Bei meinem ersten Aufenthalt in einem Krankenhaus entpuppte ich mich als widerspenstige Patientin: Obwohl der Blasensprung meiner Mutter am Vorabend schon etliche Stunden zurücklag, wollte ich mich nicht bewegen. Im Krankenhaus aber sind die Abläufe streng vorgeschrieben, und wenn ein neuer Tag beginnt, beginnt er abrupt und ohne Wenn und Aber: Ein hingeworfenes Klopfen, dann geht die Tür auf und eine Pflegerin schiebt ein Wägelchen mit Tabletten, mit Spritzen, mit Fieberthermometer oder anderen Messgeräten herein.
Aber anders als andere Patient*innen wollte ich mich dem durchgetakteten Rhythmus nicht unterwerfen.
"Patient" oder "Patientin", das ist der Name, der eine Kranke oder einen Kranken im Krankenhaus bezeichnet. Nicht etwa "Klientin" oder "Kunde". "Patient" kommt vom lateinischen Wort pati, was so viel wie "erdulden" oder "leiden" bedeutet. Die Regeln des Krankenhauses sind nicht danach ausgerichtet, sich dem Patienten oder der Patientin und ihrem individuellen Lebensrhythmus anzupassen.
Die Hebamme griff also zu rabiateren Methoden, schließlich musste sie bald zu einer Mitarbeiterbesprechung. Sie hielt meiner Mutter einen riesigen Metallwecker auf den Bauch und ließ ihn schellen. Doch auch diese anscheinend universell gültige Aufforderung zum Fahnenappell ließ mich kalt. Und so musste ich schließlich von einer Ärztin mit einer Saugglocke – eine Art Pömpel – aus dem Mutterleib gezogen werden, da war die Hebamme schon längst wieder in den Windungen des Krankenhauses verschwunden.
So wurde ich geboren und war bereits Patientin. Wie die Mehrheit der Deutschen, schließlich betreten wir fast alle diese Welt durch ein Krankenhaus. Ohne zu verstehen, was das für ein besonderes Tor ist, das wir da passiert haben.
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Auch ich verließ das Krankenhaus nach fünf Tagen in einer Babyschale und wusste bis zu einem gewissen Alter nicht, dass die Welt der Krankheit noch so viel weiter geht als bis zu meinem furchteinflößenden weißkitteligen Kinderarzt, in dessen Wartezimmer es speckiges Plastikspielzeug gab und alles immer warm und stickig war, die Luft erfüllt vom Kinderhusten, nur einen Block von meinem Zuhause entfernt. Ich wusste nicht, dass es ganze Gebäude gibt, einen Komplex, der, wie kaum etwas anderes, eine scharfe Grenze zwischen zwei Welten markiert.
"Jeder, der geboren wird", so schreibt Susan Sontag in ihrem einflussreichen Essay "Krankheit als Metapher", "besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken".
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Was es wirklich bedeutet, diese zwei völlig konträren Staatsbürgerschaften zu besitzen, erfuhr ich freilich erst, als ich das nächste Mal im Krankenhaus war.
Ich war 23 und saß auf einem Krankenbett, zu dem man mich gebracht hatte, nachdem ich an einem ersten Mai mit merkwürdigen Taubheitssymptomen in der Notfallpraxis der Uniklinik Freiburg vorgesprochen hatte. Ich war verwirrt, spürte meinen einen Arm kaum noch, hatte Angst und wartete dennoch darauf, dass ich gehen durfte. Ich war noch nie bewusst in einem Krankenhaus gewesen. Um mich herum war nur Kargheit, die Armlehnen des Bettes kurz vor grau, die Wandfarbe kurz vor pfirsich, der Boden kurz vor sand, alles kurz vor, nichts, was sich einbrennt, und in diesem Moment sorgte all das dafür, dass ich das Gefühl hatte, weder genau sagen zu können, wo ich war, noch, wie viel Uhr es war.
Man hatte mir noch immer nicht gesagt, welche Untersuchungen nötig sein würden und wann ich gehen durfte, als eine Pflegerin hereinkam. Ihr Wägelchen kam genau vor mir zum Stillstand. "Spritze", erklärte sie nüchtern, und ließ schon, wie im Film, den ersten Tropfen aus der Nadel quellen. "Was für eine Spritze?", fragte ich alarmiert. "Bauch oder Bein?", fragte die Pflegerin nur zurück. "Die meisten nehmen Bauch", fügte sie hinzu, als würde das irgendetwas erklären.
Das war der Moment, an dem mir klar wurde, dass ich an einem Ort in Freiburg gelandet war, der mitten in der Stadt, aber doch außerhalb ihrer Ordnung zu liegen schien. Ein Ort, an dem mein Körper nicht mehr mir allein gehörte, wo er mir, der Patientin, nicht mehr "als innerhalb einer individuellen Biographie, sondern quasi nur als räumliches Konstrukt einer Wissenschaft"
Das Krankenhaus und die Geschichten, die sich darüber erzählen lassen, beeindruckten mich so stark, dass mich der "Deutschlandfunk" zwei Romane später sogar als "Krankenhaus-Autorin"
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Wer will das lesen? Die Frage stellte ich mir selbst nicht, die stellten mir andere. Als ich einmal eine Lesung in einem Krankenhaus gab, kamen hinterher einige Pflegerinnen zu mir und sagten, dass es genauso sei, wie ich schrieb. Aber ob man sich mit so etwas in seiner Freizeit beschäftigen wolle? Tatsächlich erhielt ich auf Lesungen immer wieder auch die Rückmeldung: "Vielen Dank für Ihre Lesung. Aber das ganze Buch zu lesen, traue ich mich nicht!"
Kein Wunder, das Krankenhaus hat in unserer hochfunktionalen Gesellschaft – genau wie ein Friedhof, der dem Tod einen Platz gibt, sodass wir ihn zwar in unserer Mitte, aber gut umzäunt vorfinden – den Zweck, die Welt der Kranken aus dem echten Leben auszuschließen. Es ist eben, wie Sontag sagt, eine andere Staatsbürgerschaft, die für uns erst relevant wird, wenn wir die Gefilde jenes anderen Reiches betreten.
Doch die Fiktion ist ein Ort, an dem wir die Regeln unseres Lebens außer Kraft setzen können. Auch mit ihr können wir Themen bearbeiten, die wir in unserem Leben vielleicht noch nicht bearbeitet haben, nicht bearbeiten wollen oder können. In der Fiktion leiden wir, wenn Liebende sich trennen, trauern mit Sterbenden und ihren Angehörigen oder gruseln uns, wenn Mörder oder Geister unter Betten, hinter Türen oder in Parkhäusern lauern. Und zwischen all dem wandeln wir in der Fiktion auch durch die Gänge eines Krankenhauses oder finden uns an piepsenden Apparaturen wieder.
Das Krankenhaus kann dabei als Ort des Kontrollverlustes auftreten, wie in "Koslik ist krank", oder auch ein Ort der Angst sein, wie zum Beispiel in Lars von Triers eindrücklicher Serie "Hospital der Geister" (1994–97), in der ein ganzes Krankenhaus von widernatürlichen Phänomenen heimgesucht wird, während sich freilich auf der Chefarztebene die üblichen Machtkämpfe abspielen. Auch der Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper thematisiert von Trier, wenn auch anders als in meinem Roman: In "Hospital der Geister" durchlebt die Assistenzärztin Judith eine Schwangerschaft, an deren Ende das Kind zu einem monströsen Etwas herangewachsen ist – ein Erzählstrang, der die Unkontrollierbarkeit unserer körperlichen Erfahrung im Krankenhaus überzeichnet, indem er sie auf eine noch mystischere, unheimlichere Ebene hebt.
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Doch das Krankenhaus findet sich nicht nur in solchen Fiktionen, die manchem vielleicht zu unheimlich sein mögen, sondern bietet weitere mannigfaltige Möglichkeiten der Thematisierungen. Ich würde sogar behaupten, dass es in bestimmten Formen, Szenen und Handlungssträngen in Film, Fernsehen und Literatur nahezu omnipräsent ist, schaut man einmal genauer hin. Etwa an einem gewöhnlichen Vorabend: Hier kommt man, schaltet man den Fernseher an, früher oder später kaum daran vorbei, auf eine rührselige Krankenhausszene zu stoßen. Wenn es im Finale am Sterbe- oder Unfallbett zu einer Aussprache kommt, wenn Geheimnisse aufgedeckt werden, Vaterschaften geklärt oder längst überfällige Liebeserklärungen nachgeholt werden, während im Hintergrund die Apparaturen piepsen. Das Krankenhaus ist in dieser wohl gängigsten Form der Thematisierung kein Ort der Angst, sondern ein Ort des Hoffens, der Umkehr, der Versöhnung. Ein Ort des filmischen Finales, herausgerissen aus dem Leben, dem Alltag – dem sonstigen Schauplatz der Handlung –, aber genau deswegen besonders gut für eine innige Zusammenkunft und die Klärung aller offenen Fragen geeignet.
Das Krankenhaus kann aber in der Fiktion auch am Anfang stehen, ein Ort der Selbstbefragung, der Umkehr oder der Heldenwerdung sein. Etwa wenn der Fotograf Romain in François Ozons Film "Die Zeit die bleibt" (2005) mit der niederschmetternden Diagnose einer Krebserkrankung konfrontiert wird, die gleichsam einen Wendepunkt darstellt: Wie soll die Zeit, die bleibt, genutzt werden?
Einen ähnlichen Moment der Selbstbefragung am Schauplatz Krankenhaus findet sich auch in der Literatur, nicht nur in fiktionalen Texten, sondern auch in der Autofiktion, der Mischform von autobiografischem und fiktivem Erzählen, wie wir sie zum Beispiel in Kathrin Schmidts "Du stirbst nicht" (2009), David Wagners "Leben" (2013) oder in Tabea Hertzogs "Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer" (2019) lesen können.
Das Krankenhaus ist hier der Ort, der dem Übertritt in eine andere Welt eine Rahmung gibt, die Krankheit selbst aber ist es, die die Welt auseinanderreißt – und damit einen Prozess der biografischen Aufarbeitung anstößt. Die Krankheit ist schließlich eine Krise, und "Krisen dieses Ausmaßes treffen immer die Substanz unserer Biographie, weil sie eine rekonstruierbare und bereits antizipierte Kontinuität unseres ‚Selbstplans‘ gefährden".
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Aber das Krankenhaus in der Fiktion kann noch etwas anderes, gänzlich konträr Stehendes. Es eignet sich nämlich in besonderer Weise für etwas, an das wir möglicherweise – einmal abgesehen von den besagten rührseligen Szenen am Krankenbett in jeder Vorabendunterhaltung – sogar als erstes denken: Gossip und Eskapismus.
Zunächst einmal aus einem ganz banalen Grund: Neben seiner Funktion für die Gesellschaft und als Ort des Scheidepunktes ist das Krankenhaus nämlich auch noch eines: ein Unternehmen, ein business. Und als solches lässt sich herrlich von außen darauf schauen, über Korruption und innere Machtkämpfe berichten, wie etwa in der US-amerikanischen Krankenhausserie "The Resident" (seit 2017), oder über interne Liebesreigen, Geheimnisse und dramatische Rettungsmanöver erzählen, wie in "Grey’s Anatomy" (seit 2005) und zahlreichen anderen Krankenhausserien.
Was dabei hilft, ist, dass das Krankenhaus freilich nicht irgendein Unternehmen ist, sondern eines, das ein Themenfeld beackert, das für uns sowieso schon überaus faszinierend ist. Denn was könnte spannender sein als Geheimnisse? Und der Körper liefert mit seinen unsichtbaren Vorgängen, seinem verästelten Inneren, wahrlich genug Stoff für Geheimnisse, die die Medizin wiederum aufzudecken vermag. Welche mysteriöse Krankheit führt zu diesem Ausschlag, dem plötzlich auch das Krankenhauspersonal anheimfällt? Wie lässt sich die Blutung stoppen, die das Leben des alleinerziehenden Familienvaters bedroht, dessen drei kleine, herzzerreißend niedliche Kinder mit ihren Teddys nebenan warten? Unsere mutigen Held*innen der Krankenhausserie werden es im Laufe der Folge sicherlich herausfinden und nebenbei noch mit einem attraktiven anderen Mitglied des Krankenhausstabs auf der Toilette, im Treppenhaus oder Bereitschaftsraum herumknutschen.
Die Geheimnisse des Körpers und die für uns Laien beinahe mythischen Methoden der Medizin, schon Verlorengeglaubte zu retten, sind auch der Grund dafür, warum Ärzt*innen, die nicht umsonst im Volksmund "Götter in Weiß" genannt werden, die idealen Held*innen der Fiktion sind: Wenn zum Beispiel ein schmucker Assistenzarzt im Angesicht der krampfenden Patientin mit Fachbegriffen und Befehlen um sich wirft, die – eilfertig vom Personal ausgeführt – natürlich zur heldenhaften Rettung der fast Toten beitragen, führt uns das nicht nur einmal mehr vor Augen, wie geheimnisvoll und folgenschwer doch die Vorgänge innerhalb unseres Körpers sind und befeuert unsere Faszination für all das, was wir nicht sehen. Es unterstreicht auch die Götterhaftigkeit unseres Helden, der eine wahre Heldentat vollbringt – nämlich eine, die nicht jede*r nachmachen könnte.
Diese Beobachtung bestätigt sich auch mit Blick auf historische Krankenhausfiktionen, wie wir sie in der "Charité" – der von der ARD produzierten Serie (2017–21) wie den gleichnamigen Bestsellern von Ulrike Schweikert (2018/19) – erleben können. Denn diese Fiktionen setzen genau in dem Moment der historischen Entwicklung ein, an dem das character building der "Götter in Weiß" erst zur richtigen Form aufläuft: Vor 1850 nämlich war das Krankenhaus – in der christlichen Tradition ursprünglich eher eine Verwahranstalt für Arme – kein Ort, an den man sich, hatte man eine Wahl, freiwillig begeben hätte.
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Auch die Perspektive der Angehörigen, derjenigen also, die von außen auf das Krankenhaus blicken, dennoch aber von seinem Inneren betroffen sind, sei es durch Besuche oder Erzählungen ihrer Geliebten, die dort behandelt werden, lässt sich in der Fiktion gut verarbeiten. Ein Besuch im Krankenhaus kann, so zumindest habe ich es empfunden, schließlich mindestens genauso eindrücklich und verstörend sein wie die eigene Patientenwerdung.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da gehörten Krankenhausbesuche zu meinem Alltag. Und immer, wenn ich dort meinen Vater an medizinische Apparaturen angeschlossen, mit merkwürdigen Bett- und Leidensgenossen beschenkt oder um mir unverständliches Vokabular reicher vorfand, war ich tief beeindruckt von der Unterschiedlichkeit der Leben, die wir führten. Und beschämt von meiner Möglichkeit, als Besucherin zwischen beiden Welten zu changieren, während er gezwungen war, in der seinen zu bleiben. Er, der sich an die Regeln der fremden Welt zu halten hatte, seinen Status als Kranker nicht ablegen konnte. Ich, die ich gehen und kommen konnte, beinahe wie ich wollte.
Und die ich immer erst, wenn ich die Klinik verließ, das Gefühl hatte, wieder aufatmen zu können. Verbunden mit der flauen Erkenntnis, dass der, der zurückbleibt und die, die gehen kann, getrennter nicht sein könnten. Das kann eine Bürde sein. Oder eine Befreiung.
In meinem zweiten Roman "hell/dunkel" (2019) – der mir dann schließlich auch die ehrenvolle Bezeichnung als "Krankenhaus-Autorin" einbrachte – muss die Mutter der ungleichen Geschwister Valerie und Robert wegen ihrer Krebserkrankung über einen längeren Zeitraum im Krankenhaus behandelt werden. Doch anstatt dass die 19-jährige Valerie sich von dieser Trennung verunsichern lässt, nimmt sie den Ausschluss der Mutter aus dem gemeinsamen, durch den Krebs ohnehin bedrückenden Leben, beinahe dankbar an. Für das Krankenhaus gilt in Valeries Gedanken das, was sie später, als die Mutter schließlich verlegt wird, fürs Hospiz zusammenfasst: "Aus dem Fenster sieht das Hospiz aus wie ein Schuhkarton, weit weg und so klar umrissen, wie mit Bleistift gemalt. Genauso leicht auch lässt es sich aus den Gedanken radieren."
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In gewisser Weise kann man kaum anders, als den Radiergummi anzusetzen, wenn man sich wieder im Reich der Gesunden befindet: Zu wenig lässt sich das, was man, ob nun als Angehöriger oder als Patientin, im Krankenhaus erlebt hat, in das tägliche Erleben integrieren. Es sei denn durch die Fiktion. Was wir schließlich machen können, ist, zum Beispiel einen Roman aufzuklappen. Und schon sind wir wieder da, in den langen weißen Gängen des Krankenhauses. Können mitleiden und mitfiebern oder uns in die lebensverändernden Konsequenzen einer Erkrankung hineindenken. Aber mit dem sicheren Gefühl des Papiers zwischen den Fingern.