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Reden über den Krieg | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Reden über den Krieg Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Martin Wengeler

/ 17 Minuten zu lesen

Die "Zeitenwende"-Reden aus dem Februar 2022 reihen sich trotz mancher Unterschiede in die Tradition deutscher Kriegs- und Aufrüstungsreden ein. Die politischen Herausforderungen mögen neue sein, auf sprachlich-rhetorischer Ebene ist vieles schon einmal dagewesen.

Viel ist seit dem Überfall Russlands auf sein Nachbarland Ukraine von der Militarisierung oder Verrohung der Sprache gesprochen worden. Ich habe Zweifel, ob es diese im seriösen öffentlich-politischen Sprachgebrauch gibt, und denke, dass zumindest klarer benannt werden sollte, was damit genau gemeint ist – und dass es seriöser Forschung bedürfte, um eine solche entweder nachzuweisen oder begründet zurückzuweisen.

Ich konzentriere mich daher hier auf drei Aspekte von Kontinuitäten einer aktuellen "Sprache des Krieges": auf den Topos der Zeitenwende, auf neue alte Schlagwörter und auf mobilisierende Kriegsbotschaften. Damit möchte ich die öffentlich empfundene und konstruierte Einzigartigkeit und Neuheit der aktuellen Kriegs-Rhetorik ein wenig relativieren.

Der Topos der Zeitenwende

Der Linguist David Römer hat in einer diskurslinguistischen Studie zu Wirtschaftskrisendiskursen ein Argumentationsmuster der Zeitenwende identifiziert und wie folgt definiert:

Der Topos der Zeitenwende behauptet, eine Ära sei zu Ende gegangen und man befinde sich an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Er geht von der Annahme aus, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war. Die allgemein-abstrakte Folgerung aus dem Topos der Zeitenwende lautet, es könne nicht mehr so weitergehen wie bisher, Prozesse des Umdenkens seien notwendig, es müsse umgestaltet werden.

Es ist frappierend, wie genau Römer mit dieser Definition einer in fast 50 Jahre alten Texten zu Wirtschaftskrisen gefundenen Argumentation das trifft, was Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Verwendung seines "Wortes des Jahres" am 27. Februar 2022 im Bundestag ausdrücken wollte:

Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. (…) Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.

"Zeitenwende" steht seither wie kein anderes Wort für die Idee, dass mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in Europa und in Deutschland nichts mehr so sei wie zuvor, dass alles bisher Gültige in der Außen- und Sicherheitspolitik im Verhältnis zu Russland sich als falsch, als nicht mehr haltbar erwiesen habe und dass sich nun bezüglich politischer und vor allem militärischer Handlungen alles ändern müsse, was insbesondere Sanktionen gegen und den Abbruch der Handelsbeziehungen zu Russland sowie eine beispiellose Erhöhung von Militärausgaben bedeutet.

Das Zitat Römers zeigt, dass es in Diskursen, die noch nicht lange her sind, diesen Eindruck schon des Öfteren gegeben hat: Ab einem oft überraschend eingetretenen Ereignis, jedenfalls ab einem von vielen nicht vorhergesehenen Zeitpunkt habe sich innerhalb kürzester Zeit etwas so grundlegend geändert, dass danach "nichts mehr [ist], wie es war". Entsprechend müsse sich alles oder vieles im politischen Handeln und im gesellschaftlichen Denken nun ändern. Römer hat der wirtschafts- und sozialpolitische Diskurs des Herbstes 1973 zur Definition dieses Topos bewogen, in dem die "Ölkrise" von vielen politisch Handelnden als eine solche Zeitenwende betrachtet wurde, aufgrund derer sich nun alles ändern müsse. Aber auch in den von ihm untersuchten Wirtschaftskrisendiskursen von 1982, zu dem auch die Proklamation einer notwendigen und zu praktizierenden "geistig-moralischen Wende" seitens der neuen Regierung Helmut Kohls gehörte, und von 2003, in dem eine Zeitenwende als Bruch mit den bis dahin praktizierten sozialstaatlichen Sicherungen für notwendig und nun einzuleiten deklariert wurde, findet sich der Argumentationstopos in ähnlicher Weise. Wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 brachte auch die Covid-19-Pandemie solche Stellungnahmen hervor. Untersuchenswert wäre auch, ob und wie die "Wende" von 1989/90 von welchen Zeitgenoss:innen ähnlich wahrgenommen und kommentiert wurde und welche weiteren (diskursiven) Ereignisse es gibt, die mit solcher Zeitenwende-Rhetorik einhergingen.

Neue alte Schlagwörter: "Politik der Stärke"

Der Westen muss nach den Annexionen Putins auf eine Politik der Stärke setzen und die Ukraine mit schweren Waffen unterstützen.

Für die Politik der Stärke

Die Abschreckung muss funktionieren, und da müssen wir jetzt mehr tun bei der Bundeswehr.

Der General [Ingo Gerhartz, Inspekteur der Luftwaffe] mahnte die Nato-Staaten, im Ernstfall auch Atomwaffen einzusetzen: "Für eine glaubhafte Abschreckung brauchen wir sowohl die Mittel als auch den politischen Willen, die nukleare Abschreckung nötigenfalls umzusetzen."

Der Kalte Krieg war nie vorüber

Droht ein neuer Kalter Krieg? Befinden wir uns bereits darin? Oder könnte es gar infolge des Ukraine-Kriegs wieder zu einem großen Krieg kommen (…)?

Diese ausgewählten Zitate aus Online- und Printmedien sollen auf ein weiteres sprachliches Phänomen aufmerksam machen. In den aktuellen öffentlichen Debatten über den Krieg in der Ukraine werden Schlagwörter wie "Politik der Stärke", "Abschreckung" oder "Kalter Krieg" wiederverwendet, die in der Regel mit der Ost-West-Konfrontation zwischen 1949 und 1989 in Verbindung gebracht werden. Sie sind in der Epoche, die im Rückblick mit einem dieser Schlagwörter als "Kalter Krieg" bezeichnet wird, tatsächlich wichtig gewesen. Sie können aktuell als Indikatoren einer neuen, mit jener bis 1989/90 herrschenden Konfrontation vergleichbaren außen- und sicherheitspolitischen Konstellation gelten. Sie sind aber – im Sinne des Begriffshistorikers Reinhart Koselleck – auch als "Faktoren" der aktuellen geschichtlichen Entwicklung zu sehen: Mit diesen Bezeichnungen wird – wie mit allen sprachlichen Zeichen – eine bestimmte Perspektive auf das, was der Fall ist, oder auf das, was zu tun ist, geschaffen. Und politische Forderungen werden mit mehr oder weniger deutlicher Reminiszenz an eine vergangen geglaubte Zeit "auf den Begriff" gebracht. Im Einzelnen sind die angeführten, jetzt wieder aktuellen "Schlagwörter" aber differenzierter und vielfältiger benutzt worden, als sie zumeist erinnert werden. Und die in diesen Zitaten dokumentierte aktuelle Verwendung als deontisch positive Fahnenwörter ("Abschreckung" und "Politik der Stärke" sollte der Westen/die Nato praktizieren, um sich vor dem neuen alten Feind zu schützen) oder als Stigmawort ("Kalter Krieg" ist etwas, das besser nicht sein sollte, mit dem Gefahren und Ängste verbunden sind) ist nicht so selbstverständlich, wie es in den Belegen scheint. Sie steht aber jeweils in einer von mehreren konkurrierenden Verwendungstraditionen. Aus Platzgründen gehe ich hier nur auf eines dieser Schlagwörter ein.

Während in der historischen Rückschau "Politik der Stärke" in der Regel als relativ wertungsfreie historische Vokabel für die Politik Konrad Adenauers gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise dem Ostblock verwendet wird (und eher seltener auch für die Nato-Rüstungspolitik der 1980er Jahre), wird es in seiner Entstehungszeit von verschiedenen Akteur:innen mit unterschiedlicher Wertung verwendet.

"Politik der Stärke": nun ja, man wirft sie uns vor. Das ist ein Schlagwort, das in manchen Zirkeln nicht schlecht wirkt. Aber es ist doch einfach die Wahrheit! Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, daß es einzig die Stärke ist, die den Sowjetrussen imponiert und die sie dazu bringt, Zugeständnisse zu machen?!

Dieses Zitat des CDU-Politikers Kurt Georg Kiesinger aus dem Jahr 1954 zeigt prototypisch die – den beiden aktuellen Zitaten entsprechende – positive Verwendungsweise der Wortverbindung aufseiten der Regierungsparteien der 1950er Jahre. Schon zu dieser Zeit wird sie – anders als man erwarten könnte, da "Entspannungspolitik" als historische Vokabel heute zumeist auf Willy Brandts Ostpolitik referiert – als Antonym, also als Gegensatz zur "Politik der Entspannung" genutzt. Auch wenn es Nuancen bezüglich dessen gibt, worauf genau referiert wird, ist bei dieser Verwendung doch bemerkenswert, wie offensiv die Wortverbindung, die von dieser Seite zum Teil auch als Vorwurfsvokabel an die Adresse der "Sowjetrussen" gerichtet wird, als Fahnenwort Verwendung findet, da sie gleichzeitig beim politischen Gegner eine (siehe das Kiesinger-Zitat) eindeutig abwertende Funktion hatte. Dieser Vorwurfscharakter, den die Wortverbindung im innenpolitischen Diskurs vor allem auch im Gebrauch der SPD-Opposition gegen die Regierungspolitik hat, ist zumindest so stark, dass Unionspolitiker und die konservative Presse mit Sprachthematisierungen versuchen, dem Ausdruck "harmlosere" Bedeutungsgehalte zu geben. Denn in der Verwendung als Vorwurf bedeutet "Politik der Stärke" "Überlegenheit anstreben durch militärische Aufrüstung, um die Sowjetunion unter Druck setzen zu können, auf westliche Forderungen einzugehen". Dem wird entgegengehalten:

Politik der Stärke wurde zum Schlagwort, stiftete Verwirrung und wurde mißbraucht. (…) Der Westen meinte mit Politik der Stärke auch keine aggressive Gewaltanwendung, sondern nur die Bereitschaft zu einer Gewaltabwehr, falls der Osten angreifen oder seine Expansionspolitik weitertreiben sollte.

Der Vorwurf des "Missbrauchs" geht einerseits gegen den außenpolitischen Gegenspieler, die Sowjetunion und ihre Statthalter in der DDR, die die westliche Politik mit dem Stigmawort "Politik der Stärke" bekämpften, andererseits aber auch gegen die SPD-Opposition. Denn die setzte mit dem Wort zum einen stillschweigend voraus, dass die so bezeichnete Politik Wiedervereinigung, Abrüstung und Entspannung verhindere. Zum anderen behauptete sie dies auch ausdrücklich, so etwa der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer 1956 im Bundestag: "Die Politik der Stärke als Politik der Wiedervereinigung ist gescheitert." Wie schon gegenüber den Wiederbewaffnungsplänen seit 1954 nutzt die SPD das Stigmawort auch, um gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen in den Jahren 1957/58 zu argumentieren.

Für die frühe Bundesrepublik ist diese heterogene Verwendung von "Politik der Stärke" mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich: Man kann über den Wortgebrauch und den Streit um ihn etwas darüber lernen, wie zu dieser Zeit hinsichtlich des Verhältnisses zum Ostblock und zur Sowjetunion gedacht und gefühlt wurde. Auch "Kalter Krieg", "Koexistenz", "Abrüstung", "Wettrüsten", "Abschreckung" und "Gleichgewicht" sind diesbezüglich relevant. Nicht nur deshalb ist es interessant zu sehen, welche dieser 1950er-Jahre-Schlagwörter nun wieder im Kriegs- und Aufrüstungs-Diskurs reanimiert werden. "Politik der Stärke" und "Abschreckung" sind – ausweislich der Zitate – offenbar momentan wieder Fahnenwörter, um Aufrüstungs- und Verteidigungsbereitschaft zu mobilisieren. Es handelt sich um eine Verwendung dieser Schlagwörter, wie es sie in den 1950er Jahren schon einmal gab und die insofern auch ein Indiz dafür ist, dass diese Hoch-Zeit des Kalten Krieges zwischen dem Westen und (Sowjet-)Russland wiederauflebt.

Mobilisierende Kriegsbotschaften

Die Geschichte der politischen Rede ist voll von Kriegsreden und arm an Friedensreden. [In der Tradition der mobilisierenden Kriegsrede seit Thukydides wird] die militärische Auseinandersetzung (…) als unausweichlich u./o. aufgezwungen gekennzeichnet. Der Gegner habe eine Situation herbeigeführt, angesichts derer – sofern man höchste Werte u./o. Interessen nicht verraten wolle – nichts anderes übrig bleibe, als militärisch vorzugehen mit dem Ziel, siegreich zu sein. Dazu bedürfe es außergewöhnlicher Anstrengungen und Opfer, die zu vollbringen man (…) die eigene Gruppe (Nation, Religionsgemeinschaft, Verbündete o.ä.) auffordert.

Liest man die Übersetzung der Ansprache Wladimir Putins zum Überfall auf die Ukraine, so lassen sich diese traditionellen Versatzstücke von Kriegsreden (bis auf das letzte) unschwer finden, es kommen auch noch neue Elemente hinzu – bis hin zur Drohung mit einem Atomkrieg. Interessanter aber als diese erwartbare Wiederbelebung althergebrachter Bestandteile von Kriegsreden in der Rede des Aggressors erscheinen mir für den deutschen Kriegsdiskurs die mobilisierenden Reden im Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022, kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Denn sie lassen sich einreihen in die spezifisch deutsche Tradition von Kriegs- und Aufrüstungsreden im 20. Jahrhundert. In zehn Reden von Kaiser Wilhelm im Jahr 1900 zur Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes in China bis hin zu Bundeskanzler Gerhard Schröders Rechtfertigung der Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistan-Einsatz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 habe ich unter anderem mit dem Begriff des "Argumentationstopos" acht für solche Reden typischen Elemente herausgearbeitet. Damit soll nicht, wie die Historikerin Anne Morelli dies mit ihren zehn "Prinzipien der Kriegspropaganda" gemacht hat, behauptet werden, dass, gleichgültig, um welchen Krieg es geht und wer ihn aus welchen Gründen genau rechtfertigt, es immer um die gleiche "Kriegspropaganda" gehe. Sondern es sollen strukturelle und inhaltliche Kontinuitäten der Textsorte justification speech beziehungsweise "Kriegsbotschaft" festgestellt, aber auch inhaltliche Unterschiede herausgearbeitet werden. Für Kriegsbotschaften amerikanischer Präsidenten liegen ähnliche Untersuchungen vor. In den deutschen Kriegs- und Aufrüstungsreden gibt es die folgenden Grundelemente:

  • erstens die Narratio, in der der Redner erzählt, wie es zu der aktuellen Situation gekommen ist, in der "leider" ein militärischer Einsatz, ein Krieg oder eine Aufrüstungsmaßnahme erforderlich sind;

  • zweitens die Selbstdarstellung beziehungsweise Selbstinszenierung des Redners als verantwortungsvoller und friedliebender Mensch, der alles versucht hat, um die militärische Maßnahme zu vermeiden, der aber nun gezwungen ist, diese anzuordnen, um seiner Aufgabe gerecht zu werden;

  • drittens die Rechtfertigung und Legitimation der begonnenen oder zu beginnenden Maßnahme durch die Darstellung der Handlungen des Gegners (Notwendigkeits-Topos) und der Gefahren, die drohen, wenn nun nicht militärisch reagiert wird (Dringlichkeits-Topos). Zu beiden gehört die Ausmalung eines Feindbildes;

  • viertens die Darstellung der Ziele, die nur durch einen Krieg/einen militärischen Einsatz oder eine Aufrüstungsmaßnahme zu erreichen sind. Gerade in der jüngeren Vergangenheit kann dies bis zu Varianten des "Heile Welt"-Topos (Stichwort "neue Weltordnung", "dauerhafter Frieden") gehen;

  • fünftens die Berufung auf die Geschichte, die lehrt, dass die unpopuläre Maßnahme nötig sei und/oder dass man Erfolg haben wird (Geschichts-Topos), sowie die Anrufung eines höheren Wesens als Berufung auf die Religion;

  • sechstens die Berufung auf Instanzen wie grundlegende (zu verteidigende) Werte, kodifizierte Normen (Prinzipien-Topos) und/oder Verpflichtungen gegenüber Partnern, Verträgen und anderem mehr (Autoritäts-Topos);

  • siebtens der Ausdruck der Siegesgewissheit, in der Regel eingebaut in einen Schlussappell und verbunden mit der Erklärung der Solidarität des Kriegsherrn/des Redners mit seinen Soldaten/seinem Volk, zum Teil auch verbunden mit Drohungen an den Gegner;

  • achtens schließlich der Solidaritätsappell nach innen, bei Diktatoren wie Adolf Hitler etwa verbunden mit Drohungen an die, die sich verweigern, ansonsten oft verknüpft mit der Darstellung der Ernsthaftigkeit der Lage und der zu erwartenden Opfer.

Im Deutschen Bundestag wurde am 27. Februar 2022 die schon gefallene Entscheidung verkündet und gerechtfertigt, künftig nicht nur das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreichen zu wollen, sondern kurzfristig durch ein Sondervermögen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zur Verfügung zu stellen, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen und Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Anhand der Reden von Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock zeige ich exemplarisch, wie einige der genannten Elemente auch bei der Rechtfertigung der aktuellen Maßnahmen wiederauftauchen.

Das, was vor dem Bundestag gerechtfertigt werden muss, unterscheidet sich selbstverständlich von den (Angriffs-)Kriegsreden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von den Aufrüstungs- und Kriegsbeteiligungsreden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber weniger. Es geht wie 1958 und 1983 um Aufrüstung, es geht wie 1991 bei der finanziellen Unterstützung des Golfkriegs, 1999 bei der Beteiligung am Kosovokrieg der Nato und 2001 am Afghanistan-Einsatz um die Rechtfertigung von (in diesem Fall indirekten) Kriegsbeteiligungen.

Es mag der Kürze der Reden geschuldet sein, dass die Narratio, wie es zur aktuellen Situation gekommen ist (Punkt 1 der oben genannten Grundelemente), in den Reden vom 27. Februar 2022 ausfällt. Denn es hätte durchaus einiges zu erzählen gegeben, wie man sich bemüht habe, Russland von einer Invasion abzuhalten. Der zweite Punkt wird kurz, aber deutlich realisiert:

Wir haben es bis zur letzten Minute mit Diplomatie versucht. Der Kreml hat uns hingehalten, belogen und sich all dem verweigert, wofür wir bisher als Europäerinnen und Europäer eingestanden haben. Putin wollte diesen Krieg – "whatever it takes". (Baerbock)

Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen. (Scholz)

Im Mittelpunkt der beiden Kriegsbotschaften im Bundestag stehen dagegen der Notwendigkeits- und der Dringlichkeits-Topos (Punkt 3). Wie beim Golfkrieg 1991, beim Kosovokrieg 1999 und beim Afghanistan-Einsatz 2001 werden die Kriegshandlungen des Gegners drastisch benannt und die Dringlichkeit der Unterstützung der Angegriffenen deutlich gemacht, um noch Schlimmeres zu verhindern:

Die Bilder aus der Ukraine sind kaum zu ertragen. Tausende fliehen. Wahrscheinlich hat jeder hier im Saal eine Nachricht bekommen von Freunden, Bekannten, von Kolleginnen und Kollegen, mit denen man – so wie ich letzte Woche – noch gemeinsam in Kiew Mittag gegessen hat und die jetzt sagen: Bitte, rettet uns! – Eltern mit kleinen Kindern verbringen in U-Bahn-Schächten ihre Nächte, um Schutz vor Bomben und Raketen zu suchen. Das könnten wir in diesen U-Bahn-Schächten sein, das könnten unsere Kinder sein. (Baerbock)

Die Darstellung des Feindbildes Putin/Russland beschränkt sich bei Annalena Baerbock auf die mehrmalige Benennung des "Systems Putin" und der von diesem System ausgehenden "rücksichtslosen Aggression". Auch bei Olaf Scholz klingt es eher diplomatisch-moderat:

Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen, und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt.

Breiten Raum in Baerbocks Rede nehmen die Berufungen auf Prinzipien und Autoritäten ein (Punkt 6). Wie in allen bisher untersuchten US-amerikanischen und deutschen Kriegsbotschaften geht es auch Baerbock um höchste Prinzipien: "Frieden in Europa", "unsere Freiheit", "das internationale Völkerrecht", "die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung" und das "menschliche friedliche Miteinander", "unsere Grundrechte". Sie beruft sich für die angekündigte Unterstützung der angegriffenen Ukraine und die Aufrüstung der Bundeswehr aber vor allem implizit auf diese Prinzipien, insofern sie den russischen Angriff als Angriff auf diese charakterisiert. Später sagt sie nur sehr allgemein, es gehe um diese Prinzipien. Daneben wird von ihr der Autoritäts-Topos vor allem in Form der Berufung auf das Völkerrecht beziehungsweise die "Charta der Vereinten Nationen" genutzt. Die Berufung auf Bündnissolidarität in der Nato, aufgrund derer gehandelt werden müsse, stand gerade in Gerhard Schröders Unterstützung des von den USA angeführten Krieges in Afghanistan 2001 im Mittelpunkt. Bei Baerbock ist sie eher randständig, in Scholz’ Rede spielt sie an mehreren Stellen eine größere Rolle:

Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unserer Beistandspflicht in der Nato. (…) gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen. (…) Dabei stehen wir nicht allein, sondern zusammen mit unseren Freunden und Partnern in Europa und weltweit. Unsere größte Stärke sind unsere Bündnisse und Allianzen.

Und während Berufungen auf die Geschichte, wie zum Beispiel auf die gescheiterte Appeasement-Politik der 1930er Jahre, und auf Gott (Punkt 5) in den kurzen Bundestagsreden nicht vorkommen, werden die Kriegsziele (Punkt 4) sehr deutlich bestimmt, von Scholz klarer als von Baerbock. Die Ziele "Frieden in Europa" und "Sicherung der nationalen Selbstbestimmung" werden von ihr nur en passant gestreift und sind eher zu erschließen. Scholz verpackt das zuvor schon genannte Ziel "Frieden in Europa" ("Wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist") im Schlussappell noch einmal in seinen Dank an "alle, die in diesen Zeiten mit uns einstehen für ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa. Wir werden es verteidigen."

Die beiden letzten der genannten Elemente von Kriegsbotschaften, der Ausdruck von Siegesgewissheit und der Solidaritätsappell nach innen (Punkte 7 und 8), kommen in den Reden ebenfalls vor, wenn auch eher am Rande. Anders als in früheren Kriegsbotschaften werden sie nicht in einem flammenden Schlussappell untergebracht. Baerbock drückt die Siegesgewissheit lediglich indirekt in einer an Putin gerichteten Prophezeiung aus: "Mittel- und langfristig wird dieser Krieg Ihr Land ruinieren." Ganz ähnlich Scholz: "Aber der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen." Und: "Freiheit, Toleranz und Menschenrechte werden sich auch in Russland durchsetzen."

Der Solidaritätsappell nach innen meint in Kriegsbotschaften die Notwendigkeit, "die Reihen im Inneren [zu] schließen, an das Mitmachen, Zustimmen oder die Solidarität der eigenen Bevölkerung [zu] appellieren sowie diese auf den Ernst der Lage und die zu erwartenden Opfer ein[zu]stimmen". Das geschieht am 27. Februar 2022 nur sehr moderat mit der Auflistung der "Herausforderungen", die nun mit Sanktionen gegen Russland, mit Unterstützungsleistungen der und für die Bundeswehr sowie mit Maßnahmen zur sicheren Energieversorgung zu bewältigen seien. Statt – wie in früheren Kriegsreden – die Bevölkerung explizit auf zu erbringende "Opfer" einzustimmen, werden diese mit der Erwähnung steigender Energiepreise und in dem Versprechen, "die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in dieser Lage nicht allein" zu lassen, als selbstverständlich vorausgesetzt. Nur mit dem Verweis darauf, dass das, was nun anstehe, viel Geld koste, werden sie expliziter angesprochen:

Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. (…) Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. (…) Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. (Scholz)

Schluss

Der eher technisch-bürokratische Charakter gerade von Scholz’ Rede, in der er viele Einzelmaßnahmen auflistet oder seinen Dank an Kabinettskolleg:innen ausdrückt, stellt in der Reihe der Kriegsbotschaften des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts eine Besonderheit dar. Nichtsdestotrotz reihen sich die Zeitenwende-Reden von Scholz und Baerbock in die Tradition deutscher Kriegsbotschaften beziehungsweise Kriegs- und Aufrüstungsreden ein, indem sie einige von deren topisch-argumentativen Elementen nutzen. Das kann im Sinne der Rhetorik, die eben für verschiedene Redeanlässe eine jeweilige Auswahl struktureller und inhaltlicher Mittel bereithält, auch nicht anders sein. Es lohnt sich dennoch, daran zu erinnern, dass es sich auch bei diesen im Zeichen der Zeitenwende als gänzlich neu und besonders erscheinenden Mitteln um bewährte Muster handelt, die bei solchen Gelegenheiten abgerufen werden.

In diesem Sinne sollten mit den drei aufgegriffenen Gesichtspunkten einer "Sprache des Krieges" – den Traditionen der Zeitenwende-Rhetorik, der Verwendung neuer alter Schlagwörter und den Grundelementen der Rhetorik von Kriegsbotschaften – nicht die Besonderheit und die neuen Herausforderungen, die sich mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine für die westlichen Gesellschaften ergeben, infrage gestellt werden. Es sollte aber doch bewusst gemacht werden, dass vieles zumindest auf der sprachlich-rhetorischen Ebene in gleicher und ähnlicher Form schon dagewesen ist. Insofern kann das Aufzeigen (sprach)geschichtlicher Traditionslinien das aktuelle zeitgenössische Bewusstsein, es mit gänzlich einzigartigen und neuen "Dingen" zu tun zu haben, ein wenig relativieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein Beispiel unter der Überschrift "Wie der Krieg die Sprache militarisiert" findet sich hier: Externer Link: http://www.n-tv.de/panorama/-article23307887.html.

  2. Etwas anderes ist es, wenn die z.B. in einer Reportage erwähnte "private" Sprache kämpfender Gruppen gemeint ist: "Es hat sich im Krieg, unter Soldaten, eine Art eigene Sprache entwickelt. Eine rohe, brutale Sprache. [Es folgen Beispiele]", Frankfurter Rundschau, 9.1.2023, S. 9.

  3. So ist beim Reden über den Krieg sicher eine "Militarisierung" in dem Sinne zu beobachten, dass vermehrt über militärstrategische Einzelheiten des Kampfgeschehens berichtet und diskutiert wird, was aber eher in einer verharmlosenden, die Gräuel des Krieges ausblendenden Kriegs-"Fachsprache" als in einer verrohten Sprache geschieht.

  4. David Römer, Wirtschaftskrisen. Eine linguistische Diskursgeschichte, Berlin–Boston 2017, S. 243.

  5. Vgl. Gesellschaft für deutsche Sprache, Pressemitteilung vom 9.12.2022, Externer Link: https://gfds.de/wort-des-jahres-2022.

  6. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (BT-Plpr.) 20/19, 27.2.2022, S. 1350.

  7. Hier wörtlich aus der Rückschau auf den 11. September 2001 in der Bild-Zeitung vom 11.9.2021, S. 12.

  8. Vgl. Römer (Anm. 4), S. 468f.

  9. Zum Beispiel "Coronavirus bringt eine Zeitenwende für die Welt", 12.4.2020, Externer Link: http://www.krone.at/2135233.

  10. Vgl. auch Reinhart Kosellecks Diagnosen zum Krisen-Begriff, der seit der Französischen Revolution u.a. für eine "Übergangszeit" verwendet werde, "nach der, wenn nicht alles, so doch grundsätzlich sehr vieles sehr anders sein werde". Reinhart Koselleck, Krise, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650, hier S. 627.

  11. Martin Kessler, Landräuber Wladimir Putin, 1.10.2022, Externer Link: https://rp-online.de/politik/-77642307.

  12. Freie Presse, 27.6.2022 (Überschrift). Vgl. auch Olaf Scholz in seiner Bundestagsrede vom 27.2.2022: "(…) Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus." BT-PlPr. (Anm. 6), S. 1350.

  13. Bundeswehrgeneral a.D. Wolfgang Richter am 6.3.2022, Externer Link: http://www.br.de/nachrichten/wissen/,Sz7WR4R.

  14. Bild-Zeitung, 18.6.2022, S. 2.

  15. Die Welt, 27.1.2022 (Überschrift), Externer Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article236526653.

  16. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Der Kalte Krieg 1945 bis 1991. Neuer Kalter Krieg?, Externer Link: https://osteuropa.lpb-bw.de/kalter-krieg.

  17. Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S. 19–36, hier S. 29f.

  18. Vgl. zur linguistischen Definition und Differenzierung Martin Wengeler, Wortschatz I: Schlagwörter, politische Leitvokabeln und der Streit um Worte, in: Kersten Sven Roth/Martin Wengeler/Alexander Ziem (Hrsg.), Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft, Berlin–Boston 2017, S. 22–46.

  19. Fahnenwörter sind symbolisch aufgeladene Wörter, hinter denen sich Gruppen von Menschen versammeln und die für diese Gruppen identitätsstiftend sind.

  20. BT-Plpr. vom 15.12.1954, S. 3152.

  21. Vgl. Martin Wengeler, "Gleichgewicht" im "Kalten Krieg". Leitvokabeln der Außenpolitik, in: Karin Böke/Frank Liedtke/Martin Wengeler, Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära, Berlin–New York 1996, S. 279–323, hier S. 296ff.

  22. Passauer Neue Presse vom 29.3.1956.

  23. BT-PlPr. vom 29.6.1956, S. 8517.

  24. Vgl. Wengeler (Anm. 21), S. 300–322.

  25. Josef Klein, Politische Rede, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1465–1521, hier Sp. 1515f.

  26. Zu finden z.B. hier: Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/putin-rede-ukraine-100.html.

  27. Vgl. Martin Wengeler, Von den kaiserlichen "Hunnen" bis zu Schröders "uneingeschränkter Solidarität". Argumentative und lexikalische Veränderungen und Kontinuitäten in deutschen "Kriegsbotschaften" seit 1900, in: Dietrich Busse/Thomas Niehr/Martin Wengeler (Hrsg.), Brisante Semantik, Tübingen 2005, S. 197–223.

  28. Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004.

  29. Vgl. z.B. Robert L. Ivie, Presidential Motives for War, in: Quarterly Journal of Speech 60/1974, S. 337–345; ders., Images of Savagery in American Justifications for War, in: Communication Monographs 47/1980, S. 279–294.

  30. Vgl. Wengeler (Anm. 27), S. 216f.

  31. BT-PlPr. (Anm. 6), S. 1359.

  32. Ebd., S. 1350.

  33. Ebd., S. 1358.

  34. Ebd., S. 1352.

  35. Ebd., S. 1352ff.

  36. Ebd., S. 1355.

  37. Ebd., S. 1360.

  38. Ebd., S. 1351.

  39. Wengeler (Anm. 27), S. 228.

  40. BT-PlPr. (Anm. 6), S. 1354.

  41. Ebd., S. 1352.

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ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Trier.
E-Mail Link: wengeler@uni-trier.de