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Fünf Lehren aus der russischen Invasion | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Fünf Lehren aus der russischen Invasion

Volodymyr Yermolenko

/ 7 Minuten zu lesen

Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt von großem Leid. Zugleich brachte es neue und mitunter überraschende Erkenntnisse. Drei unterschiedliche Perspektiven auf einen Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für möglich gehalten hatten.

Ein Jahr ist vergangen, seit Russland einen großen Krieg begonnen hat, einen Krieg des 21. Jahrhunderts. Dieser Krieg hat gezeigt, dass wir nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Aber das sollten wir. Wir sollten lernen, aus diesen Fehlern zu lernen. Ich möchte versuchen, einige Schlussfolgerungen zu ziehen – in der Hoffnung, dass irgendjemand einen Nutzen davon hat.

Erstens: Demokratien können stärker sein als Autokratien

Im Gegensatz zu den wachsenden Selbstzweifeln und der zunehmenden Skepsis, die in den vergangenen 20 Jahren in den Demokratien weltweit zu beobachten waren, zeigt der Krieg, dass sich Demokratien wehren und stärker als Autokratien sein können. Autokratien stützen sich auf Angst, Strafe, Gewalt und Ordnung; Demokratien auf die Ermächtigung ihrer Bürgerinnen und Bürger und die individuelle Initiative. Der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion zeigt, dass die Ermächtigung der Menschen die größte Stärke einer Demokratie ist und sie in die Lage versetzt, auch großen aggressiven Mächten die Stirn zu bieten. Wenn eine Gesellschaft so gestaltet ist, dass die einzelnen Bürgerinnen und Bürger daran gewöhnt sind, die Initiative zu ergreifen, wenn sie ihre eigene Macht kennen und wissen, dass sie selbst Veränderungen bewirken können, dann kann das einen großen Unterschied ausmachen im Kampf gegen Regime, in denen die Bürger ihre Verantwortung abgegeben haben und nur aus Angst vor Strafe und/oder der Bereitschaft kooperieren, die Augen vor der brutalen Realität ihres Lebens zu verschließen. Demokratien sind stärker, als viele Menschen glauben; das zeigt das Beispiel der Ukraine und die weltweite Solidarität mit ihrem Kampf.

Zweitens: Der Niedergang der Vernunft öffnet der Gewalt Tür und Tor

Fast jeder "Beginn eines neuen Jahrhunderts" hat, wie wir aus der jüngeren Geschichte wissen, eine Gegenbewegung zur Vernunft und Rationalität hervorgebracht. Wir kennen diesen Backlash aus dem frühen 20. Jahrhundert mit dem Aufleben irrationaler Philosophien und der Kritik an der Aufklärung – eine Haltung, die am Ende den Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus an die Macht brachte. Eine ähnliche Gegenreaktion können wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Romantik und der Restauration erkennen, in deren Folge wieder antidemokratische monarchische Autokratien mit ihren ausgeklügelten Unterdrückungssystemen das Sagen in Europa hatten. Heute erleben wir eine ähnliche Gegenbewegung der Irrationalität. Rationalität wird kritisiert, und man entdeckt das Animalische im Menschen wieder. Irrationale Impulse – Instinkte, Emotionen, die Intuition und anderes mehr – sind rehabilitiert; der Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren wird reduziert. Dieser "biophilosophische" Backlash hat in vielen Ländern ein Klima geschaffen, in dem Sektierertum, Unnachgiebigkeit und Voluntarismus über die Ideale der rationalen Diskussion gesiegt haben und der "Kampf" im Mittelpunkt steht. In Russland hat diese Gegenbewegung ein revanchistisches Regime hervorgebracht, das die Welt als großen Kampf ums Überleben interpretiert und den Kult um eine "starke Hand" und einen "männlichen Führer" propagiert (an anderer Stelle habe ich einmal von "Zoopolitics" gesprochen).

Doch all diese Epochen haben auch gezeigt, dass der Niedergang der Vernunft grausame Konsequenzen hat. Die "Biologisierung" des Menschen, die Reduzierung der Gesetze unseres Zusammenlebens auf die Gesetze der Biologie, der Kampf um "Lebensraum" und ums Überleben bilden die Grundlage für eine überaus grausame Ideologie, in der das Töten des Gegners mit der Zeit zur Norm und Krieg (real oder symbolisch) als Sinn des Lebens betrachtet wird. Wir müssen zu den Idealen der Aufklärung mit ihrem Fokus auf Pluralismus und Rationalität zurückkehren, der Gültigkeit von Ideen und Argumenten und dem grundlegenden Unterschied zwischen unserer menschlichen Welt und der Tierwelt. Doch dafür müssen wir die Herausforderung annehmen und gegen die neue Grausamkeit der russischen "Zoopolitics" angehen.

Drittens: Der Kampf gegen die Tyrannei ist Teil der ukrainischen politischen Kultur

Der ukrainische Widerstand lässt sich weder mit kurzfristigen Ursachen noch mit der Rolle einzelner Personen erklären. Es gibt etwas in unserer Nation, das Millionen Menschen durchdringt und sie dazu gebracht hat, sich sofort nach dem Überfall freiwillig zu melden und ihr komfortables Leben – und in vielen Fällen auch ihre Gesundheit und ihr Leben – für ihr Land aufs Spiel zu setzen oder gar zu opfern. Dieses "Etwas" ist eine tiefsitzende Abscheu vor der tyrannischen Politik, die der russische Imperialismus seit Jahrhunderten verkörpert. Diese Haltung ist seit Generationen in der ukrainischen Gesellschaft lebendig, auch wenn immer wieder versucht wurde, sie auszurotten. Sie hat sich regeneriert und entfaltet heute eine neue, tiefgreifende Kraft. Die politische Kultur der Ukraine basiert im Gegensatz zur russischen auf der Idee, dass Tyrannei illegitim ist, dass Freiheit das höchste Gut ist, zivile Gewalt nicht tolerierbar ist, die Gesellschaft pluralistisch sein und jeder Mensch in seiner Würde geschützt werden sollte. Diese Werte – die ich als "republikanisch" bezeichne, abgeleitet von res publica, dem "Gemeinwesen", das wiederum auf die griechische politeia zurückgeht, die politische Gemeinschaft, die all ihren Mitgliedern die Mitwirkung ermöglicht – existierten in Osteuropa schon viele Jahrhunderte, bevor das russische Reich im 18. Jahrhundert expandierte und die Staaten der Polen, Ukrainer und Krimtataren zerstörte. Heute besteht die Chance, diese republikanische Kultur wieder aufleben zu lassen.

Viertens: Die russische Gesellschaft ist durchdrungen vom Kult der Gewalt

Es ist falsch, diesen Krieg als "Putins Krieg" zu bezeichnen. Putin ist nur ein Symptom der russischen Gesellschaft, in der sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Kultur des Revanchismus mit dem Ziel entwickelt hat, die Niederlage Russlands im Kalten Krieg auszumerzen. In diesem Weltbild gilt das Recht des Stärkeren, regieren Macht und Gewalt. Die erstaunliche Unterstützung für den Krieg in der russischen Gesellschaft, das Ausbleiben massiver Proteste nicht nur innerhalb Russlands, sondern auch bei den russischen Bürgern, die Russland seit Beginn des Krieges verlassen haben, zeigt, wie tief diese Haltung bereits geht. Die Ursachen dafür sind in der allgegenwärtigen Gewalt zu suchen – Gewalt in der Familie, beim Militär, bei der Arbeit, im Verhältnis zwischen dem Staat, der Polizei und den ganz normalen Menschen –, die die gesamte Gesellschaft durchdringt. Dieser Masochismus der Zivilgesellschaft wird zum Sadismus, wenn Bürger als Opfer wiederholter Gewalt und Erniedrigung instinktiv versuchen, die Gewalt, die er oder sie erlebt hat, auf andere zu übertragen, oder, um sich als Teil eines größeren Ganzen zu fühlen, Gewalt gegen andere ausüben. Masochismus, der zu Sadismus wird, ist ein Symptom dieser Entwicklung. Ein weiteres Symptom ist der angesprochene Hass auf den Rationalismus, der auch in Kernelementen der russischen Literatur und Kultur (angefangen bei Wladimir Solowjew und Fjodor Dostojewski) zum Ausdruck kommt und oft so weit geht, dass der westliche "Rationalismus" zugunsten der "russischen Seele" abgelehnt wird. Das dritte Element ist die Vernachlässigung des Individualismus, wie man ihn in der russischen intellektuellen Tradition und der Vorstellung einer größeren "panideologischen Gemeinschaft" findet.

Politischer und gesellschaftlicher Sadomasochismus, Hass auf die Vernunft und die Vernachlässigung des Individualismus sind Symptome einer Krankheit, die die russische kulturelle und politische Tradition befallen hat, und die mitverantwortlich für den aktuellen Krieg ist.

Fünftens: Eine gesunde Gesellschaft wahrt die Balance zwischen Agora und Agon

Die republikanische politische Kultur hat zwei Säulen: die Agora und den Agon. Auf der Agora, dem Marktplatz, trifft man sich und tauscht sich aus – Waren, Worte, Ideen, Gefühle, Erfahrungen und Geschichten. Auf dem Agon, dem Schlachtfeld, kämpft man. Auf der Agora gewinnen beide Seiten, auf dem Agon nur eine. Weisheit in einer Gesellschaft bedeutet, zu wissen, wo der Agon seinen Platz hat und wo die Agora.

Wenn der Agon das einzige Prinzip einer Gesellschaft ist, wird eine Unterhaltung unmöglich. Dann ist der Kampf die einzige Form der Interaktion. Daraus entstehen in der Regel faschistische Ideologien, die Verehrung eines Kriegers als Anführer und ein Kult der Gewalt. Wenn die Agora das einzige Prinzip ist, besteht das Risiko, dass man auch Kompromisse mit dem Bösen eingeht, man sich also auf einen Pakt mit dem Teufel einlässt. Das Beispiel der Ukraine zeigt, dass sich Agora und Agon kombinieren lassen. Diese Synthese ist schwierig, aber möglich. Nach innen schätzt man die Agora, die Pluralität innerhalb der Gesellschaft, ist aber gleichzeitig auch in der Lage, die eigenen Grenzen nach außen zu verteidigen, sich dem Kampf, dem Agon, zuzuwenden, wenn es nötig ist.

Das sind die fünf Lehren, die ich aus dem vergangenen Jahr gezogen habe. Es gibt jedoch noch eine sechste, und sie ist vielleicht sogar die wichtigste: Es gibt keinen höheren Wert als das menschliche Leben. Es gibt keine größere Tragödie als den Verlust des Lebens. Es gibt keine größere Ungerechtigkeit als die, dass eine Mutter ihr Kind verliert. Wir brauchen diesen Krieg nicht, um all das zu lernen.

Und die letzte Schlussfolgerung: Das Gute wird siegen. Die Ukraine wird siegen. Die Freiheit wird siegen. Doch für diesen Sieg braucht die Ukraine Unterstützung. Es gibt Zeiten, in denen die Agora sich selbst verteidigen muss, in denen sie kämpfen muss. Sonst wird sie verschwinden.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim

ist Philosoph und Essayist, Chefredakteur der Onlineplattform "UkraineWorld" und Leiter der Abteilung für politische Analysen bei "Internews Ukraine". Er lehrt an der Mohyla-Akademie in Kyjiw und ist Präsident des PEN Ukraine.
E-Mail Link: vyermolenko@internews.ua