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Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen

Gwendolyn Sasse

/ 7 Minuten zu lesen

Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt von großem Leid. Zugleich brachte es neue und mitunter überraschende Erkenntnisse. Drei unterschiedliche Perspektiven auf einen Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für möglich gehalten hatten.

Der Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 markiert eine Zäsur. Ein langes Jahr später sind die Dimensionen dieses Krieges und seine Folgen greifbarer geworden, übersteigen in ihrer Gesamtheit jedoch noch immer die individuelle Vorstellungskraft. Ein Gefühl von Unsicherheit prägt die Politik und die Gesellschaften in Europa und anderen Teilen der Welt, und die Schwächen internationaler Institutionen wie der UNO sind allzu offensichtlich. Noch dazu zeichnet sich kein Ende dieses Krieges ab. Das zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlichste Szenario ist ein noch Monate, vielleicht Jahre andauernder Krieg. Die kürzlich beschlossene Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart aus Europa und den USA reicht in ihren Umsetzungsplänen ebenfalls schon bis ins Jahr 2024.

Der vor allem in der deutschen Debatte immer wieder präsente Ruf nach Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder gar ein Kriegsende ist vom Grundverständnis her nachvollziehbar, verkennt aber die derzeitige Situation. Die Führung Russlands zeigt keinen politischen Willen für Verhandlungen und Kompromisse – und die ukrainische Regierung sieht nach den von der russischen Armee verübten Kriegsverbrechen in Irpin, Butscha, Mariupol und vielen anderen Orten ohne die weitere Rückeroberung von Gebieten keine Basis für Verhandlungen. So sieht es ukrainischen Meinungsumfragen zufolge auch die große Mehrheit der Ukrainer*innen. Die in der westlichen öffentlichen Debatte unnötig zugespitzte Dichotomie von "Krieg versus Verhandlungen" ist irreführend: Westliche militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine zielt darauf ab, sie in eine Position zu bringen, von der aus sie verhandeln kann. Verhandlungen über Teilaspekte des Krieges finden darüber hinaus statt, so zum Beispiel über Gefangenenaustausch oder den Export von Getreide. Westliche Regierungschefs strecken in Abständen ihre Fühler gen Moskau aus, um den Moment für sinnvolle Verhandlungen beziehungsweise Veränderungen im politischen System Russlands nicht zu verpassen. Länder wie China, Indien und die Türkei pflegen weiterhin enge wirtschaftliche Beziehungen mit Russland, und ihre Beteiligung an Vermittlungsversuchen ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Die Türkei etwa hatte in den ersten Wochen nach der Invasion vom Februar 2022 bereits eine aktive Vermittlerrolle eingenommen.

Fehlperzeptionen

Trotz grundlegender Veränderungen im Selbstverständnis westlicher Regierungen und Gesellschaften im Laufe des vergangenen Jahres haben sich einige falsche Vorstellungen über die Ukraine erstaunlich beharrlich gehalten. Die Terminologie, mit der dieser Krieg beschrieben wird, bleibt weiterhin problematisch. Die Begriffe "Ukraine-Krieg" oder "Ukraine-Konflikt" sind nach wie vor omnipräsent in den Medien und öffentlichen Debatten. Begrifflichkeiten prägen den Vorstellungshorizont und damit auch die Schlussfolgerungen, die gezogen werden. Der Begriff "Ukraine-Krieg" vermittelt den Eindruck, dass es sich um eine interne Auseinandersetzung in der Ukraine handele. Nichts wäre weiter entfernt von der täglichen Realität in der Ukraine – vor und seit dem 24. Februar 2022. Das Bild eines in sich gespaltenen Landes bemüht auch die russische Regierung seit Jahrzehnten und hat es mit dem Begriff des "Bürgerkriegs" zugespitzt. Stattdessen handelt es sich um Russlands Krieg gegen die Ukraine. Es geht der Führung Russlands um die Zerstörung des ukrainischen Staates und der ukrainischen Nation, der ganz offen ihr Existenzrecht abgesprochen wird. Die begriffliche Verengung auf "Putins Krieg" greift dabei ebenfalls zu kurz. Dem Präsidenten und Oberbefehlshaber kommt selbstverständlich eine Schlüsselrolle zu, doch das durch ihn und seine Eliten ausgebaute autoritäre System sowie die autoritäre Gesellschaft, die von diesem System geprägt wurde und die die Entscheidungen der Staatsspitze ermöglicht und mitträgt, sind Teil dieses Krieges.

Ebenso notwendig ist es, den Krieg genau zu datieren. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat nicht im Februar 2022 begonnen, auch wenn dieser Satz immer wieder fällt. Der Krieg begann im Februar und März 2014 mit der Besetzung und Annexion der Krim durch Russland, setzte sich im von Russland von Anfang an militärisch und finanziell kontrollierten Krieg in Teilen des Donbass von 2014 bis 2022 fort und kulminierte in der groß angelegten Invasion ab dem 24. Februar 2022. Diese sukzessive Ausweitung des Krieges durch Russland brachte sowohl auf russischer als auch auf westlicher Seite Zeit und Raum für Anpassungen mit sich. Russland hat diese Spielräume ausgetestet und ausgenutzt, während der Westen seine Fähigkeiten, die Situation zu stabilisieren oder die Beziehungen zu Russland kontrollierbar zu halten, überschätzt hat. Deutschlands Nord-Stream-2-Politik ist das eklatanteste Beispiel dieser Fehlkalkulation.

Trotz der Warnungen westlicher Geheimdienste blieb Russlands Entschluss zur militärischen Eskalation in der Form eines Großangriffs auf die Ukraine bis zuletzt für viele kaum vorstellbar. Noch überraschender war – auch für westliche Geheimdienste – das Ausmaß des militärischen und zivilen Widerstands der Ukrainer*innen. In ukrainischen Meinungsumfragen war in den Monaten vor dem 24. Februar 2022 der Anteil derer, die sich für zivilen oder militärischen Widerstand im Falle eines weiteren Angriffs Russlands auf die Ukraine aussprachen, deutlich angestiegen, aber ob eine gesellschaftliche Stimmung politisch aktiviert wird, zeigt sich erst im Testfall selbst.

Widerstandskraft

Die Resilienz der Ukrainer*innen ist nicht bloß eine plötzliche Reaktion auf das Kriegsgeschehen. Ihr liegt ein Selbstverständnis der Menschen als ukrainische Staatsbürger*innen zugrunde, das insbesondere durch Zyklen von Massenprotesten – die Orangene Revolution 2004 und den Euromaidan 2013/14 – gestärkt wurde. Massenmobilisierung ist ein seltenes Phänomen. Wenn es noch dazu wiederholt auftritt, verändert sich die Gesellschaft – auch über die direkt Beteiligten hinaus. Direkte und indirekte Erfahrungen, Hoffnungen, Erwartungen, Ideen und eine kollektive Erinnerung an diese Schlüsselmomente wirken lange nach, nicht zuletzt in sozialen und institutionellen Netzwerken, die zu einem späteren Zeitpunkt reaktiviert oder neu aufgestellt werden können. Die Erfahrungen aus den Massenprotesten stehen auch in direkter Verbindung zur wachsenden Bedeutung des nicht institutionalisierten sozialen Engagements (Volunteering). Die Akteure hinter dieser Art des Engagements gehörten in den vergangenen Jahren ukrainischen Umfragen zufolge regelmäßig zu den vertrauenswürdigsten "Institutionen" – nach Armee, NGOs und, je nach Zeitpunkt der Umfrage, den Kirchen oder dem Präsidenten. Dieses Engagement und seine gesellschaftliche Anerkennung bildeten eine wichtige Grundlage, auf der verschiedene Formen des Widerstands aufbauen konnten.

Im Zuge dieser Entwicklungen war eine auf den Staat fokussierte Identität längst zur wichtigen Bezugskategorie geworden. Die ukrainische Staatsnation entstand somit nicht erst im Februar 2022, auch wenn dies häufig behauptet wird. Von außen wurde die Ukraine zu häufig als ein ethnisch, sprachlich und regional gespaltenes Land wahrgenommen. Dieser Blick hat viel mit einem kolonialen Blick auf Osteuropa zu tun, der ethnische und sprachliche Diversität problematisiert und als zwangsläufig konfliktbehaftet wahrnimmt. Die Überlappung und Kompatibilität unterschiedlicher Identitäten in der Ukraine ist weithin unterschätzt worden, obwohl sozialwissenschaftliche Forschung diesen Trend seit vielen Jahren empirisch dokumentiert. Dieses Wissen in den Mainstream der Wissenschaft, aber auch in die Politik und Öffentlichkeit zu transferieren, war strukturell bedingt schwierig. Seit Februar 2022 wurde für Einordnungen auf der Grundlage dieser Forschung im öffentlichen Diskurs mehr Raum geschaffen. Die direkte Begegnung von Menschen mit "der Ukraine" in Form von geflüchteten Ukrainer*innen im privaten und professionellen Umfeld vermittelt nicht nur direkte Kontakte, sondern weckt auch Interesse und schließt Wissenslücken.

Das eigentlich Überraschende im ersten Kriegsjahr war die Tatsache, dass Wladimir Putin und die ihn umgebenden Eliten die Ukraine so gründlich missverstanden haben. Allen Anzeichen zufolge hat man an Schlüsselstellen im System wirklich geglaubt, dass der Durchmarsch nach Kyjiw mit Panzerkolonnen innerhalb weniger Tage gelingen würde und die russischen Truppen dort zumindest von Teilen der Gesellschaft und der Eliten willkommen geheißen würden. Daraus spricht rückblickend einmal mehr die koloniale Arroganz dem vermeintlich "kleinen Bruder" gegenüber. Damit verbunden sind die selbst für westliche Geheimdienste und Verteidigungsministerien überraschenden offensichtlichen Schwächen in der russischen Kriegsführung, insbesondere in der Logistik, der inflexiblen Befehlsstruktur, der fehlenden Vorbereitung der Soldaten und im Rekrutierungsprozess insgesamt, aber auch im Ausmaß der Gewaltbereitschaft der Truppen. Was als schneller Sieg konzipiert war, ist nun zum Test für das politische System unter Putin geworden.

Faktor Zeit

Seit Februar 2022 sind zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung der Ukraine in Bewegung, darunter geschätzt 7 bis 8 Millionen Binnenflüchtlinge und etwa 5 Millionen Geflüchtete im westlichen Ausland. Sie sind ein wichtiger Teil der veränderten sozialen Struktur der Ukraine – dadurch, dass vor allem Frauen und Kinder geflüchtet sind, aber auch durch die Rekonfiguration von persönlichen und sozialen Netzwerken. Diese Netzwerke sind translokal und multidirektional. So greifen Unterstützung bei Flucht und Angriffen sowie Crowdfunding für die militärische Ausrüstung der Armee oder für Generatoren ineinander. Diese translokale ukrainische Gesellschaft zeichnet heute ein hoher Mobilisierungs- und Vernetzungsgrad aus. Auf nationaler Ebene hat hingegen eine Zentralisierung politischer Entscheidungsprozesse stattgefunden.

Die Ukraine hat sich auf tragische Weise in die mentale Landkarte Europas eingeschrieben. Solidarität und Engagement für die Geflüchteten haben der Ukraine in der Mitte der europäischen Gesellschaften eine dauerhafte Präsenz verschafft. Eine "Zeitenwende" in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgte schnell, auch im Hinblick auf die militärische Unterstützung für die Ukraine. Die Ankündigung der politischen Zeitenwende durch Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag erfolgte, gemessen an der deutschen Nachkriegsgeschichte, ebenfalls schnell. Doch für die Ukraine und ihre mittel- und nordeuropäischen Nachbarn kam die darauf aufbauende militärische Unterstützung dennoch zu langsam. Dies ist ein Teil des Dilemmas der Gleichzeitigkeit in diesem Krieg, in dem Zeit bereits seit seinem Beginn 2014 ein entscheidender Faktor ist.

ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C.H.Beck erschien im Herbst 2022 ihr Buch "Der Krieg gegen die Ukraine".
E-Mail Link: gwendolyn.sasse@zois-berlin.de