Die Covid-19-Pandemie hat einmal mehr die gesellschaftliche Relevanz und das damit verbundene hohe Ansehen von Ärzt:innen offenbart. Zugleich hat sie aber auch auf die Fragilität des vorhandenen Expertenwissens beziehungsweise das vorhandene Nichtwissen aufseiten der Professionsangehörigen hingewiesen. In diesem Beitrag werden wir am Beispiel der Ärzteschaft im Krankenhaus Kontinuität und Wandel von Professionsvorstellungen aufzeigen. Aufgrund der weit verzweigten Professionsforschung gibt es eine regelrechte Definitionsschlacht, was genau unter dem Begriff der "Profession" zu verstehen ist. Daher werden wir mit einer theoretischen Einführung zur historischen Entstehung und den soziologischen Perspektiven auf Professionen beginnen. Im Anschluss richten wir den Blick auf die Einbindung der Ärzteschaft in die Organisation Krankenhaus und auf neuere Entwicklungen, wie die Ökonomisierung und die Digitalisierung im Krankenhauswesen. Am Ende diskutieren wir, inwiefern sich Professionsvorstellungen aus Sicht der Ärzteschaft (Innenperspektive), aber auch aus Sicht der Patient:innen (Außenperspektive) wandeln.
Geburt der Professionen und der Professionssoziologie
Der Erste, der den Professionsbegriff als Kategorie in der Soziologie verwendete, war Herbert Spencer. In seinem Werk "Principles of Sociology" (1898) identifizierte er die Entwicklung von Professionen als wesentliches Merkmal zivilisierter Gesellschaften. Dabei arbeitet er die enge Verbindung zwischen Religion und Medizin im Altertum heraus, etwa bei den Babyloniern, Römern und Griechen, die davon ausgingen, dass die Medizin auf einen göttlichen Ursprung zurückgeführt werden kann. Die Trennung zwischen religiös-magischer und wissenschaftlich-rationaler Medizin mit universitärer Ausbildung vollzog sich im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften und reicht ins 19. Jahrhundert hinein. So blieb es bis 1858 dem englischen Erzbischof von Canterbury vorbehalten, medizinische Diplome zu erteilen.
Eine eigenständige Professionstheorie wurde in der Soziologie erst sehr viel später von Talcott Parsons 1939 in seinem Aufsatz "The professions and social structure" formuliert.
Strukturtheoretische Perspektiven
Aus einer strukturtheoretischen Perspektive wird von einer besonderen Handlungsproblematik bei Professionen ausgegangen. Professionen sind spezielle Dienstleistungsberufe, deren Arbeitsergebnisse nicht über den Markt geregelt oder bürokratisch bewertet werden können. Insofern sind ein Arbeitsmarktmonopol, Eintrittsbarrieren und die Selbstregulierung für Professionen notwendig und im öffentlichen Interesse, weil nur so die hohen Standards in der Aus- und Fortbildung garantiert und die Sicherheit und Qualität in der Daseinsvorsorge gewährleistet werden können. Parsons geht in seiner soziologischen Beschreibung des Arztberufes davon aus, dass "das ‚Gewinnmotiv‘ aus der Welt des Arztes radikal ausgeschlossen ist".
Im deutschsprachigen Raum findet sich die wichtigste Weiterentwicklung dieses strukturtheoretischen Ansatzes in den Arbeiten von Ulrich Oevermann.
Machttheoretische Perspektiven
Aus machttheoretischer Perspektive sind Professionen Berufe, die sich für bestimmte Dienstleistungen Autonomie und ein Monopol gesichert haben. Autonomie über die Ausführung, Regulierung und Bewertung der eigenen Arbeit sowie Prestige und Einkommen werden als materielle und immaterielle Privilegien und als Ausdruck der Machtressourcen von Professionsangehörigen gesehen. Aus dem Blickwinkel der Macht ergibt sich ein grundsätzliches Kontrollproblem innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung, indem sich die Kontrolle durch die Patient:innen als eine für sie unlösbare Aufgabe darstellt und diese Funktion an die kollegiale Selbstkontrolle der Professionsangehörigen übergeben wird.
Merkmalsorientierte Ansätze
Die Tatsache, dass Professionen besondere Berufe sind, die sich durch bestimmte Merkmale von allen anderen Berufen im positiven Sinne unterscheiden, scheint ein Bezugspunkt zu sein, auf den man sich im Kontext verschiedener professionstheoretischer Ansätze im nationalen wie im internationalen Raum einigen kann.
Schon früh wurde analysiert, welches die wesentlichen Merkmale sind (Tabelle 1), die Professionen von Berufen unterscheiden. Die reine Auflistung und Zuordnung dieser Merkmale werden häufig als "Checklisten-Soziologie"
Fasst man die drei professionstheoretischen Zugänge zusammen und versucht, diese in Beziehung zueinander zu setzen, bilden die merkmalsorientierten Ansätze gewissermaßen die verbindende Klammer zwischen den struktur- und den machttheoretischen Ansätzen (Abbildung). Insgesamt handelt es sich bei den Merkmalen um Normen und Werte, die gleichermaßen die Innen- und Außenperspektive auf Professionsvorstellungen adressieren.
Professionsvorstellungen der Medizin
Professionstheoretische Ansätze im Vergleich (© bpb)
Professionstheoretische Ansätze im Vergleich (© bpb)
Mit Blick auf die Medizin können die in der Tabelle 1 dargestellten Merkmale wie folgt konkretisiert werden:
Die Bundesärzteordnung regelt darüber hinaus Grundsätze im Sinne der Gemeinwohlorientierung für die Ausübung des ärztlichen Berufs: "§1 (1) Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des ganzen Volkes. (2) Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe; er ist seinem Wesen nach ein freier Beruf." Für die freie Berufsausübung der Ärzteschaft spielen daher die eigenständige Kontrolle der Arbeit und die damit verbundene Autonomie des Handelns eine zentrale Rolle. Die beruflich-fachliche Autonomie und kollegial-kooperative Steuerung der Ärzteschaft ist in der uneingeschränkten Therapie- und Entscheidungsfreiheit verankert. Dadurch manifestiert sich eine Monopolstellung in medizinischen Angelegenheiten (beispielsweise in den Regelungen zur Facharztprüfung, die im Kollegialsystem stattfindet). Als ausgesprochen hoch zu bewerten sind der Status und das Sozialprestige von Ärzt:innen in der Gesellschaft. Die hohe öffentliche Wertschätzung und das daraus resultierende Vertrauen in die ärztliche Kunst sind die eigentliche Grundlage der "Magie des Heilens".
Nachfolgend werden wir auf der Grundlage dieser theoretischen Ausführungen den Wandel und die Kontinuität von Professionsvorstellungen der Ärzteschaft im Krankenhaus in den Blick nehmen.
Einbindung der Ärzteschaft ins Krankenhaus
Der erste Wandel von Professionsvorstellungen vollzog sich mit der Einbindung von Ärzt:innen in das moderne Krankenhaus. Krankenhäuser beziehungsweise Hospitale waren lange Zeit vornehmlich karitativ-pflegerische Einrichtungen; die medizinische Behandlung von wohlhabenden Bürgerinnen und Bürgern fand bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu Hause statt.
Die Verbreitung der Ärzteschaft in den Krankenhäusern lässt sich statistisch anhand der Ärzte pro 10.000 Einwohner:innen nachzeichnen. Gab es 1877 im Deutschen Reich 3,2 Ärzt:innen in Krankenhäusern pro 10.000 Einwohner:innen, betrug die Zahl 1952 13,6 in der Bundesrepublik und 7,5 in der DDR und wuchs in der Folge auf 41,6 in den westdeutschen Bundesländern beziehungsweise 36,4 in den ostdeutschen Bundesländern bis 2010 an.
Die steigenden Zahlen gehen zudem mit der Ausdifferenzierung in mittlerweile 34 fachärztliche Bereiche und 57 Zusatz-Weiterbildungen (Stand: 2021) einher, die auch zur weiteren Spezialisierung von Krankenhausabteilungen beziehungsweise Kliniken geführt hat. An dieser Stelle muss erneut auf die hohe Selbstorganisation und Kontrolle verwiesen werden, indem es die Ärzt:innen schaffen, zu jeder Spezialisierung eine Fachgesellschaft zu gründen, die Standards festlegt und Eigeninteressen nach außen vertritt. Nicht nur die Anzahl der Ärzt:innen veränderte sich, sondern auch die Geschlechterstruktur, weshalb man von einer "Feminisierung der Medizin" spricht.
Ökonomisierung und Digitalisierung
War der Ausbau des Gesundheitswesens bis Mitte der 1970er Jahre politisch gewollt, sind seitdem in Deutschland in immer kürzeren Intervallen gesundheitspolitische Gesetze mit dem Ziel der Kostendämpfung verabschiedet worden, die seit den 2000er Jahren unter dem Stichwort "New Public Management" beziehungsweise der "Ökonomisierung" diskutiert werden
Mithilfe sogenannter DRG-Grouper-Software nehmen Ärzt:innen die Kodierung und Dokumentation vor. Die Verweildauer der Patient:innen wird dabei beispielsweise in Ampelfarben dargestellt: Grün bedeutet, dass sie innerhalb des angestrebten Zeitbereichs, und Rot, dass sie außerhalb liegen; Gelb signalisiert den abrechnungstechnischen Grenzbereich. Die Einhaltung der Verweildauer fällt in den Verantwortungsbereich der Ärzt:innen. An dieser Stelle kommt es zu konfliktbehafteten Abwägungsproblemen zwischen ökonomischen und professionellen Ansprüchen aufseiten der Ärzteschaft. Patient:innen lassen sich vielfach nicht nach Plan und innerhalb der Verweildauer behandeln und entlassen. Komplikationen, fehlende Compliance, Komorbidität oder eine ungesicherte soziale Versorgung nach der Entlassung stellen "Prozessbehinderungen" dar, die jenseits des ärztlichen Handelns liegen.
Wenngleich es Unterschiede in der Wahrnehmung dieses Spannungsfeldes zwischen den Fachdisziplinen, den Hierarchiestufen oder bedingt durch die Trägerschaft des Krankenhauses gibt, lassen sich einige Verallgemeinerungen ableiten: Ein erster Befund verweist auf die erhöhte Arbeitsverdichtung, die durch die steigende Frequenz und die verkürzten Liegezeiten eingetreten ist. Zwar mussten Ärzt:innen immer schon eine "strategische Zeitorientierung"
Ein zweiter genereller Befund lässt sich unter den zunehmenden Normverunsicherungen zusammenfassen. Das Selbstverständnis der Ärzt:innen ist durch die Verinnerlichung betriebswirtschaftlicher Vorgaben gekennzeichnet. Dadurch wechselt die Bezugsebene des ärztlichen Handelns immer stärker zwischen normativen, funktionalen sowie ökonomischen Anforderungen. Im klinischen Alltag müssen die Ärzt:innen mit diesen Differenzen praktisch umgehen. Hierzu entwickeln sie jeweils eigene Strategien, die von einer Verschleierung bis zu einem offenen Umgang mit finanziellen Aspekten der Behandlung gegenüber den zu Behandelnden reichen.
Mit der Etablierung von Stabsstellen und operativen Führungskräften im Bereich des Medizincontrollings (DRG-Kodierkräften) wird, so ein dritter Befund, ein ärztlicher Macht- und Autoritätsverlust gegenüber betriebswirtschaftlichen Domänen konstatiert. Insbesondere Chefärzt:innen sind mit steigenden Vorgaben der zu erbringenden Fallzahlen konfrontiert, die oft an Prämien geknüpft sind. Zudem kommt der Arbeit "am Datensatz" der Patient:innen, um angesichts des Kosten- und Erlösdrucks die Ausschöpfung der Pauschalen zu optimieren, ein immer wichtigerer Stellenwert zu. Für viele Beschäftigte manifestiert sich angesichts dieser Umstände eine latente Berufsunzufriedenheit, was häufig zu einer Reduktion der Arbeitszeit oder zu einem Wechsel in den niedergelassenen Bereich beziehungsweise in die Leiharbeit führt, um sich von organisationalen Vorgaben zu lösen.
Der vierte Befund betrifft den Aspekt der Digitalisierung einerseits im Kontext aufgeklärter und mündiger Patient:innen und anderseits mit Blick auf die Akzeptanz der Digitalisierung aufseiten der Ärzteschaft. Mündige Patient:innen lassen sich als ein neuer Typ beschreiben, der sich eigenständig informiert und der Ärzteschaft als ebenbürtiger Partner begegnen will. Die erste Adresse für Gesundheitsfragen ist heute meist Dr. Google und nicht mehr die Ärzteschaft, sodass diese an fachlicher Dominanz verliert. Der freie Zugang zu relevanten Gesundheitsinformationen verändert das Selbstverständnis der Patient:innen von gehorsamen Konsumenten zu Dialogpartner:innen auf Augenhöhe. Dies kann die Arzt-Patient-Interaktion gleichermaßen entlasten oder unter Spannungen setzen, weil das Ausstellen von Rezepten oder Überweisungen eine exklusiv ärztliche Tätigkeit ist.
Hinsichtlich der Digitalisierung im Gesundheitswesen positioniert sich die Ärzteschaft äußerst geschlossen. So geht aus der Rede des Präsidenten der Bundesärztekammer zur Eröffnung des 124. Deutschen Ärztetags hervor, dass man sich nicht grundsätzlich gegen die Digitalisierung ausspreche, sondern sinnvolle Maßnahmen umsetzen möchte, wie Videosprechstunden, die sich auch finanziell lohnen.
Nichts ist beständiger als der Wandel
Die historische Entwicklung der ärztlichen Profession und deren Einbindung in das Krankenhaus zeigen, dass die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel ein Grundmerkmal gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ist. In jüngster Vergangenheit führt das Eindringen der Marktlogik zur effizienteren Steuerung von Krankenhäusern dazu, dass die für die ärztliche Profession maßgebliche Orientierung am Gemeinwohl, der Selbstkontrolle und -organisation sowie der professionellen Autonomie unterlaufen wird und dieser Prozess als eine Verberuflichung und aus einer Innenperspektive als Deprofessionalisierung wahrgenommen wird. Zudem tragen aus einer Außenperspektive die Digitalisierung und der damit verbundene Zugang zu medizinischem Wissen dazu bei, dass mündige Patient:innen mitunter misstrauischer gegenüber ärztlichen Entscheidungen werden. Gleichzeitig vermögen es Ärzt:innen, ihre Standesinteressen weiterhin durchzusetzen und ihre Gemeinwohlorientierung und ihren Status nach außen zu dokumentieren und zu manifestieren. Betrachtet man die oben genannten Professionsmerkmale und aktualisiert diese um die aufgezeigten Spannungsfelder ärztlicher Tätigkeit im Krankenhaus, zeigen sich ambivalente Bearbeitungs- und Aushandlungsmodi (Tabelle 2).
Tabelle 2: Kontinuität und Wandel von Professionsmerkmalen (© bpb)
Tabelle 2: Kontinuität und Wandel von Professionsmerkmalen (© bpb)
Der Umgang mit Ambivalenzen, Unsicherheiten und Widersprüchen sowie das Jonglieren mit unterschiedlichen Anforderungen ist jedoch gerade das Charakteristikum und die Kernkompetenz von Professionen, so ein zentrales strukturtheoretisches Argument.