Das schlimme erste Jahr des Krieges in der Ukraine war auch ein Jahr voller Überraschungen. Zu diesen Überraschungen zählen die Brutalität des russischen Angriffs und die zahlreichen Kriegsverbrechen ebenso wie der starke Widerstandswille der Ukrainer:innen und ihre schnelle Selbstbehauptung im internationalen Kommunikations- und Informationsraum. Ebenso unerwartet waren die entschlossene Reaktion der Nato und ihrer Mitgliedstaaten, die rasche Einigung der europäischen Regierungen auf Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine, die Bereitschaft der europäischen Zivilgesellschaften, Millionen von ukrainischen Geflüchteten aufzunehmen, aber auch die offenkundigen Schwächen des russischen Militärs, das bei seinen Planungen offenbar deutlichen Fehleinschätzungen über die Ukraine aufgesessen ist. Der Schrecken über den Grad der "Zombisierung"
Die Geschichte, deren Ende 1989 von Francis Fukuyama voreilig vorausgesagt worden war,
Beschleunigte Verflechtung und Entflechtung
Der russische Angriffskrieg setzte auf vielen gesellschaftlichen Ebenen eine ukrainisch-deutsche Verflechtung in Gang oder beschleunigte sie, die in der Wissenschaft erst nach 2014 langsam begonnen hatte. Viele deutsche Universitäten nahmen geflüchtete ukrainische Wissenschaftler:innen und Studierende auf; deutsche Stiftungen starteten bemerkenswert schnell und unbürokratisch entsprechende Hilfsprogramme.
Mit ebenso großer Geschwindigkeit vollzog sich zugleich, vorangetrieben durch Putins Politik der Isolation, eine Entflechtung der russisch-deutschen Beziehungen, von der auch die Wissenschaft betroffen ist. So ist es etwa schwieriger geworden, Visa und Fördermittel für russische Kolleg:innen zu bekommen. Gleichwohl ist es wichtig, die letzten Brücken nicht abzubrechen, sondern die Kontakte zu kritischen russischen Wissenschaftler:innen aufrechtzuerhalten. Nicht wenige von ihnen sind inzwischen in Staaten des Kaukasus und Zentralasiens migriert, die sich zu neuen Zentren des russischen Massenexodus entwickeln. Die georgische Hauptstadt Tiflis, die bereits einige internationale Organisationen beherbergt, könnte zukünftig noch stärker in den Fokus der internationalen Wissenschaftskooperation rücken und zu einer Art Begegnungsort für Forscher:innen aus dem postsowjetischen Raum werden.
Wir lernen aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres, dass Prozesse der Verflechtung und Entflechtung, wenn sie auf einem breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens beruhen, mit großer Geschwindigkeit erfolgen können. In der Krise ist schnelles Handeln möglich, wie nicht zuletzt die erfolgreiche Abwendung der Energienotlage und die Verringerung der deutschen Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen verdeutlichen. Dies lässt hoffen, dass mit diesen Erfahrungen und Lerneffekten auch andere internationale Großkrisen zukünftig gemeistert werden können.
Lernprozesse
Ich möchte den Blick auf diese Lernprozesse richten, weil sie, trotz aller berechtigten düsteren mittelfristigen Zukunftsprognosen, auch etwas Hoffnung machen. Zu Beginn des Krieges waren es vor allem die Lehren und Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, die uns halfen, die neuen Herausforderungen anzugehen. Die digitale Kommunikation in Form von Video-Konferenzen, Webinaren oder der Nutzung von Messenger-Diensten war in der Pandemie für uns selbstverständlich geworden, und daran konnte nach dem 24. Februar 2022 angeknüpft werden: Vom ersten Kriegstag an hielten wir Historiker:innen und Osteuropa-Expert:innen enge Kontakte zu unseren ukrainischen Kolleg:innen, die auf zahlreichen Videokonferenzen das Publikum unmittelbar an ihren Kriegserfahrungen teilhaben ließen und diese zugleich wissenschaftlich einzuordnen versuchten. Allen russischen Angriffen zum Trotz konnten ukrainische Kolleg:innen weiterhin am internationalen wissenschaftlichen Austausch teilhaben und hier wichtige Impulse setzen.
In der deutschen Osteuropawissenschaft hat der Ukrainekrieg nicht nur eine kritische Selbstreflexion im Hinblick auf die bisherige starke Russland-Fokussierung und Diskussionen über eine notwendige Dekolonisierung der Osteuropäischen Geschichte angestoßen,
Ausblick
Nur eine Randnotiz war in diesem schlimmen vergangenen Jahr der Tod von Michail Gorbatschow am 30. August, der im Schatten der Zeitenwende des 24. Februars ebenfalls das Ende einer Epoche besiegelte. Die Erinnerung an Gorbatschow, der, wie der russische Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratov in einem Nachruf festhielt, den Krieg verachtete und seinem Land und der Welt das unglaubliche Geschenk des Friedens bereitet hatte,