt, dass Berlin seine Russlandpolitik revidiert hat. Bis zuletzt glaubte Berlin an die Kraft des Dialogs und Handels. Es bleibt die Erkenntnis, dass der Einsatz illegitimer militärischer Gewalt sanktioniert werden muss.

In der westlichen Welt wurde das Ende der Sowjetunion lange Zeit als bemerkenswerte Ausnahme unter den imperialen Zusammenbrüchen gedeutet: Hier war ein Großreich zerfallen, ohne dass es dabei zu Krieg und Massengewalt gekommen war. Die Perestrojka Michail Gorbatschows stand schließlich unter dem Zeichen einer "oktroyierten Zivilisierung" der kommunistischen Diktatur. An die Stelle von Gewalt und Repression sollte ein neues Verhältnis zwischen dem sowjetischen Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern treten. Doch die Schwächung der eisernen Parteiherrschaft führte kurzfristig nicht in die Demokratie. Durch die entstehenden Macht- und Verteilungskämpfe in einem waffenstarrenden Imperium kam es in der UdSSR bereits während der Perestrojka zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.

Der friedliche Wandel im Osten Deutschlands und in Ostmitteleuropa verstellte uns den Blick auf die gewalttätigen Konflikte, die sich im Baltikum, dem Kaukasus und in Zentralasien abspielten. Bereits 1988 kam es in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zu Pogromen, und kurz darauf eskalierte der Krieg um Bergkarabach. Im Jahr des sowjetischen Zusammenbruchs 1991 kam es zu Einsätzen der Armee gegen friedliche Bürger in Tbilissi und Vilnius, den Hauptstädten Georgiens und Litauens. Das Ergebnis dieser Ereignisse waren Dutzende Verletzte und Tote. Doch im Vergleich zur Eskalation in Jugoslawien erschienen die postsowjetischen Konflikte zunächst als historische Marginalie. Die drei großen slawischen Republiken – Russland, die Ukraine und Belarus – lösten ihre Konflikte zunächst friedlich. Sie respektierten ihre Grenzen und verständigten sich in der Frage der Aufteilung von Armee, Flotte und Atomwaffen. Dabei trat die Russische Föderation das Erbe der UdSSR als nukleare Großmacht an. Militärische Konflikte beschränkten sich zunächst auf die Peripherien des untergegangenen Sowjetreiches: in Transnistrien, in Tadschikistan oder auch in Georgien schlugen politische Machtfragen bereits 1992 in Gewalt um. Hier endete die sowjetische Epoche im Bürgerkrieg.

1990er Jahre: der Weg in die Gewalt

Von Weihnachten 1979 bis Januar 1989 führte die UdSSR Krieg in ihrem Nachbarland Afghanistan. Das Ziel der sowjetischen Invasion war ursprünglich die Unterstützung des pro-sowjetischen Regimes gegen eine islamisch inspirierte Rebellion. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich am Hindukusch ein Partisanenkrieg, der von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt wurde. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte die sowjetische Führung verstanden, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Doch erst 1988 gestand sich der Kreml die Niederlage ein und begann den Truppenabzug. Zehntausende sowjetischer Soldaten machten in den 1980er Jahren massive Gewalterfahrungen in Afghanistan.

Im Kongress der Volksdeputierten, einem von Gorbatschow ins Leben gerufenen Parlament, bildeten die afgancy seit 1989 eine "patriotische" Fraktion, die für sich in Anspruch nahm, die Interessen der Armee und eines starken, imperialen Staates zu vertreten. Die Niederlage am Hindukusch führte in vielen Fällen in die politische Radikalisierung. Veteranen des Afghanistankrieges und der Geheimdienste waren neben slawophilen Nationalisten und Monarchie-Nostalgikern die ersten, die sich dem Kurs der Westernisierung und Demokratisierung offensiv entgegenstellten. Mit einflussreichen Figuren wie Vizepräsident Alexander Ruzkoi, Verteidigungsminister Pawel Gratschow oder dem General Alexander Lebed war diese Strömung bereits früh in der postsowjetischen Politik präsent. Die Sprache ihrer Vertreter war in der Regel martialisch, und sie scheuten nicht davor zurück, in Konflikten militärische Gewalt einzusetzen. Die Gruppe der Offiziere und Veteranen prägten in der Folge die russische Politik der 1990er Jahre.

Während der Machtkampf zwischen Boris Jelzin und Michail Gorbatschow im Herbst 1991 gewaltfrei ausgetragen wurde, kam es im Oktober 1993 zur militärischen Eskalation zwischen dem russischen Präsidenten und dem Volksdeputiertenkongress beziehungsweise Obersten Sowjet Russlands in Moskau. In dieser Verfassungskrise beanspruchten beide Seiten die Staatsmacht für sich: Jelzin erklärte die Auflösung des Parlaments und das Parlament die Absetzung Jelzins. Im Geiste von 1989 wäre es in dieser Krise sicher möglich gewesen, eine Verhandlungslösung zu finden. Doch dazu kam es nicht. Während sich die Deputierten im "Weißen Haus" in Moskau verbarrikadierten, suchte Jelzin den Schulterschluss mit der Armee, die am 4. Oktober 1993 im Beschuss des Gebäudes durch Panzertruppen gipfelte. Die autokratische Verfassung des neuen Russland wurde gewaltsam durchgesetzt. Das Bombardement des Parlaments und der Einsatz von Panzern in Moskau waren ein schlechtes Omen für die politische Entwicklung. Die Normalisierung militärischer Gewalt begann bereits zu Beginn der 1990er Jahre.

Vom Sturm auf den Obersten Sowjet führte der Weg in den ersten Tschetschenienkrieg. Auch hier wurde 1994 keine Verhandlungslösung mehr gesucht. Der mittlerweile unpopuläre Jelzin glaubte vielmehr, ein kurzer, siegreicher Krieg würde ihm neue Legitimität verschaffen. Doch im Kaukasus wiederholte sich nicht nur das militärische Scheitern des Afghanistaneinsatzes, sondern auch dessen Grausamkeit: Beobachter wurden Zeugen russischer Gräueltaten und Kriegsverbrechen, die in Geiselnahmen, Deportationen und der Zerstörung der Stadt Grosny gipfelten. Kritische Stimmen wie die Historikerin Irina Scherbakowa erkannten im Rückblick, dass die Reformperiode, die Gorbatschow begonnen hatte, bereits Mitte der 1990er Jahre endete. Das Ende liberaler Reformen manifestierte sich in der Renaissance der Autokratie und im Weg in die Gewalt. Weder die Alleinherrschaft Jelzins und seiner Entourage noch das brutale Vorgehen in Tschetschenien ließen sich mit dem Ziel der Demokratisierung und dem Aufbau einer offenen Gesellschaft in Einklang bringen.

Sowohl der autokratische Umbau als auch die Remilitarisierung Russlands begannen unter Jelzins Präsidentschaft. Zugleich stiegen Offiziere aus Militär und Geheimdienst in der russischen Politik auf. Diese beiden Machtapparate wurden zwar durch das Ende der UdSSR verkleinert, aber nicht reformiert. Zu Jelzins engerem Umfeld gehörte von Beginn an der KGB-General Alexander Korschakow, der seinen Personenschutz leitete. 1996 löste der Geheimdienstmann Jewgenij Primakow den westlich orientierten Andrej Kosyrew als Außenminister ab. Primakow war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre das erste Gesicht der autoritären Restauration und des imperialen Revanchismus. Unter seiner Ägide positionierte sich der Kreml wieder als antiwestliche Macht. Auch die kurze internationale Entspannungsphase, die unter Gorbatschow begonnen hatte, endete abrupt. Mit dem Kosovokrieg, der Öffnung der Nato nach Osten und dem neoimperialen Selbstverständnis Moskaus entstanden neue Konfliktfelder zwischen Ost und West. In der russischen Elite verfestigte sich nun die Idee, dass die Ordnung von 1989/91 ungerecht sei. Die Frage war nun, welche Mittel der Kreml einsetzen würde, um sie zu revidieren und zu welcher Reaktion der Westen sich durchringen könnte.

Putins imperiale Mission

Der Politiker Wladimir Putin ist ein Produkt seiner Ausbildung im KGB und der russischen Politik der 1990er Jahre. Nach dem Zerfall der DDR, wo er die Perestrojka in Dresden ausgesessen hatte, kehrte er 1990 gedemütigt in seine Heimatstadt Leningrad zurück, die alsbald wieder Sankt Petersburg hieß. Dort brachte er seine geheimdienstliche Expertise in die postsowjetische Stadtpolitik ein. Nach der Abwahl seines Mentors Anatolij Sobtschak als Bürgermeister bekam er einen Posten in Moskau. Damit gehörte Putin zu den Aufsteigern aus dem Milieu der silowiki, der Vertreter des sowjetischen Sicherheitsapparates.

Putin ist in der Ordnung von Jalta aufgewachsen, die sein imperiales Denken geprägt hat. Den Verlust der stalinschen Einflusssphäre, die bis nach Berlin reichte, und das Ende der UdSSR hat er bis heute nicht überwunden. In wenigen Jahren stieg er vom Geheimdienstchef zum Premierminister auf. Im Sommer 1999 wählte ihn das Umfeld des kranken Präsidenten Jelzin als neuen Machthaber aus. Putin wurde auserkoren, weil er als Vertreter des Sicherheitsapparates für einen autoritären Kurs stand. Seine Ziele waren die Konsolidierung des Staates und die Wiederherstellung einer russischen Großmachtstellung in Europa und der Welt. Mit seiner Person kehrten die sowjetischen Strukturen und imperiale Mentalität an die Schaltstellen der Macht zurück.

Putins erste Entscheidung als Premierminister war die Wiederaufnahme der militärischen Operationen im abtrünnigen Tschetschenien. Dass er Jelzins Niederlage von 1995 revidierte, legte den Grundstein für sein öffentliches Ansehen und seine Wahl zum Präsidenten im März 2000. Durch den massiven Einsatz von Armee und Geheimdiensten gelang es ihm, die Kaukasusrepublik in einem mehrjährigen brutalen Feldzug zu unterwerfen. Der Zweite Tschetschenienkrieg wurde zum Leitmotiv seiner Ära: Der neue Präsident setzte auf militärische Gewalt, Krieg wurde zu seinem Markenzeichen. Da er seine Politik zunächst noch mit Kooperationsangeboten an den Westen bemäntelte, wurde Putin trotz massiver Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus und autoritärem Umbau im Inneren keineswegs zu einem Paria der internationalen Politik. Im Gegenteil: Im September 2002, während der Tschetschenienkrieg tobte, wurde er vom Deutschen Bundestag eingeladen und mit Ovationen bedacht. Offenbar gaben ihm die deutschen Parlamentarier Carte blanche für sein militärisches Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung. Dabei wurden seit Stalins Zeiten nicht mehr so viele russische Staatsbürger durch ihre eigene Regierung ermordet. Die Massengewalt und die Massaker kehrten zurück, während der Westen die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschloss.

Kurz vor ihrer Ermordung 2006 zog die Journalistin Anna Politkowskaja eine persönliche Bilanz zur russischen Politik. Sie stellte damals bereits die Frage, warum die Gewalttäter nicht verfolgt würden. Zugleich sah sie die Entwicklung der 2000er Jahre in Russland als Resultat vergangener Fehlentscheidungen. Sie beschrieb die Rückkehr der Repression als Konsequenz mangelnder Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte: "Wie eine chronische Krankheit neigt die Geschichte zu Rückfällen. Heilung hätte nur eines bringen können, eine moderne Chemotherapie, die alle todbringenden Zellen vernichtet. Diese Heilungschance wurde verpasst, wir haben sämtliche sowjetische Wanzen aus der UdSSR in das ‚neue Russland‘ mit hinübergeschleppt. Das Ende vom Lied – Staatssicherheit, wohin man blickt." Die Probleme des postsowjetischen Russland interpretierte Politkowskaja als pathogene Kontinuität der repressiven Autorität. Sie erkannte, dass KGB-Methoden und militärische Gewalt wieder im Zentrum russischer Staatlichkeit standen.

Die Belege für russische Kriegsverbrechen in beiden Tschetschenienkriegen sind vielfältig. Über Jahre hinweg gab es massive Menschenrechtsverletzungen: Immer wieder kam es zu willkürlichen Tötungen, wurden Menschen deportiert, Dörfer geplündert und Frauen misshandelt. Dies hatten russische Journalistinnen wie Anna Politkowskaja schon früh dokumentiert. Hinzu kommen westliche Institutionen, die sich gezielt mit dem russischen Vorgehen beschäftigt haben. So werden auf der Website des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg Hunderte Fälle von Verbrechen russischer Streitkräfte minutiös dokumentiert. Sie finden ihre Fortsetzung in den Massakern, die wir heute in der Ukraine erleben. So entsteht ein Bild der irregulären Gewalt der russischen Armee, das sich von der Gegenwart bis in den Nordkaukasus und nach Afghanistan zurückverfolgen lässt. Der Modus Operandi dieser Truppen hat sich über Jahrzehnte kaum geändert. Insbesondere auf starken Widerstand reagieren sie mit brutalem Vorgehen gegen Zivilisten, das Kriegsrecht respektieren sie nicht.

Auf den Kampf gegen den Separatismus folgte der imperiale Revanchismus. Nach dem offiziellen Ende des Zweiten Tschetschenienkrieges formulierte Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 Russlands neue Mission: den Kampf gegen die vermeintlich vom Westen dominierte Weltordnung. Putin warf den USA vor, dem Rest der Welt ihren Willen aufzuzwingen. Zugleich warnte er die Nato davor, weitere Mitglieder aus Osteuropa aufzunehmen. Diese russischen Drohungen beeindruckten vor allem die Regierung Merkel in Berlin. Zusammen mit den Franzosen verhinderte Angela Merkel 2008 eine zügige Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die westliche Allianz.

Von 1991 bis 2008 führte Moskau Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten und ergriff Partei in postsowjetischen Konflikten von Moldau bis Tadschikistan. Doch im August 2008 führte Russland erstmals offen Krieg gegen einen souveränen Nachbarstaat – Georgien. Hierdurch versuchte der Kreml, eine weitere Annäherung des Landes an den Westen zu torpedieren. Putin zeigte, dass er bereit war, in früheren Sowjetrepubliken, die sich wie das Baltikum Richtung Nato orientierten, militärisch zu intervenieren. Bei der Bundesregierung führte diese neue Qualität der Gewaltanwendung jedoch nicht zum Umdenken in der Ostpolitik. Die deutsche Kanzlerin äußerte sich lediglich besorgt über die humanitäre Lage und forderte einen Waffenstillstand. Für die bilateralen Beziehungen hatte Russlands Krieg keine Folgen. Auf internationaler Ebene versuchte die US-Administration unter Präsident Barack Obama mit dem reset von 2009, die Beziehungen zwischen Moskau und Washington wieder zu verbessern. Für den Kreml zeigte sich somit, dass Russland keine größeren Konsequenzen für seine Interventionen fürchten musste: Der Westen akzeptierte militärische Gewalt stillschweigend als Instrument russischer Außenpolitik.

Für die russische Elite, aber auch für Wladimir Putin persönlich, hat die Ukraine ein wesentlich größeres Gewicht als Georgien. Bereits seit den 1990er Jahren intervenierte Moskau immer wieder in die ukrainische Innenpolitik. Bei Wahlen unterstützte der Kreml mit großen Ressourcen Russland gewogene Parteien und Kandidaten. Ziel war es dabei stets, eine Westbindung der Ukraine zu verhindern, die Politik in Kyjiw zu kontrollieren und das Land auf einen eurasischen Weg zu führen. 2013 entschied sich Putin, die über Jahre verhandelte Assoziierung der Ukraine mit der Europäischen Union zu blockieren. Zu diesem Zweck setzte er den Präsidenten Wiktor Janukowytsch unter starken Druck. Janukowytschs Entscheidung, das fertige Abkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, führte im Winter 2013 direkt in den revolutionären Umbruch des "Euromaidan". Die ukrainischen Aufständischen lehnten eine Bindung des Landes an Putins Russland explizit ab und traten für eine europäische Orientierung ein. Nach der Flucht und Absetzung Janukowytschs im Februar 2014 war das prorussische Lager in Kyjiw auf lange Zeit diskreditiert, und die Westorientierung der ukrainischen Politik und Gesellschaft gewann eine neue Dynamik. Es wurde deutlich, dass die Mehrheit der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger nicht in einem autokratisch regierten und korrupten Staat leben wollte.

Da die Moskauer Einflussnahme auf die ukrainische Innenpolitik 2014 zunächst gescheitert war, griff der Kreml zu militärischen Mitteln, um die Ukraine für ihre Westorientierung zu bestrafen. Unmittelbar nach dem Euromaidan befahl Putin eine verdeckte Militäroperation, die bereits nach wenigen Wochen zur völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim führte. Die ursprüngliche Reaktion des Westens auf diese gewaltsame Veränderung von Grenzen in Europa – ein klarer Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen, den Vertrag von Helsinki und das Budapester Memorandum – blieb verhalten. Zunächst wurden nur einige russische Funktionäre mit einem Einreiseverbot belegt. Die zurückhaltende Reaktion des Westens und der rasche Erfolg auf der Krim haben sicher dazu beigetragen, dass der Kreml sich im Frühjahr 2014 entschloss, die Operationen des russischen Militärs und der Geheimdienste auch auf den Osten und Süden der Ukraine auszudehnen.

Seit Sommer 2014 zielten militärische Interventionen Russlands auf die Zerstückelung der Ukraine und die Zerstörung ihrer Souveränität. Zunächst verdeckt operierend und mithilfe von Söldnern, aber bald auch mit getarnten regulären Einheiten, setzte sich Russland im Donbas fest. Wegen des schlechten Zustands der eigenen Streitkräfte, die über Jahrzehnte vernachlässigt worden waren, wurde die Ukraine zunächst primär von Freiwilligenverbänden und Veteranen des Maidan verteidigt. Trotz dieses Einsatzes irregulärer Kräfte, der den Beginn des Krieges auf beiden Seiten prägte, existieren zahlreiche Belege dafür, dass die gesamte Operation aus Moskau gesteuert wurde. Sie wurde von einem propagandistischen Feuerwerk in den russischen Staatsmedien begleitet, die der Ukraine vorwarfen, sie werde von einer "faschistischen Junta" regiert. Den Vorstellungen des russischen Stabschefs Waleri Gerasimow entsprechend, wurde der Krieg gegen die Ukraine nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch "hybrid", das heißt in den Medien, den sozialen Netzwerken und im Cyberspace ausgetragen. Dabei unternahm der Kreml erhebliche Anstrengungen, um die Legitimität der angegriffenen Ukraine zu untergraben. Vermeintliche Experten und Politiker kremlnaher Parteien verbreiteten auch in Deutschland die russischen Narrative. So kam der hybride Krieg auch zu uns. Kanzlerin Merkels vorrangiges Ziel blieb es derweil, die Bevölkerung nicht zu verunsichern und sich auf keine sicherheitspolitischen Debatten über Russlands Aggression einzulassen. Unter ihrer Führung verpasste Deutschland nach 2014 die Chance, seine Russlandpolitik grundlegend zu korrigieren.

Trotz zahlreicher Warnungen aus Osteuropa, der Ukraine und den USA hielt die Bundesregierung auch nach dem Angriff auf die Ukraine an der engen Energiepartnerschaft mit Russland fest. Durch den Abschluss des Vertrages über die Ostsee-Pipeline "Nord Stream 2" – primär ein geopolitisches und antiukrainisches Projekt – sandte das politische Berlin 2015 erneut die falschen Signale an Moskau. Die Bundesregierung, so durfte der Kreml annehmen, duldete weiterhin das gewaltsame Vorgehen Russlands und akzeptierte implizit militärische Interventionen im postsowjetischen Raum – so lange diese nicht Nato-Staaten betrafen. Mit dem Vorantreiben von "Nord Stream 2" entgegen jahrelang vorgetragener Proteste internationaler Partner verfolgte Berlin einen Sonderweg und machte sich zum Komplizen der negativen Ukrainepolitik Putins; das Pipelineprojekt war gleichsam das Rapallo der Merkel-Ära. Der faustische Energiepakt mit Russland hat die Reputation der Bundesrepublik in Osteuropa langfristig beschädigt.

Der Weg in den zweiten Ukraine-Krieg

Russlands erste Invasion in die Ukraine endete mit zwei ungleichen Waffenstillstandsverträgen, in denen die Ukraine einen Teil ihrer Souveränität im Donbas abtreten musste: Minsk I und II. Beide Abkommen wurden ohne die USA unter dem Dach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Deutschland und Frankreich mit der Ukraine und Russland verhandelt. Dabei wurde die Fiktion aufrechterhalten, dass es keinen russischen Überfall auf die Ukraine gegeben habe. Auch wurden die von Moskau unterstützten "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk zu Verhandlungspartnern aufgewertet. Die Ukraine wurde in Minsk verpflichtet, eine Verfassungsreform einzuleiten, die zu einer dauerhaften Schwächung des ukrainischen Staates führen würde. Den Separatistengebieten wurde ein "besonderer Status" in Aussicht gestellt. Aufgrund dieser Bedingungen wurden die Minsker Abkommen in der internationalen Öffentlichkeit als persönlicher Sieg des russischen Präsidenten und seiner revanchistischen Politik gedeutet. Ihre militärische Schwäche nötigte die Ukraine dazu, ihnen zuzustimmen. Trotz dieses Ungleichgewichts hat die deutsche Diplomatie bis in die jüngste Vergangenheit nach Wegen gesucht, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen ("Steinmeier-Formel"). Der deutsche Unwille, Russland als Aggressor zu brandmarken und die Ukrainer als rechtmäßige Verteidiger ihrer staatlichen Souveränität zu unterstützen, bedeutete de facto eine Unterstützung der Politik Putins. Die Bestimmungen in den Minsker Verträgen blieben für eine demokratische Ukraine unerfüllbar. Sie hätten eine weitere Aufwertung der Gewaltherrscher und Kollaborateure im Osten des Landes nach sich gezogen.

Wie in Tschetschenien errichtete Russland auch im besetzten Donbas autoritäre Regime mit kriminellen Zügen. In den selbsternannten "Volksrepubliken" fanden jahrelang systematische Menschenrechtsverletzungen statt. Willkürliche Verhaftungen, Folter und lange Strafen gehören seit 2014 zum Alltag im besetzten Donbas. Durch die Verteilung russischer Pässe wurde der verbliebenen ukrainischen Bevölkerung die russische Staatsbürgerschaft aufgezwängt. Auch diese Praxis, die bereits in anderen von Moskau besetzten Gebieten ausgeübt wurde, ist von westlicher Seite geduldet worden. Über Jahre wurde die Ostukraine so zu einem Laboratorium russischer Besatzungsherrschaft. Im Donbas, aus dem Hunderttausende flohen, wurde die Bevölkerung gezielt unterworfen, entrechtet und die kulturelle Landschaft rücksichtslos russifiziert – ein Vorgang, der sich seit Februar 2022 in den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine wiederholt.

Für die Ukraine bedeuteten die Verträge Minsk I und II eine militärische Atempause. Nach dem ersten russischen Angriff konnten sich Staat und Gesellschaft zunächst konsolidieren. Der Krieg ging dabei – ohne wirkliche Anteilnahme der europäischen Öffentlichkeit – auf niedrigem Niveau weiter. Eine vollständige Waffenruhe konnte durch die Minsker Verträge nicht erreicht werden. Die Weigerung des Westens, insbesondere auch Deutschlands, die Ukraine mit Logistik und Waffen zu unterstützen, begünstigten den Kreml erneut. Ohne westliche Hilfe konnte die Ukraine kein ausreichendes Abschreckungspotenzial aufbauen. Russland blieb militärisch dominant und konnte sich jederzeit dazu entscheiden, den eingefrorenen Konflikt wieder anzuheizen. Der Westen hat diese russische Eskalationsdominanz bis zum Februar 2022 akzeptiert, obwohl sie seinem Interesse an Frieden und Stabilität widersprach. Letztlich führte die Selbstbeschränkung der westlichen Diplomatie dazu, dass der Kreml nach Belieben bestimmen konnte, ob in Europa Krieg oder Frieden herrscht. Lediglich an der Ostflanke der Nato begann das Bündnis ab 2016 zögerlich, seine militärische Präsenz auszubauen. Zuvor war das Baltikum nur auf dem Papier Teil der Nato – sie bot keinen militärischen Schutz gegen die russische Aggression.

Trotz der westlichen Dialogangebote setzte Putin seine antiukrainische Politik fort. Sein Artikel "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer", der im Juli 2021 auf der Website des Kreml veröffentlicht wurde, markiert einen weiteren Meilenstein. Der russische Präsident leitet darin aus der gemeinsamen Geschichte und aus seiner Abneigung gegenüber dem Westen die Notwendigkeit einer russischen Intervention in der Ukraine ab. Trotz einer breiten Diskussion unter Experten ignorierte die deutsche Politik die Kriegsrhetorik Putins und hielt in einem überparteilichem Konsens an "Nord Stream 2" fest.

Die von Russland geführten Kriege im postsowjetischen Raum haben bis 2022 nicht dazu geführt, die eigene Ostpolitik oder die wachsende Energieabhängigkeit grundsätzlich zu diskutieren. Bis zuletzt glaubte das politische Berlin an die Kraft des bilateralen Dialogs. Erst als die Bomben bereits in Kyjiw einschlugen, erkannte Bundeskanzler Olaf Scholz eine "Zeitenwende". Wie in den vergangenen Jahrzehnten geht auch beim zweiten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Verschärfung innenpolitischer Repressionen in Russland mit außenpolitischer Aggression einher – ein Muster, das man bereits in den Tschetschenienkriegen beobachten konnte. Gewalt und Repression bedingen sich: Für Putins Russland bedeutet der Kriegsausbruch den Übergang von der Autokratie zur offenen Diktatur. Die letzten Überreste der demokratischen Fassade, die in den 1990er Jahren errichtet wurde, hat das Regime nun eingerissen.

Für den Westen und Deutschland bleibt die Erkenntnis, dass wir illegitime militärische Gewalt ernster nehmen sollten. Lange Zeit hielten Brüssel und Berlin die postsowjetischen Kriege für Kavaliersdelikte von Boris Jelzin und Wladimir Putin. Tatsächlich bereiteten sie den Weg für eine Normalisierung militärischer Gewalt als Mittel revanchistischer Politik. In die Neuausrichtung deutscher und europäischer Politik gegenüber Russland und anderen autoritären Regimen und Diktaturen sollten die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte einfließen. Zu lange ließen Berliner Regierungen den Kreml gewähren, zu oft wurde mit zweierlei Maß gemessen, zu sehr waren wir auf die Sicherung eines Status quo bedacht, den der Kreml längst militärisch bekämpfte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Steven Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse (1970–2000), Oxford 2001; Serhii Plokhy, The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union, New York 2014.

  2. Vgl. Jan C. Behrends, Oktroyierte Zivilisierung. Genese und Grenzen des sowjetischen Machtverzichts 1989, in: Martin Sabrow (Hrsg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012, S. 401–424.

  3. Vgl. Katja Doose, Tektonik der Perestroika. Das Erdbeben und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998, Köln 2019.

  4. Für einen Überblick vgl. Mathew Sussex, Conflict in the Former USSR, Cambridge 2012.

  5. Vgl. Jan C. Behrends, Afghanistan als Gewaltraum: Sowjetische Soldaten erzählen vom Partisanenkrieg, in: Tanja Penter/Esther Meier (Hrsg.), Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan, 1979–1989, Paderborn 2017, S. 141–160.

  6. Vgl. Jan C. Behrends, Die dunkle Seite der Perestroika. Autoritäre Strukturen, russischer Nationalismus und imperiales Denken unter Gorbačëv und El’cin, in: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hrsg.), Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2022, Berlin 2022, S. 149–164.

  7. Vgl. Mark Galeotti, Russia’s Wars in Chechnya, Oxford 2014.

  8. Vgl. Irina Scherbakowa, 1997. Eine Wende, still und leise, in: Jan C. Behrends et al. (Hrsg.), 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution, Berlin 2017, S. 235–254.

  9. Zum Wiederaufstieg der Geheimdienste in Russland vgl. Yevgenia Albats, KGB. State Within a State, London 1995; Andrei Soldatov/Irina Borogan, The New Nobility. The Restoration of the Security State and the Enduring Legacy of the KGB, New York 2010.

  10. Vgl. Mary E. Sarotte, Not One Inch. America, Russia and the Post-Cold War Stalemate, New Haven 2021.

  11. Zu Putin vgl. Fiona Hill/Clifford G. Gaddy, Mr. Putin. Operative in the Kremlin, Washington, D.C. 2015; zu Putins ideologischer Prägung vgl. Michel Eltchaninoff, In Putins Kopf. Philosphie eines lupenreinen Demokraten, Stuttgart 2016; zu Putins Herrschaftssystem vgl. Samuel A. Greene/Graeme B. Robertson, Putin v. the People. The Perilious Politics of a Divided Russia, New Haven 2019.

  12. Anna Politkowskaja, In Putins Russland, Köln 2006, S. 129.

  13. Siehe Externer Link: http://www.srji.org/en/legal/cases.

  14. Vgl. Marcel H. van Herpen, Putin’s Wars. The Rise of Russia’s New Imperialism, Lanham 2015, S. 205–235.

  15. Zu den russisch-ukrainischen Beziehungen vgl. Paul D’Anieri, Ukraine and Russia. From Civilized Divorce to Uncivil War, Cambridge 2019.

  16. Vgl. Mychailo Wynnyckyj, Ukraine’s Maidan, Russia’s War. A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity, Stuttgart 2019.

  17. Vgl. David R. Marples (Hrsg.), The War in Ukraine’s Donbas. Origins, Contexts and the Future, New York–Budapest 2022.

  18. Vgl. Nikolaus von Twickel, Events in the "People‘s Republics" of Eastern Ukraine. Annual Report 2019, S. 9f., Externer Link: https://civicmonitoring.org/wp-content/uploads/2020/02/report2019_EN.pdf.

  19. Vgl. Vladimir Putin, On the Historical Unity of Russians and Ukrainians, 12.7.2021, Externer Link: http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181; Jan C. Behrends, Putins negative Ukrainepolitik. Hintergründe und Analogien, in: Osteuropa 7/2021, S. 77–84.

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ist Osteuropahistoriker, Gewaltforscher und Projektleiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. Er lehrt als S-Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.
E-Mail Link: behrends@zzf-potsdam.de